Israel-Palästina Debatte in Deutschland: Der Elefant im Raum

Es ist Zeit, über Israel-Palästina mit radikaler humanistischer Vernunft zu sprechen. Ein Manifest aus den USA zur Zukunft Israels macht es vor.

Ein Mann hält eine rote Decke hoch gegen Rauch

Ein Palästinenser schützt sich gegen Rauchschwaden Foto: Raneen Sawafta/reuters

Etwas nicht wahrzunehmen, obwohl es in nächster Nähe geschieht, ist kein singulär israelisches Phänomen. Was die Psychologie einen Blind Spot nennt, markiert in diesem Fall allerdings eine ausgedehnte Konfliktgeografie. Über den Umstand, dass unter der Militärherrschaft im Westjordanland regelmäßig Minderjährige ins Gefängnis gesteckt werden, sagt eine jüdische Anwältin: „Das geschieht in nur 30 Fahrminuten Entfernung von unseren friedlichen Schlafzimmern, und doch wissen die meisten Israelis nichts davon.“

Nichtsehen und Nichtwissen wurden eingeübt über mehr als ein halbes Jahrhundert. Das verdrängte, beschwiegene Unrecht der Besatzung sei nun der sprichwörtliche „Elephant in the Room“. So lautet der Titel eines Manifests, das – aus den USA kommend – im Ringen um Israels Zukunft einen radikaldemokratischen, egalitären Ton setzt. Bisher haben sich 1.500 überwiegend jüdische WissenschafterInnen der Erklärung angeschlossen. Ein Kernsatz lautet: „Es kann keine Demokratie für Juden in Israel geben, solange Palästinenser unter einem Regime der Apartheid leben.“

Diesen Begriff, der in Deutschland oft einen Antisemitismusvorwurf nach sich zieht, haben viele Unterstützer des Manifests vorher nicht benutzt; sie reagieren nun auf eine veränderte Realität, warnen vor Annexion und ethnischen Säuberungen als dem ultimativen Ziel des justiziellen Staatsstreichs. Der Initiator der Erklärung, der Holocaust-Historiker Omer Bartov, erinnert im Gespräch daran, wie im Europa des 20. Jahrhunderts die zunächst randständigen faschistischen Bewegungen in Regierungen gelangt sind: „Dies ist der gegenwärtige Moment in Israel. Es ist beängstigend.“

Seiner Sichtweise haben sich weitere prominente Shoah-Historiker und Historikerinnen angeschlossen, sogar Saul Friedländer hat unterzeichnet. Allmählich kommen auch Deutsche hinzu, jüdisch wie nichtjüdisch, etwa Sybille Steinbacher, Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts. Wer die bisherigen Gräben der Debatte kennt, kann den Eindruck gewinnen, dass hier gerade etwas Neues geschieht. In den USA konstatiert die Washington Post eine Verschiebung des Diskurses; ob das auch für Deutschland gilt, wird sich zeigen.

Scholz und die deutsch-israelische Konsensdiplomatie

Zu den konkreten Forderungen des Manifestes zählt, die Straflosigkeit Israels auf internationaler Ebene zu beenden – die deutsche Politik steht bisher für das genaue Gegenteil. Jüngst blockierte Kanzler Scholz sogar ein Gutachten des Auswärtigen Amts, das auf Ersuchen des Internationalen Gerichtshofs die Besatzung völkerrechtlich bewertete. Letztere illegal zu nennen, darf nicht offizielle deutsche Position werden. Nur im geschlossenen Röhrensystem deutsch-israelischer Konsensdiplomatie kann es als Lehre aus der Geschichte gelten, Unrecht nicht beim Namen zu nennen.

Und der Boden wird abschüssiger, auf dem die deutsche Politik die bisherige Balance zu halten versucht. Dem deutschen Botschafter in Tel Aviv wurde Förderung von Terrorismus vorgeworfen, weil er an einem Gedenkakt teilnahm, wo jüdische und palästinensische Familien gemeinsam um getötete Angehörige trauerten. Rechtsradikale lärmten vor der Botschaft: „Deutschland, du hast deine Lektion nicht gelernt.“ Der Vorfall illustriert, wie eng der politische Spielraum in Israel geworden ist und wie alltäglich der Missbrauch von Holocaust-Erinnerung.

Wenig später wurde der Hinterbliebenen-Gruppe Parents Circle, die für Versöhnung wirbt, der Zutritt zu israelischen Schulen verboten: Opfer der Streitkräfte zu betrauern entehre die Armee, beschädige den Staat. So wird Trauer zu Terror, und mittrauernde Juden sind nationale Verräter.

Die Besatzung töte die Demokratie, das sagte der Religionsphilosoph Jeschajahu Leibowitz schon 1992, nach 25 Jahren Okkupation. Es könne nicht demokratisch sein, Millionen Menschen bürgerliche und politische Rechte vorzuenthalten. „Diese Herrschaft wirkt auch nach innen, sie korrumpiert.“ Hochbetagt rief er Soldaten zur Befehlsverweigerung auf.

Wo bleiben die Stimmen radikaler humanistischer Vernunft?

Von der Tragik des Geschehens in Israel-Palästina wirken die hiesigen Debatten wie abgekoppelt. Sie kreisen nur ums Eigene, um deutsche Befindlichkeiten, Ängste und Heucheleien. Tausende von Zeilen über einen linken Fake-Juden, fast so schlimm wie Eichmann, aber auf Walser lassen wir nichts kommen. Die Realität in Israel-Palästina ist für dieses Heimkino nur Tapete; das ist nicht neu, und doch fällt der Mangel an Stimmen radikaler humanistischer Vernunft gerade besonders auf.

Wer vor einiger Zeit noch dachte, es mache unanfechtbar, stramm zur israelischen Regierung zu stehen, müht sich nun, vom falschen Pferd herunterzukommen. Es gibt für Deutsche – präziser: für nichtjüdische Herkunftsdeutsche – eben keine moralische Sicherheit von der Stange, kein Entlastungskostüm, das nur überzuziehen wäre. Selbst eine Konversion zum Judentum ist nicht der Erwerb einer Verfolgtenbiografie, obwohl manche das wohl ersehnen.

Es hilft auch nicht, sich hinter Aussagen von Juden/Jüdinnen zu verstecken. Zu glauben, nur Juden dürften Israels Politik kritisieren, wäre seltsam identitär. Und um zu erahnen, wie die Ku-Klux-Klan-Gestalten in Netanjahus Koalition die humanistischen Traditionen des Judentums beleidigen, muss ich nicht Jüdin sein. So wie es der Aufklärung dienen kann, gegen reaktionären Islamismus progressive muslimische Stimmen zu zitieren, lassen sich gegen den Ethnonationalismus jüdische Antipoden anführen.

Doch enthebt einen dies eben nicht davon, eine eigene Position zu beziehen. Die sollte, vom Deutschen aus, stets die Geschichte im Blick haben, auch den heutigen Antisemitismus. Gleichgültigkeit und Wegsehen lassen sich indes nicht mit dem Holocaust begründen.

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