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Politologe über Israel heute„Die Nakba ist lebendige Gegenwart“

75 Jahre nach Gründung Israels befinde sich das Gebiet unter jüdischer Vorherrschaft, sagt Professor Bashir. Es brauche Dekolonisierung und Versöhnung.

Dieser Schlüssel, Symbol der Vertreibung, hängt heute im Aida-Flüchtlingslager im Westjordanland Foto: Majdi Fathi/NurPhoto/imago
Judith Poppe
Interview von Judith Poppe

wochentaz: Herr Bashir, kommende Woche jährt sich die Gründung Israels. Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen nennen die Ereignisse rund um die Staatsgründung Nakba, auf Deutsch Katastrophe. Laut Forschungen wurden im Zuge der Staatsgründung 700.000 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen vertrieben oder flohen, rund die Hälfte der damaligen Bevölkerung dort. Zwischen 400 und 600 arabische Dörfer wurden zerstört. Wie fühlen Sie sich als palästinensisch-israelischer Intellektueller in diesen Tagen?

Bashir Bashir: Unglücklicherweise brauchen wir den Jahrestag nicht, um an die Nakba erinnert zu werden. Die Nakba ist Erinnerung, aber auch lebendige Gegenwart. Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen werden täglich mit ihr konfrontiert, je nachdem wo sie leben. Der israelische Staat übt Gewalt aus: in Form der Besatzung, der Diskriminierung innerhalb Israels und auch gegenüber Millionen Palästinenser*innen, die sich nicht in ihrem Heimatland befinden und gehindert werden, ihr Recht auf Rückkehr auszuüben oder ihre Eltern zu sehen.

Der Jahrestag kommt zu einer Zeit, da Israel eine extrem rechte Regierung hat. Was bedeutet das für Pa­lä­sti­nen­ser*in­nen?

Es gibt Kontinuitäten zu den vorherigen Regierungen, auch zu den stärker linksgerichteten. Alle hatten gemeinsam, dass sie die Besatzung und die Ausweitung der Siedlungen fortsetzten. Aber die neue Regierung zeigt, dass die israelische Gesellschaft eine tiefgreifende Veränderung durchgemacht hat: Die nationalreligiösen Zionisten werden immer einflussreicher, während die ultraorthodoxen Parteien, die sich in der Vergangenheit von palästinensischen Themen ferngehalten haben, zionistischer werden und extremere Positionen beziehen. Dazu kommt der Kinderreichtum dieser beiden Gruppen im Gegensatz zu den säkularen Liberalen. Ich denke, die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen werden zu den ersten Opfern dieser Regierung gehören.

Sie schreiben in Ihrem Buch, es brauche eine „neue politische und moralische Grammatik“, um die Situation zwischen Mittelmeer und Jordan zu beschreiben.

Meines Erachtens hat ein großer Teil der dominanten bisherigen Begriffe an Erklärungskraft verloren. Beispielsweise waren die Begriffe „links“ und „rechts“ in der Vergangenheit vielleicht brauchbar, um die israelische Politik zu verstehen. Heute bewegen sich die meisten Parteien im Mitte-rechts-Spektrum und unterscheiden sich in ihrer Politik gegenüber den Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen kaum.

privat
Im Interview: Bashir Bashir

ist palästinen­sischer Israeli, tätig als außerordent­licher Professor für politische Theorie an der Open University of Israel. Er ist zudem leitender Forschungs­beauftragter am Van Leer Jerusalem Institute. Er hat die Bände „The Holocaust and the Nakba“ sowie „The Arab and Jewish Questions“ mit heraus­gegeben.

Ein weiterer Begriff, der in Ihren Augen ebenfalls nicht mehr brauchbar ist, ist „Friedensprozess“.

Der Friedensdiskurs geht neben vielen anderen Annahmen davon aus, dass wir zwei gleichberechtigte Parteien haben, die sich in einem Verhandlungsprozess befinden und versuchen, eine Übereinkunft zu treffen. Wir brauchen neue Begriffe und Vokabeln, um die Realitäten in diesem Land besser verstehen und analysieren zu können.

Sie sprechen von Siedlerkolonialismus.

Mit diesem Begriff können wir die Situation angemessener analysieren – also die Machtdynamik, die nicht zwischen zwei gleichberechtigten, symmetrischen Parteien stattfindet, sondern zwischen einem Besetzten/Unterdrückten und einem Besatzer/Unterdrücker. Der Begriff Siedlerkolonialismus reicht allerdings nicht aus, um alle elenden Entwicklungen und Dimensionen in diesem Land zu beschreiben.

Der Begriff Siedlerkolonialismus, so kann man argumentieren, ignoriert den Antisemitismus in den europäischen Ländern und die Schoah. Viele derjenigen, die hierher gekommen sind, würden ja nicht von sich sagen, dass sie Sied­le­r*in­nen sind, sondern dass sie aufgrund von antisemitischer Verfolgung eine Heimstätte für Jü­d*in­nen für notwendig erachten.

Die jüdische Frage ist ursprünglich keine palästinensische Frage, keine östliche oder muslimische. Die jüdischen Sied­ler*in­nen, die nach Palästina eingewandert sind, waren europäische Bür­ge­r*in­nen und Opfer des europäischen Rassismus. Das christliche Europa ist aufgrund seines Antisemitismus und verschiedener ausgrenzender Formen des Ethnonationalismus daran gescheitert, diese Bür­ge­r*in­nen zu integrieren und zu schützen.

Was heißt das für Sie?

Die Frage ist, ob die Antwort auf europäischen Antisemitismus Zionismus sein sollte und ob sie auf Kosten der Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen gehen darf. Es gab im 19. und 20. Jahrhundert sehr unterschiedliche Antworten auf den Antisemitismus. Eine der Antworten war der Zionismus, aber eben nur eine von ihnen, übrigens eine marginale zu der Zeit, zumindest bis in die 1930er Jahre. Es gab so viele unterschiedliche jüdische Strömungen mit unterschiedlichen Antworten, es gab nichtzionistische messianisch-religiöse Juden, liberale Kosmopoliten, Marxisten, Sozialisten. Der sozialistische Bund etwa (der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Osteuropa; d. Red.) war nicht zionistisch und hatte eine ganz andere Antwort auf den Antisemitismus als die Zionist*innen.

Sie haben gemeinsam mit dem israelischen Holocaustforscher Amos Goldberg den Band „Der Holocaust und die Nakba“ herausgegeben. Darin machen Sie das Konzept von „empathischer Verunsicherung“ stark, in Ihren Worten eine Form der Anerkennung des anderen, die weder Aneignung noch Selbstverleugnung bedeutet. Wenn man über Israel als Siedlerkolonialismus spricht, ist das nicht das Gegenteil von empathischer Bezugnahme?

Ich sage ja, dass der Begriff Siedlerkolonialismus nicht ausreicht, um die Situation zu verstehen. Um die Komplexität zu verstehen, muss man zum Beispiel anerkennen, dass sich in diesem Land erfolgreich eine jüdisch-israelische nationale Identität entwickelt hat. Dann fängt man bereits an, sich auf eine andere Spielwiese zu begeben, sowohl historisch gesehen als auch in Bezug auf die Frage, wie man sich den Weg nach vorne vorstellt.

Wie könnte der aussehen?

Egalitärer Binationalismus, also ein Binationalismus, der auf Gleichheit, Parität und auf gegenseitiger Anerkennung beruht – unter den Bedingungen der Dekolonisierung und der historischen Versöhnung. Der egalitäre Binationalismus könnte verschiedene Formen annehmen: eine Einstaats- oder Zweistaatenlösung oder eine Konföderation. Denn letztendlich gibt es in diesem Land Ara­be­r*in­nen und Jü­d*in­nen und das Land befindet sich in einem miserablen und ungerechtfertigten Zustand jüdischer Vorherrschaft, Dominanz und jüdischer Privilegien. Ich denke, die einzige vernünftige und nachhaltige Zukunft für dieses Land besteht darin, diese Vorherrschaft und diese Privilegien abzubauen und sich in Richtung einer arabisch-jüdischen Partnerschaft und eines gemeinsamen Lebens auf der Grundlage von Gleichheit, von Freiheit und von sozialer Gerechtigkeit zu bewegen.

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20 Kommentare

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  • Auch hier steht Dekolonisierung für Abschaffung von Israel.



    Eine Ein-Staat-Lösung mit palästinensischer Mehrheit bedeutet Hamas oder Fatah an der Macht. Mit "Gleichheit, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit" würde dieser Staat nichts haben.

    • @h3h3y0:

      Wenn Israel keine Ein- Staaten-Lösung will, in der es mglw. auch mal eine arabische Mehrheit geben kann, muss es eben eine 2Staatenlsg wollen. Und Israel ist die einzige Partei, die das auch einseitig herbeiführen kann. Anders ist das Problem nicht aufzulösen. Die Logik lässt keine andere Lösung zu, außer Hauen und Stechen und hinterher noch höhere Mauern bauen und noch größere Waffenarsenale, denn Israel wird im Nahen Osten immer mit Arabern zusammen sein, nebeneinander oder miteinander u wenn sie mit den Arabern irgendwann in einem nachhaltigen Frieden leben will, muss sie den Palästinensern etwas anbieten, was diese auch annehmen können, keine Brosamen. Die Israelische Politik läuft aber schon seit längerem eindeutig daraus hinaus, die Palästinenser zu verdrängen. Diesen Kampf können sie nicht gewinnen. Ein Vertrag in dem man den Palästinensern einen eigenen Staat gibt befriedet den Konflikt mit größerer Wahrscheinlichkeit als die Fortsetzung der aktuellen Politik, die nur auf eine finale Katastrophe hinauslaufen kann. Wenn die Araber nach einer Teilung des Landes Israel immer noch nicht in Frieden lassen, wird alle Welt auf Israels Seite stehen. Das ist aber alles hypothetisch, denn die meisten israelischen Politiker erkennen das Problem nicht und sagen ausdrücklich, dass das ganze Land ihnen gehöre u sie es niemals aufgeben würden. Sie sind das Problem und wollen keinen gerechten Frieden. Dagegen haben die Palästinenser dann auch alles Recht Widerstand zu leisten.

  • Danke für dieses Interview. In finsteren Zeiten hört man oft nur die, die am lautesten brüllen.

    @BUDZYLEIN:der Rest des Interviews ist auch lesenswert.

    • @tomás zerolo:

      Wie wahr. Das Problem ist doch, dass wir alle möglichen Spekulationen darüber anstellen können, wie die Geschichte verlaufen wäre, hätten die arabischen Staaten den neugegründeten Staat Israel 1948 nicht mit Krieg überzogen, sondern sein Existenzrecht letztlich anerkannt hätten.



      Fest steht jedoch, dass der Karren aktuell tief im Dreck steckt, gegenseitige Schuldzuweisungen, wer hier einst wen vertrieben hat, sind da absolut fehl am Platz. Der Verweis auf 800.000 vertriebene Juden in Folge des ersten arabisch-israelischen Krieges mutet da geradezu wie ein Entlastungsversuch dafür an, dass die Shoa in Europa stattgefunden hat und von deutschem Boden ausging. Aber es ist und bleibt unseriös, die Folgen dieses inmitten Europas vollzogenen Zivilisationsbruchs - die dann zur Gründung des Staates Israel geführt haben - jetzt den Palästinensern, die selbst zu Opfern dieser Geschichte geworden sind, in die Schuhe schieben zu wollen. (Auch der in diesem Zusammenhang zuweilen gebrachte Verweis auf etwaige Nazi-Symphatien des Grossmufti von Jerusalem mutet da doch sehr bemüht an. Es wirkt fast so, als würde man den Ukrainern eine Verantwortung am deutschen Überfall auf die Sowjetunion anlasten wollen, nur weil einige von ihnen Nazi-Kollaborateure waren.)



      Nein, es ist nicht angebracht, die Nakba und deren Folgen für die Palästinenser zu relativieren und Opfer zu Tätern zu machen … und wenn, gilt das in diesem Konflikt für beide Seiten. Opfer und Täter zugleich.



      Der blinde (ideologische) Fleck des Zionismus (als Idee einer nationalen Heimstätte für die Juden) liegt einfach in der Nichtbefassung mit der palästinensischen Frage und das von Anfang an … bevor er von rechtsextremen jüdischen Siedlernationalisten und Teilen des ultraorthodoxen Spektrums auf deren Weise gekapert wurde. Ein Geburtsfehler sozusagen. Auch damit muss sich die liberale säkulare israelische Zivilgesellschaft auseinandersetzen.

    • @tomás zerolo:

      Ich habe alles gelesen, sonst hätte ich den letzten Satz meines Kommentars nicht geschrieben.

  • ca. 800'000 Juden wurden im Laufe des Krieges (1948/1949) aus den umliegenden arabischen Ländern und aus Nordafrika vertrieben. Aber das ist irgendwie kein Thema bei den Arabern bzw. bei den sogenannten Palästinensern.

  • "Das christliche Europa ist aufgrund seines Antisemitismus und verschiedener ausgrenzender Formen des Ethnonationalismus daran gescheitert, diese Bür­ge­r*in­nen zu integrieren und zu schützen."

    Da hätte ich mir gewünscht, dass Frau Poppe mal nachfragt, warum dann die Mizrachim nach Israel einwanderten.

    Ob denn in den muslimischen Ländern alles glatt lief mit Schutz und Integration von Juden.

    Angesichts der nicht ganz kleinen Zahl der Mizrachim in Israel scheint es nicht ganzn so zu sein.

    • @rero:

      Gab ja die Massenvertreibung der Juden aus der muslimischen Welt, der erste Pogrom in Europa fand auch im muslimischen Spanien statt, diese Idealisierung der muslimischen Welt in dieser Hinsicht ist historisch Unsinn.

      • @Machiavelli:

        Ich bitte um Beispiele. Die ersten antijüdischen Pogrome in Europa gab es meines Wissens 1099 im Rheinland im Zuge des ersten Kreuzzuges. Lange bevor die Kreuzfahrer Jerusalem überhaupt erreicht hatten, haben sie auf ihrem Weg eine Schneise des Mordens und der Verwüstung hinterlassen. In Jerusalem selbst sind 70.000 Einwohner dem Blutrausch der „Franken“ zum Opfer gefallen, Muslime, Juden und Christen gleichermaßen.



        Die Vertreibung der jüdischen Sefarden aus Portugal und Spanien erfolgte im Zuge der Reconquista 1492. Diese Juden fanden darauf Zuflucht etwa in Marokko und verschiedenen Gebieten des osmanischen Reiches, also in muslimischen Gesellschaften.



        Was beispielsweise die Jüdinnen und Juden in der Türkei betrifft, ergibt sich ein sehr gemischtes Bild. Jedoch kann generell keineswegs behauptet werden, Juden seien in islamischen Gesellschaften historisch einem größeren Verfolgungsdruck ausgesetzt gewesen als im christlichen Europa.



        de.m.wikipedia.org...C3%BCrkische_Juden



        Die Diskriminierung und Verfolgung von Juden in den arabischen Ländern hat einen unmittelbaren Zusammenhang mit den Ereignissen um die Staatsgründung Israels sowie dem Erwachen des arabischen Nationalismus ab dem 20. Jhdt. … den haben sich die Araber allerdings 1:1 von den Europäern „abgeguckt“, der Islam hingegen hat eine universalistische Ausrichtung. Und (europäischer) Nationalismus steht wiederum in engem Wirkungszusammenhang mit dem modernen völkischen Antisemitismus. Der Zionismus übrigens auch als Reaktion auf den Nationalismus und Antisemitismus der die europäischen Juden umgebenden Mehrheitsgesellschaften.



        Bis dahin existierte Eretz Israel vorwiegend als religiöses Konzept, was etwa die Ausrichtung des Thora-Schreins in den Synagogen auf den Jerusalemer Tempelberg zum Ausdruck bringt.

    • @rero:

      Wieso wird bei einem Staat der sich Rechtsstaat nennt als eine quasi Legitimation immer auf die anderen verwiesen. Israel nennt sich demokratischer Rechtsstaat damit muss er sich daran messen lassen. Da nützt das verweisen auf den unsäglichen Umgang mit Juden in arabischen Ländern leider nichts.

      • @Mike Müller:

        Herr Bashir argumentiert aber nicht mit dem Rechtsstaat.

        Herr Bashir argumentiert politikwissenschaft, die Europäer seien schuld und nun es gehe auf Kosten der Araber.

        Bei "jüdische Frage" kommt mir ja der kalte Kaffee hoch, aber da Herr Bashir diesen Begriff nun mal verwendet:

        Eine Frage, die er nicht mal wahrnimmt, wird er nicht lösen können.

    • @rero:

      „Ob denn in den muslimischen Ländern alles glatt lief mit Schutz und Integration von Juden.“



      Ob DAS denn wohl ein Argument sein kann, die Tatsache, dass der Zivilisationsbruch der Shoa von deutschem Boden ausging, zu relativieren oder islamischen Judenhass (dessen Existenz ja nicht bestritten wird) irgendwie damit gleichzusetzen?

      • @Abdurchdiemitte:

        Ich setzte gar nichts mit der Sho'a gleich.

        Ich spreche nicht mal von einem "islamischen" Judenhass in den arabischen und nordafrikanischen Ländern.

        Vielleicht lesen Sie sich meinen Kommentar noch mal durch?

        Herr Bashir meint:



        "Die Frage ist, ob die Antwort auf europäischen Antisemitismus Zionismus sein sollte und ob sie auf Kosten der Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen gehen darf."

        In der Realität ist aber eine nicht unbeträchtliche Anzahl orientalischer Juden nach Israel eingewandert.

        Das lässt er weg, weil er dann das klare Schema Palästinser=Araber=Opfer durchbrechen müsste.

        Gerade angesichts der aktuellen Entwicklungen in Israel, die manche Analytiker, wie beispielsweise Michael Wolffsohn, als Erstarken der Mizrachim interpretieren, wird es Herrn Bashir wenig weiterhelfen, wenn er so tut, als gäbe es die Mizrachim nicht.

        • @rero:

          Ob man die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Israel wie Wolffsohn als Erstarken der Mizrachim interpretiert oder als Erstarken einer gewissen Wagenburg-Mentalität innerhalb der israelischen Gesellschaft bzw. von einer Zunahme der gesellschaftlichen Verhärtung und Polarisierung infolge des wachsenden Einflusses rechter und autoritärer Tendenzen sieht - oder ob man sie ausschließlich als Folge der „äußeren“ Bedrohung betrachtet - bringt ja jeweils einen ganz anderen Zungenschlag in die Diskussion. Vielleicht können wir uns sogar darauf einigen, dass es eine Gemengelage unterschiedlicher Faktoren ist sowie eine Frage der Perspektive, die bei Bashir eben eine andere ist als bei Wolffsohn.



          Und eigentlich halte ich „Schuld“ in diesem Kontext für die falsche Kategorie, zumindest was die Palästinenser und Juden betrifft. Man müsste wohl eher von Vetantwortung bzw. Vetantwortungsübernahme sprechen. Und insofern liegt Bashir nicht ganz falsch, wenn er die Europäer ins Spiel bringt, die Briten in ihrer unglücklichen Rolle als Mandatsmacht in Palästina, die Deutschen als Verantwortliche für den Holocaust und den darauf folgenden jüdischen Massenexodus nach Palästina.



          Die Holocaust-Überlebenden jedenfalls sind genauso wenig „schuld“ wie die von der Irgun terrorisierten, ermordeten und vertriebenen (oder der arabischen Schreckenspropaganda folgenden) palästinensischen Bevölkerung.

          • @Abdurchdiemitte:

            Die Schulddiskussion wird bei dem Konflikt in Israel nicht weiterhelfen.

            Es könnte aber helfen, Aspekte des Problems nicht zu ignorieren.

            Herr Bashir liegt nicht falsch, wenn er die Europäer mit ins Spiel bringt.

            Herr Bashir liegt aber möglicherweise nicht richtig, wenn er das als einzigen Grund des Problems betrachtet.

  • Judith Poppe sagt zu Beginn des Interviews: "Laut Forschungen wurden im Zuge der Staatsgründung 700.000 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen vertrieben oder flohen, rund die Hälfte der damaligen Bevölkerung dort." Sie verschweigt, dass es vor der Staatsgründung bereits einen sog. Bürgerkrieg gegeben hatte, dass unmittelbar nach der Staatsgründung Ägypten, Jordanien, Irak und Syrien den Staat Israel angriffen und dass die Flucht der Araber (die damals noch nicht "Palästinenser" genannt wurden) aus Israel vor allem durch die Kampfhandlungen ausgelöst wurde. Der Krieg wird im gesamten Interview nicht ein Mal erwähnt.

    • @Budzylein:

      Wie auch immer, hier geht es um die Konfliktanalyse eines israelischen Wissenschaftlers mit palästinensischen Wurzeln … eine legitime Position innerhalb einer pluralen demokratischen Gesellschaft, eine von vielen. Das wird von manchen die derzeitige israelische Regierung unterstützenden Kräften jedoch in Frage gestellt und als antijüdisch (antizionistisch, antisemitisch) denunziert.

      • @Abdurchdiemitte:

        Nee, nicht "wie auch immer". Ständig liest man in deutschen Medien Artikel über die sog. Nakba, ohne dass der Angriff der arabischen Staaten auf Israel erwähnt wird, z. B. hier: taz.de/Erinnerungs...bb_message_4352961 . Dadurch entsteht der falsche Eindruck, die Gründung des Staates Israel habe die Araber zur Flucht gezwungen. Das delegitimiert die Staatsgründung.

        Und dass die arabische Seite damals die heute so oft beschworene 2-Staten-Lösung abgelehnt hat, wird ebenfalls gern verschwiegen. Auch im Interview steht dazu nichts. Wer an die Ereignisse des Jahres 1948 erinnern will, soll nicht so tun, als habe nur eine Seite gehandelt und sei an allem schuld.

        • @Budzylein:

          „Wer an die Ereignisse des Jahres 1948 erinnern will, soll nicht so tun, als habe nur eine Seite gehandelt und sei an allem Schuld.“



          Wo geschieht das denn? Und worin liegt die Deligitimierung Israels als Staat, wenn beispielsweise auf die Angriffe und den Terror der Irgun gegen palästinensische Dorfbewohner verwiesen wird? Alles nur kriegsbedingte Kollateralschäden? Weil diese Zivilisten zur 5. Kolonne der arabischen Angreifer hätten werden können? Das Thema Delegitimierung haben Sie ins Spiel gebracht, nicht Bashir, der ja selbst israelischer Staatsbürger ist.



          Nein, wenn die Trauer und der Schmerz der anderen nicht anerkannt, sondern sogar verleugnet, als nicht existent angesehen wird, ist kein Gespräch auf Augenhöhe möglich, und auch keine Verständigung und kein Frieden, für beide Seiten nicht.