Windkraft in Deutschland: Lahme Flügel
Windkraft aus komplett deutscher Produktion ist gar nicht möglich. Mit der Schließung des Nordex-Werks in Rostock gibt es nämlich kein Rotorblattwerk mehr.
A ndrea Müller hat aktuell viel Zeit. An mehreren Tagen im Monat radelt sie von ihrer Wohnung in der Rostocker Südstadt zu einem Haus mit Klinkerfassade in der Nähe des Hauptbahnhofs. Hinter der orangebraunen Haustür führt eine Holztreppe nach oben zum Projektbüro der Agentur für Struktur- und Personalentwicklung (AGS). Hier kann sich Müller um ihre Jobsuche kümmern. Doch den Großteil ihrer Zeit verbringt sie momentan mit Freizeitaktivitäten, sie fährt Touren mit ihrem metallicblauen Fahrrad und trifft sich mit Freund:innen.
Vor wenigen Monaten noch war Müllers Alltag weniger entspannt. Mit dem Auto musste sie durch die halbe Stadt fahren, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen: die Rotorblattfertigung von Nordex, einem der weltweit größten Windrad-Hersteller. In Früh-, Spät- und Nachtschichten stellten die Mitarbeiter:innen hier Windradflügel her, sie schleppten, schleiften, lackierten. Ein Rotorblatt besteht aus zwei miteinander verklebten Halbschalen, die mit verschiedenen Kunststoffen und Harzen belegt und anschließend zum Aushärten gebacken werden. Dafür klappt hydraulisch ein Deckel zu. „Das hat sich immer angehört wie ein U-Boot“, erinnert sich Müller.
Seit Juli allerdings klappen im Rostocker Nordex-Werk keine Deckel mehr zu. Das Unternehmen schloss seine Rotorblatt-Produktion in der Hansestadt, rund 600 Mitarbeiter:innen verloren ihre Jobs. Warum stampft ein Windrad-Hersteller mitten in der Energiekrise seine Flügelfertigung ein? Und das auch noch in Deutschland, wo Windkraft, so das erklärte Ziel der Bundesregierung, eigentlich massiv ausgebaut werden soll?
Empfohlener externer Inhalt
Zu denen, die ihren Job zum 30. Juni verloren haben, gehört auch Andrea Müller. Sie heißt eigentlich anders, doch weil sie derzeit auf Jobsuche ist, möchte sie ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. „Mein Leben lang habe ich Schichtdienst gearbeitet“, erzählt die 59-Jährige, die gut zwei Jahrzehnte lang bei Nordex war. Nun möchte sie eine Anstellung finden, in der sie nicht im Schichtdienst arbeiten muss.
Das Projekt Was bedeutet die Energiewende ganz konkret vor Ort? Für die Reportageserie klimaland reist die taz in Dörfer und Städte, in denen um die Energiezukunft gestritten und mit den Folgen der Klimakrise gerungen wird. Von Brunsbüttel in Schleswig-Holstein bis Igensdorf in Franken.
Die Orte Wir sprechen mit Menschen, die gegen den Solarpark im Nachbarort protestieren, genauso wie mit Obstbauern, die durch den Klimawandel den Betrieb aufgeben müssen. Und wir begleiten den Transport eines Rotorblatts auf der Autobahn. Es geht ums Ganze, im Kleinen. Alle Texte sind zu finden unter taz.de/klimaland.
„Richtig zufrieden bin ich nicht“, sagt Müller. Weil Nordex sich mit dem Betriebsrat, der IG Metall und der Arbeitsagentur auf eine sozialverträgliche Lösung für die Abwicklung des Standorts einigen konnte, bekommt sie zwar derzeit noch einen Großteil ihres Nordex-Gehaltes. Auch über die viele Freizeit freut Müller sich. Doch wie es für sie beruflich weitergeht, ist noch völlig unklar „Irgendwann fängst du an zu grübeln“, sagt sie. „Nur rumsitzen – das ist nicht so mein Ding.“
Michael Prillwitz steuert seinen Wagen von seinem Wohnort, einer Siedlung aus Mehrgeschossern in einem grünen Rostocker Außenbezirk, in Richtung Norden. Der 63-Jährige engagierte sich jahrzehntelang im Betriebsrat des Nordex-Rotorblattwerks, zuletzt war er stellvertretender Vorsitzender des Gremiums. Er hat sich zu einem Spaziergang am Werkszaun bereit erklärt. Also geht es über breite Straßen, gesäumt von Bäumen und Wiesen, ins Rostocker Güterverkehrszentrum, kurz GVZ, ein Gewerbegebiet in unmittelbarer Nähe des Hafens.
Der Parkplatz vor den riesigen grauen Wellblechhallen des Nordex-Werkes ist beinahe verwaist, nur etwa 20 Autos stehen dort, dazu ein halbes Dutzend angeketteter Fahrräder. Die Fenster des Pförtnercontainers versperren weiße Rollläden und hinter dem geschlossenen Werkstor sind die beiden Schlagbäume heruntergeklappt. Im hinteren Teil des Geländes lagern dutzende fertige Windradflügel, weiß leuchten sie in der Sonne. Im Werk arbeiten nur noch wenige kleinere Abteilungen.
Als einige Mitarbeiter auf den Parkplatz fahren, spricht Prillwitz sie an. „Ist noch viel los?“, fragt er. Es ist eher Teil des Smalltalks angesichts des still daliegenden Werksgeländes. „Nein“, sagen die Mitarbeiter. Prillwitz wirkt nicht überrascht.
Die Energiewende gilt eigentlich als Jobmotor. Je mehr Energie aus erneuerbaren Quellen wie Wasser, Wind oder Sonne gewonnen wird, desto mehr Anlagen zur Energieproduktion aus diesen Quellen braucht es. Mehr Anlagen, das heißt: mehr Jobs in der Entwicklung, Fertigung, Wartung.
Zukunftsbranchen von gestern
Einst war die Solarenergie in Deutschland das Vorzeigebeispiel dafür. Doch im vergangenen Jahr arbeiteten in der Branche nur noch etwa 58.500 Menschen. Das sind fast 100.000 weniger als noch vor zehn Jahren. Wegen der zunehmenden Konkurrenz auf dem Weltmarkt hatten viele Solarindustrie-Unternehmen ihre Produktion ins günstigere Ausland verlagert. 2018 musste auch der einstige Branchenprimus, der Bonner Hersteller Solarworld, endgültig Insolvenz anmelden.
Auch die Windindustrie galt in Deutschland als zukunftsträchtige Branche. Dass der dänische Hersteller Vestas sich Anfang des Jahrtausends im brandenburgischen Lauchhammer ansiedelte, war ein großer Erfolg: Eine Windradflügel-Fertigung mitten in der Braunkohle-Region Lausitz. Ein besseres Symbol für die geplante deutsche Energiewende hätte es kaum geben können. Doch Ende des vergangenen Jahres schloss Vestas seine Flügelfertigung. Damit war das Rostocker Nordex-Werk die letzte verbliebene Rotorblatt-Fabrik in der Bundesrepublik.
Ende Februar kündigte der Konzern dann die Schließung des Werkes an. Es sei „nicht wettbewerbsfähig“, teilte Nordex mit. „Im gesamten Unternehmensverbund ist dieses Werk wirtschaftlich nicht tragfähig gewesen“, sagt Nordex-Sprecher Felix Losada auf taz-Anfrage.
Konventionell 51,5 Prozent des ins deutsche Stromnetz eingespeisten Stroms kam im ersten Halbjahr 2022 von konventionellen Energieträgern – im ersten Halbjahr 2021 waren es noch 56,2 Prozent gewesen.
Kohle Allerdings stieg der Anteil aus Kohlekraftwerken: von 27,1 Prozent im ersten Halbjahr 2021 auf 31,4 Prozent im ersten Halbjahr 2022.
Erneuerbar Der Anteil des aus erneuerbaren Quellen erzeugten Stroms stieg von 43,8 auf 48,5 Prozent. Davon lieferte die Windkraft 25,7 Prozent – im Halbjahr zuvor waren es 22,1 Prozent gewesen.
Seit 2016 ist der spanische Mischkonzern Acciona, der auch im Energiesektor tätig ist, Hauptaktionär des Unternehmens. Windradflügel werden unter anderem in Spanien, Indien und Brasilien gefertigt, insgesamt beschäftigte Nordex im vergangenen Jahr weltweit knapp 8.600 Mitarbeiter:innen. „Alle anderen Hersteller haben in den vergangenen Jahren ihre Fertigungen in andere Länder verlagert“, erklärt Losada. Da müsse man angesichts des Wettbewerbs auf dem Markt mithalten. Der andere Rostocker Nordex-Standort mit über 1.000 Arbeitsplätzen, an dem das Unternehmen unter anderem Maschinenhäuser für Windräder fertigt, sei nicht vom Stellenabbau betroffen.
Künftig werden die tonnenschweren Rotorblätter tausende Kilometer zurücklegen müssen. Denn der Hauptabsatzmarkt von Nordex liegt derzeit in Europa. Die Windradflügel mussten bislang von Rostock aus also eher kurze Strecken per Schiff und Sattelschlepper transportiert werden. Nun werden die Lieferketten länger – und damit umweltschädlicher. Ökologisch fragwürdig ist die Standortverlagerung also allemal. Ob sie sich für den Konzern betriebswirtschaftlich lohnt, wird sich zeigen. Immerhin sind auch die Logistikkosten drastisch angestiegen.
Unternehmen, die Deutschland den Rücken kehren, begründen das häufig mit dem Argument, dass die Kosten einfach zu hoch seien. Im Falle des Rostocker Nordex-Werks kommt noch ein weiteres Argument hinzu: Die dort hergestellten Rotorblätter sind maximal 74,5 Meter lang. Doch mittlerweile werden vor allem längere Flügel nachgefragt, da sie mehr Leistung erzeugen können.
Deshalb hatte der Betriebsrat im Sommer des vergangenen Jahres die Nordex-Geschäftsführung aufgefordert, dem Werk Formen für 81 Meter lange Rotorblätter zur Verfügung zu stellen. „Die gesamte Belegschaft des Blattwerkes hofft und wäre erleichtert, wenn es zu einer schnellen positiven Entscheidung kommen würde, die 81iger Rotorblätter bei uns am Standort zu produzieren“, heißt es in dem Brief, der der taz vorliegt.
Neue Formen bekamen die Mitarbeiter:innen nicht – aber die Zusage, das Unternehmen habe genügend Aufträge, um 2022 durchproduzieren zu können. Das hat die taz von ehemaligen Nordex-Angestellten erfahren. Noch im Januar habe es eine Mitarbeiterversammlung gegeben, auf der die Angestellten beruhigt worden seien. Wenige Wochen später stand jedoch das Aus für den Standort fest.
„Die meisten Leute haben das aus der Presse erfahren“, sagt ein Ex-Mitarbeiter. Er sitzt an einer grauen Tischreihe im Projektbüro der AGS. Neben ihm haben Andrea Müller und eine weitere ehemalige Nordex-Kollegin Platz genommen. Die drei haben sich bereit erklärt, anonym mit der taz über die Schließung der Rotorblattfertigung zu sprechen.
„Das war erst Mal ein Schock“, sagt Müllers Ex-Kollegin. Von der Schließung habe sie aus der Zeitung erfahren. Die Stimmung in der Belegschaft sei danach sehr bedrückend gewesen. Die junge Frau erzählt von einer kurzfristig abgesagten Betriebsversammlung und vom schleppenden Informationsfluss. „Man hat nie richtig Klarheit gehabt, was überhaupt Phase ist.“
Was die Nordex-Mitarbeiter:innen im Januar, als die Informationen über die drohende Schließung durchsickerten, noch nicht wissen konnten: Sie würden im Juli nicht in die Arbeitslosigkeit rutschen. Immerhin. Denn Betriebsrat, IG Metall, die Bundesagentur für Arbeit und Nordex einigten sich auf die Gründung einer Transfergesellschaft für die ehemaligen Mitarbeiter:innen des Unternehmens.
Bis zu einem Jahr, mindestens aber fünf Monate – der Zeitraum richtet sich nach der Länge der Betriebszugehörigkeit – sind sie bei der Transfergesellschaft angestellt, wenn sie wollen. Wer ihr beitritt, erhält zusätzlich zur Abfindung Transferkurzarbeitergeld vom Staat, Nordex stockt die Summe auf 90 Prozent des vorherigen Nettolohns auf.
In der Transfergesellschaft, die von der Personalentwicklungsfirma AGS aufgesetzt wurde, erstellen Mitarbeiter:innen den Arbeitsuchenden personalisierte Listen mit Jobangeboten, sie durchstöbern Stellenportale, vermitteln Weiterqualifizierungen oder unterstützen bei Anschreiben. „Ich kann herkommen und Bewerbungen schreiben“, sagt Andrea Müller im AGS-Büro. Die Räumlichkeiten haben an jedem Werktag geöffnet, es gibt Ansprechpartner:innen vor Ort und auf den Tischen liegen Laptops aus. Ein großer Vorteil für Müller – denn zu Hause hat sie keinen Computer.
Alle ehemaligen Nordex-Mitarbeiter:innen, mit denen die taz gesprochen hat, kritisieren den Konzern für die Schließung des Rostocker Rotorenblattwerks. Und für die in ihren Augen dürftige Kommunikation. Dennoch sagen alle, sie hätten gerne für Nordex gearbeitet. „Der Beruf war interessant, denn wir haben uns immer weiterentwickelt“, erklärt Müller. „Das hat ja auch Spaß gemacht, neue Flügel, neue Arbeit, neue Formen.“ Hinter dem Eingangstor des Werks hatten die Mitarbeiter:innen sich mit ihren Unterschriften auf einem Windradflügel verewigt.
„Man hat zu Nordex gestanden“, sagt auch Ex-Betriebsrat Michael Prillwitz, „auch wenn nicht alles Gold war, was glänzt, und gewisse Mängel da waren.“ Es sind fast schon versöhnliche Worte von einem, den man wohl getrost als gewerkschaftlichen Haudegen bezeichnen kann. Googelt man Prillwitz’ Namen, erfährt man, dass Nordex ihn Anfang der 2000er Jahre loszuwerden versuchte. Angeblich, weil er – damals schon Betriebsrat und IG-Metall-Mitglied – „die gewerkschaftsfeindliche Haltung der Geschäftsleitung“ des Konzerns kritisiert hatte, wie es in einem Artikel heißt.
Doch Schuld an der Schließung des Rotorblattwerks ist in Prillwitz’ Augen nicht nur Nordex – sondern auch die Politik. Sie habe sich nicht genug für die Windkraft eingesetzt, findet Prillwitz. Er kritisiert zudem, dass Nordex für eine Kreditbürgschaft in Höhe von 350 Millionen Euro, die die mecklenburg-vorpommersche Landesregierung dem wegen der Coronakrise taumelnden Konzern gemeinsam mit der Hansestadt Hamburg und dem Bund gewährte, keinerlei Standortgarantien abgeben musste.
„Was man der Politik vorwerfen muss: Es fehlte jegliche Unterstützung“, sagt er auch im Hinblick auf die langwierigen Planungs- und Genehmigungsverfahren für Windparks. Unternehmen, die einen Windpark errichten wollen, müssen die entsprechende Fläche zunächst in einem Bieterverfahren erwerben. Erst im Anschluss können die Genehmigungen für die Windräder eingeholt werden. Das dauert in der Regel mehrere Jahre.
„Die Politiker wachen immer erst auf, wenn etwas im Argen ist“, sagt Andrea Müller. Doch dann sei es oft zu spät. Wie im Falle der Nordex-Schließung. „Die MV-Werften sind ja gerade vom Staat gerettet worden“, wirft ihr Ex-Kollege ein. Dass die Bundeswehr die Werften übernimmt, findet er gut. „Aber warum schafft man das bei uns nicht?“, fragt er. „Warum schafft man es nicht, eine Firma zu retten, damit dort 600 Arbeitsplätze bestehen bleiben?“.
Verlockende Lage am Meer
Die Geschichte des Industriestandorts Rostock ist eine wechselvolle. Nach der Wende wurden die Werften und Unternehmen privatisiert, viele Stellen wurden abgebaut. Doch es siedelten sich auch große Firmen in Rostock an, die Arbeitsplätze etwa im Schiffsbau oder in der Hafenkran-Produktion schufen. Die Lage am Meer lockte Tourist:innen und die Marine gleichermaßen, auch der Hafen und die Universität sind gewichtige Standortfaktoren.
Ab Ende der 1990er Jahre baute Nordex seine Strukturen in der Hansestadt Stück für Stück aus. Als Anfang der 2000er Jahre das Rotorenblattwerk gebaut wurde, beschäftigte das Unternehmen in Rostock bereits über 300 Mitarbeiter:innen. Mit der industriellen Flügelfertigung würden weitere Arbeitsplätze entstehen, lobte der damalige Rostocker Oberbürgermeister Arno Pöker (SPD) anlässlich der Grundsteinlegung im Mai 2001. „Ich werte dies als Beweis dafür, dass wir mit unseren Bemühungen um den Wirtschaftsstandort Rostock auf dem richtigen Weg sind.“
Auf dem richtigen Weg sieht Christian Weiß, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Rostock Business, die Hansestadt auch heute noch. Seit 20 Jahren wachse die Stadt, während die Arbeitslosigkeit sinke, sagt Weiß am Rande des Baltic Sea Business Day, einem Unternehmertag in der Rostocker Stadthalle, zur taz. „Prinzipiell ist die Entwicklung der Hansestadt Rostock eine gute.“ Im Schlepptau hat Weiß neben zwei Mitarbeiter:innen spontan auch den Rostocker IHK-Präsidenten Klaus-Jürgen Strupp. Für das Gespräch nehmen alle an einem tresenhohen Holztisch auf der Galerie Platz, aus dem geräumigen Foyer unten dringt das Stimmengewirr der netzwerkenden Unternehmer:innen nach oben.
Die aktuelle Zeit sei sehr herausfordernd, finden Weiß und Strupp, doch gleichzeitig biete sie viele Chancen für Rostock. Eine davon, da sind sich die Männer einig, ist grüner Wasserstoff. Für Rostock könnte er das neue große Ding im Bereich erneuerbare Energien werden. Denn der Hafen der Hansestadt soll bis 2026 zum Energiehafen umgebaut werden, an dem grüner Wasserstoff produziert und importiert werden kann. „Wir können uns als Standort für grüne Energie und nachhaltige Wertschöpfung entwickeln“, hofft Weiß.
Dass mit Nordex ein Unternehmen aus dem grünen Energiesektor hunderte Stellen in Rostock abgebaut hat, scheint seinen Optimismus nicht zu trüben. Für die Betroffenen tue es ihm natürlich leid, erklärt der Chef der Wirtschaftsförderung. „Doch wir haben eine extreme Nachfrage nach Fachkräften, sodass man davon ausgehen kann, dass man in einen lokalen Arbeitsmarkt wieder integriert werden kann.“ Das sei nicht immer so gewesen.
Auch hinter der Klinkerfassade im AGS-Büro zweifelt niemand daran, dass die ehemaligen Nordex-Mitarbeiter:innen wieder Arbeit finden. Weder sie selbst noch der ebenfalls anwesende Projektleiter der Transfergesellschaft – und noch nicht einmal der Geschäftsführer der IG Metall Rostock-Schwerin, der zwei Stühle weiter sitzt. Von 392 Menschen, die nach dem Aus der Rotorblattfertigung in die Transfergesellschaft wechselten, wurden 120 inzwischen weitervermittelt, etwa in neue Jobs oder in Ausbildungen.
Die Frage, die sich die drei Ex-Kolleg:innen im Raum stellen, ist allerdings: Wie viel Geld werden sie künftig verdienen? Bei Nordex konnte ein:e Produktionsmitarbeiter:in, obwohl das Unternehmen nicht nach Tarif zahlte, mit Zuschlägen auf gut 2.000 Euro netto im Monat kommen. Es ist fraglich, ob die ehemaligen Nordex-Angestellten damit auch in Zukunft rechnen können. Denn in Mecklenburg-Vorpommern sind die Brutto-Durchschnittsgehälter deutschlandweit am niedrigsten.
„Das Geld muss stimmen“, sagt Andrea Müller. Festgelegt auf eine Branche hat sie sich noch nicht, gerne würde sie einen Beruf ergreifen, in dem sie mehr Kontakt zu anderen Menschen hat. Und: bloß kein Schichtsystem mehr. Sie habe dadurch viel Zeit mit ihren Kindern verpasst, als diese noch jung waren. „Das hängt alles noch ein bisschen nach bei mir.“
Derzeit schreibt Müller mehrere Bewerbungen im Monat und liebäugelt mit einem ehrenamtlichen Engagement, etwa bei der Tafel. Außerdem überlegt sie, ein kurzes Praktikum zu machen, um Einblicke in andere Branchen zu erlangen. Noch hat Müller einige Monate Zeit, bis sie sich entschieden haben muss, was sie in ihren letzten Berufsjahren tun will.
Unternehmertag, gegen 14 Uhr. Das Stadthallen-Foyer hat sich geleert, die meisten Gäste haben im Saal Platz genommen, um der Rede von Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) zu lauschen. Sie ist Schirmherrin des Unternehmertags, der die Wirtschaft und Unternehmer:innen der Ostsee-Anrainerstaaten näher zusammenbringen soll.
Auf der Bühne spricht die Sozialdemokratin auch vom Wasserstoffhafen, der in Rostock entstehen soll, und dessen Bedeutung für den Weg aus der Energiekrise. „Wir setzen darauf, dass wir ein Teil der Lösung sind“, sagt Schwesig vor königsblauen Vorhängen, „aber auch ein Teil der Zukunft mit erneuerbaren Energien.“
Die Windradflügel für diese Zukunft, so viel steht fest, werden nicht mehr aus Rostock kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau