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Neues Buch von Jürgen HabermasDiskurs oder Barbarei

Jürgen Habermas skizziert die Gefahr, die digitale Medien für Demokratien bedeuten. Die These ist nicht neu, die begriffliche Schärfe faszinierend.

Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas wurde 1962 bekannt mit dem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“

Man kann dieses kleine 100-Seiten-Büchlein mühelos überflüssig finden. Der Anlass ist so formal wie es runde Daten immer sind. Vor 60 Jahren erschien Jürgen Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. In dieser wirkmächtigen historischen Studie skizzierte der linke Jungakademiker 1962 den Aufstieg der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihre Bedrohungen durch Medienkonzerne und Manipulationen.

Damals entfaltete Habermas erstmals die Idee, dass die Debatte, in der „der zwanglose Zwang des besseren Argumentes“ zählt, keine idealisierte Intellektuellenidee ist, sondern die Herzkammer der Demokratie.

Ohne Raum jenseits von Macht, kapitalistischer Ökonomie und Staat, ohne herrschaftsfreien Diskurs ist eine rationale Selbstverständigung der Gesellschaft nicht möglich. Sonst wird Demokratie zur Fassade.

Der Band „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ enthält drei Texte. Einen zentralen Essay, der mit der gebotenen Skepsis die Effekte digitaler Medien auf die politische Öffentlichkeit beschreibt, sowie zwei Texte, die Habermas’ Konzept einer deliberativen Politik erläutern, also jener Demokratie, die auf vernünftigem Diskurs fußt.

Neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit

Das Buch

Jürgen Habermas: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“. Suhrkamp, Berlin 2022, 108 Seiten, 18 Euro

Alle drei Texte sind bereits veröffentlicht. Ist dieses Buch sinnvoll? Durchaus. Denn die Texte finden sich teils an entlegenen Orten wie dem „Oxford Handbook on Deliberative Democracy“. Vor allem aber verdienen sie Aufmerksamkeit, weil sie auf hoher theoretischer Flughöhe, aber gleichwohl verständlich, komprimiert zwei Schlüsselfragen verhandeln: Was hält unsere Gesellschaften zusammen? Und welche Rolle spielen digitale Medien dabei?

Folgt man Habermas, dann bleibt uns seit Aufklärung und Säkularisierung nur der Diskurs, um Staat und Gesellschaft zu begründen. Und zwar heute noch mehr als früher. „Je heterogener die sozialen Lebenslagen, die kulturellen Lebensformen und die individuellen Lebensstile einer Gesellschaft sind, desto mehr muss das Fehlen eines a fortiori bestehenden Hintergrundkonsenses durch die Gemeinsamkeit der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung wettgemacht werden.“

Der offene, vernünftige, von allen akzeptierte Diskurs ist insofern als Bindemittel zentral – gleichzeitig, wie vor allem die USA zeigen, im Kern bedroht. Dass Millionen Trump-Wähler den Sturm auf das Kapitol gutheißen, ist ein Alarmsignal, das das „Versiegen der rationalisierenden Kraft der öffentlichen Auseinandersetzungen“ markiert.

Integrationskraft des öffentlichen Diskurses

Denn im öffentlichen Diskurs muss beides herrschen – heftiger Streit und ein Regelwerk, das von allen anerkannt wird und verhindert, dass der Kontrahent als Feind erscheint. Reichsbürger und Trumps Anhänger sind nun Anzeichen, dass die Integrationskraft dieses Modells, das 1789 entstand, schwindet. Jenseits des geregelten Diskurses droht die Barbarei.

Den digitalen Medien nähert sich Habermas mit dem scharfen Besteck seiner politischen Diskurs­theo­rie. Entsprechend schneidend fällt die Kritik aus. Natürlich regis­triert er das enorme, für die Demokratie nutzbare Potenzial einer netzartigen, nicht mehr hierarchisch geordneten Kommunikation. Doch faktisch ist von dem Versprechen eines egalitären, basisdemokratischen Diskurses, so die naheliegende Analyse, kaum etwas übrig.

Die digitalen, nach außen abgeschotteten digitalen Blasen von Gleichgesinnten sind das Gegenteil jenes Diskurses, der für den Herzschlag der Demokratie sorgt. Denn dieser Diskurs muss für alle zugänglich sein und rationalen Argumenten folgen.

Angesichts der von Facebook und Twitter ungeregelten Hassreden in der Plattformökonomie sehnt Habermas sich nach der von Redaktionen und Medien gefilterten Öffentlichkeit zurück. Und merkt, mit einem Hauch Kulturpessimismus (der sonst erfreulicherweise fehlt) an: „Wie der Buchdruck alle zu potentiellen Lesern gemacht hatte, so macht die Digitalisierung heute alle zu potentiellen Autoren. Aber wie lange hat es gedauert, bis alle lesen gelernt hatten?“

Digitale Chatrooms und Bubbles

In den digitalen Räumen verschwimmt auch eine Trennung, die fundamental für bürgerlich-demokratische Öffentlichkeit ist – privat und öffentlich. Die digitalen Chatrooms und Bubbles sind weder das eine noch das andere und „scheinen eine eigentümlich anonyme Intimität“ zu haben. Und in ihnen blühen Fake News, die wie Rost die Grundlagen jeder rationalen Politik zerfressen. Digitale Medien beschleunigen so den Verfall der Demokratie.

Deswegen, so die Conclusio dieses scharfsinnigen Essays, ist es keine Ansichtssache oder Idee, dass man „eine Medienstruktur aufrechterhalten muss, die den inklusiven Charakter der Öffentlichkeit ermöglicht“ – sondern „ein verfassungsrechtliches Gebot“. Eine Art Notwehr.

Die Rückkehr zur Welt der Zeitungen und TV-Redaktionen ist Illusion. Wie die digitale Öffentlichkeit konstruiert werden muss, erfährt man hier nicht. Es wäre etwas viel verlangt. Dies ist der Job von Digital Natives, die die „Theorie des kommunikativen Handelns“ ebenso begriffen haben wie die Logik der Algorithmen.

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11 Kommentare

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  • Jeder beobachtende, klar denkende und klarsichtige Mensch sagt all das genau so seit mehr als zehn Jahren und hält sich von all dem manipulativen Schmutz konsequent fern. Und jetzt, wo es extrem verspätet selbst Habermas nachbetet, wird es auf einmal zur genialen und ganz neuen Erkenntnis?



    Übrigens in allen Aufzählungen des Artikels fehlt konsequent, sei es Absicht oder ein Übersehen, der Krake Youtube.

  • "Denn im öffentlichen Diskurs muss beides herrschen – heftiger Streit und ein Regelwerk, das von allen anerkannt wird und verhindert, dass der Kontrahent als Feind erscheint."

    Die Frage ist aber, wer das "Regelwerk" bestimmt.

    Ein herrschaftsfreier Diskurs kann es ja nur geben, wenn sich Herrschaft nicht in den Regeln selbst niederschlägt.

    Denn sonst sind die herrschenden Regeln des Diskurses doch nur wieder die Regeln der Herrschenden.

    • @Uns Uwe:

      Es müssen universelle, weltweit und interkulturell verständliche und multisprachliche offene, verhandelbare Regeln sein, wie sie etwa von der UNESCO und in den Menschenrechten verankert sind.



      Es funktioniert wie in einem Yachtclub, der alle Freiheiten belässt, aber im Rahmen nautischer, schiffahrtsrechlicher Regeln, und kultureller Konventionen und Committments.



      Der Weg in die offene redaktionelle Gesellschaft funktioniert über „Publizieren - statt nur „posten.“

      Und: alle geltenden analogen Regeln müssen dazu „rechtskonform“ in mediale-digitale Strukturen übersetzt, besser „transnormiert“ werden!



      Und hier geht es los:



      Journalismus und Aufklärung müssen für alle gleich zugänglich sein!



      Leser-Paywalls in Lokalpressemedien sind deshalb „verfassungswidrig“!

      Journalisten müssen deshalb einen gesetzlichem Vergütungsanspruch bekommen, wie etwa Rechtsanwälte und andere systemrelevante Berufe.

  • "Wie die digitale Öffentlichkeit konstruiert werden muss, [...] ist der Job von Digital Natives, die die „Theorie des kommunikativen Handelns“ ebenso begriffen haben wie die Logik der Algorithmen."

    Das hatten wir bereits, siehe Netiquette. Nur verliert sie in dem Maß an Wirkung, in dem die Kommunkationsinfrastruktur kommerzialisiert und monopolisiert wird. Und die Selbstinszenierung kommerzialisiert.

    Da die Hauptanliegen der heutigen Betreiber die Maximierung der Anzahl der User, Postings, Quoten, Klicks und Verweildauer sind, ist Netiquette im Weg. Aufreger trenden zuverlässig. Je lauter, desto besser. Entsprechend korrigierten die großen Werbeagenturen Facebook/Meta, Google usw erst dann schleppend, widerwillig und kosmetisch, als von der Politik hilflose Vorgaben kamen (Postings löschen, Uploadfilter, "Hassrede". Und was ist mit gefälschten Rezensionen?

    Dabei sind diese Vorgaben in mehrfacher Hinsicht falsch. Den früheren Betreibern von Kommunikationsinfrastruktur (Foren, Usenet) ging es um den respektvollen, produktiven, selbstbestimmten Austausch, und der fand da auch statt und regelte sich selbst, wo nicht. Denn diese Art Austausch war das gemeinsame Ziel aller Beteiligten. Dort brauchte Politik nicht einzuschreiten, begriff ohnehin nicht, was dort ablief. Das tut sie bis heute nicht, ihr fehlt schlicht die Expertise. Rezos CDU-Video war ein hübsches Beispiel. Politik will gar keine öffentliche Kommunikation in Habermas Sinne, sondern eine in ihrem Sinne gelenkte Kommunikation.

    Also auf Seiten der Politik: Keine Ahnung und die falschen Ziele.



    Auf Seiten der großen Socialmediabuden: Sehr viel Ahnung und die falschen Ziele. Beide versuchen, diese für Gesellschaften und Demokratien elementar wichtige Infrastruktur zu vereinnahmen und haben es zum großen Teil geschafft. Was wir sehen, ist das Ergebnis dieser Entwicklung.

    Die Zerschlagung der Monopole wäre wirksamer gewesen, um zu zeigen, wie wichtig selbstbestimmte, öffentliche Kommunikation ist.

  • Die Räume des Diskurses der sogenannten Intellektuellen sind exklusive, von der Masse fast abgeschottete Kreise. Eben eine Theorie existiert dort, der der Mut oder die Potenz zum Handel allerdings fehlt.



    Der Diskurs der Masse ist was?



    Was ist der Diskurs der Ausgegrenzten.



    Was der der Mächtigen.

    Die Idee ist ja inzwischen Staat und Gesellschaft der alten traditionellen und kulturellen Form zu überwinden, hin zu einem Orwellschen oder Huxleyschen Gleichen oder – eher unwahrscheinlich - einer offenen kreativen und intellektuellen Vielfalt.



    Die sogenannten neuen Medien, die sicher verunsichernde Kraft haben, sind hier wohl der neue Diskurs, der z.B. weltweites Handeln ermöglicht. Diese gefährliche Unübersichtlichkeit der digitalen Welt mit ihrer globalen Wesenhaftigkeit ist für mich eine Praxis des kommunikativen Handelns, weit über die abgeschlossenen Zirkel intellektueller Räume und einer Theorie des kommunikativen Handelns hinausgehend. Gefährlich, aber auch die einzige Hoffnung.

  • „Reichsbürger und Trumps Anhänger sind nun Anzeichen, dass die Integrationskraft dieses Modells, das 1789 entstand, schwindet.“ Dass die TAZ Herrn Habermas große „Denkfehler“ attestiert, weil er es gewagt hat gegen die belligerente Befürwortung der Waffenexporte zu argumentieren, dokumentier ebenso einen gewissen Schwund.

  • Die mit Abstand größte Gefahr für Demokratien sind die Wohlstandgreise.

    • @Ajuga:

      Nein, die Machtgreise und -greisinnen.

    • @Ajuga:

      Wen oder was bezeichnen Sie als Wohlstandsgreise ? Wohl nicht unsere Geisteswissenschaftler...Habermas einer der wenigen klugen, verdienten Köpfe unserer Gesellschaft !



      Wie Sie es auch gemeint haben mögen, irgendwie kommt es etwas Respektlos rüber...

    • @Ajuga:

      Für mich sind solche Kommentar die mit Abstand größte Gefahr für Demokratie. Wegen willkürlich herausgegriffener Merkmale Menschen zu diffamieren oder gar zu illigetimieren.

    • @Ajuga:

      Wen meinen Sie damit konkret? Die Patriarchen und Matriarchinnen großer Konzerne? Aber bei denen wäre "Wohlstand" ja eine Verharmlosung. Also doch Habermas? Aber weshalb sollte er eine Gefahr für die Demokratie sein? Wieso nicht die überreichen Greis:innen - bzw. die jeden Alters?