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Diebstahlschutz an LebensmittelnArme sollen hungern müssen

Timm Kühn
Kommentar von Timm Kühn

Supermärkte beginnen offenbar, Lebensmittel mit Diebstahlschutz zu versehen. Dass Arme gehindert werden, an Lebensmittel zu gelangen, ist ein Unding.

Diebstahlschutz künftig auch für Lebensmittel? Foto: dpa | Martin Schutt

M anchmal sind gerade vermeintlich kleine Veränderungen ein Gradmesser für große gesellschaftliche Schieflagen. Eine solche Veränderung könnte sein, was ein Reporter der Berliner Zeitung in einem Supermarkt in Berlin-Weißensee entdeckte: eine ganze Reihe von Billigfleischprodukten, die mit Sicherungsmarkierungen versehen wurden, die sonst nur bei Luxusartikeln wie Champagner zum Einsatz kommen. Die deutlich teureren Bioprodukte in derselben Filiale seien dagegen nicht gesichert gewesen. Arme Menschen gönnen sich also auch dann nichts, wenn sie klauen.

Dass Supermarktkonzerne einen solchen Aufwand betreiben, um Menschen daran zu hindern, an Nahrungsmittel zu gelangen, ist ein Unding. Zumal es sich offenbar nicht um einen Einzelfall handelt: Auf Twitter kursiert ein Foto aus einer Lidl-Filiale, das mit einer ähnlichen Markierung gesicherte Butterpackungen zeigt. Laut Bild sichern britische Supermärkte bereits im großen Stil Produkte wie Käse, Babymilch oder Vitaminpräparate.

Es überrascht nicht, dass scheinbar immer mehr Menschen klauen müssen. Laut Verbraucherzentrale haben sich Lebensmittel allein im letzten Jahr um fast 15 Prozent verteuert – die Preise für Produkte wie Speiseöl sind sogar um fast 40 Prozent in die Höhe geschossen. Menschen, die schon zuvor jeden Cent umdrehen mussten, stellt das vor existenzielle Probleme. Zu Recht spricht Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbands Deutschland, gegenüber Bild von „Verzweiflungstaten“.

Befreiungsakte gegen das kapitalistische Tauschprinzip

Auch nicht überraschen kann im Kapitalismus allerdings, dass Supermärkte versuchen werden, die Menschen am Klauen zu hindern – schließlich ist es ihr Geschäftsmodell, aus Grundbedürfnissen Profit zu machen. Weil der Ladendiebstahl ein Ausbruch aus dem kapitalistischen Tauschprinzip (Arbeit gegen Geld gegen Nahrung) darstellt, wurde er von An­ar­chis­t:in­nen immer wieder als Befreiungsakt zelebriert.

„Ladendiebstahl nimmt den Waren die mythische Macht“, heißt es in einem Essay des anarchistischen Thinktanks „CrimethInc.“ Man muss aber keineswegs ein:e An­ar­chis­t:in sein, um zu sehen, dass der Hunger die Vorstellung von Nahrungsmitteln als Ware obsolet macht. Auch für einen bürgerlichen Philosophen wie Immanuel Kant war klar, dass es so etwas wie ein Recht der Notwendigkeit gibt.

Wer in einem Sturm Unterschlupf sucht, wird sich von einer Tür nicht aufhalten lassen. Wer hungert, wird sich Nahrung beschaffen – dagegen Gesetze zu schreiben ist bei Kant ein logischer Widerspruch. Es kann deshalb nie gerecht sein, Menschen zu bestrafen, weil sie sich das Leben nicht mehr leisten können.

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Timm Kühn
Redakteur
Schreibt seit 2020 für die taz über soziale Bewegungen, Arbeitskämpfe, Kapitalismus und mehr.
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27 Kommentare

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    Die Moderation

  • Ein furchtbar trauriges Thema. Ein Autor und ein Artikel behandeln es - gelungen! Hoppla dachte ich. Wird der Artikel jetzt "wieder" enden mit einer zu wohlfeil ausgesprochenen Alternative: Das kann alles erst zu ende sein, wenn es mit dem Kapitalismus vorbei ist? Schon - aber wann wird das sein, wie wird das geschehen, können wir uns das vorstellen...Und bis dahin?

    Aber nein. Von seinem Ansatz her differenziert Timm Kühn die Problematik "Armutsökonomie" überzeugend und inhaltsreich aus. Für einen, den das Thema interessiert aber da gar nicht so belesen ist, ist das sehr informativ und zwingt positiv zum weiter denken. Gut so. Mir schwirrt noch so der Kopf von Gedanken, kann mich noch nicht weiter zur Problematik äußern.

    Und übrigens: Die bisherigen Kommentare hier sind samt und sonders anregend zu weiter denken. Jeder in seiner Art. Aber da verdichtet sich für mich so einiges in Zusammenhang mit dem Artikel.

    Es gibt "Satiresequenzen". Die find ich gut. Die finden nämlich Anschluss an das Thema. Und angesichts seines Ernstes denunzieren die den nicht, sondern machen Lachen und Weinen über den ganzen Wahnsinn. Zum

    Beispiel, auch wenn ich jetzt nicht die entsprechenden Links habe, man erinnere sich in Bezug auf

    *Klauberechtigungsausweissupendierungsamt*

    Wie war das mit den Bettlern "in Hartz IV"? Ein jahrelanges Gezerre mit Gerichten und Jobcentern! Die Taz berichtete darüber.

  • Das PENG! Kollektiv! hatte mal die Aktion "Deutschland geht klauen" im Angebot.

    Dabei ging es mehr um die Unterstützung der Produzenten in den Ländern des Südens.

    So etwas ließe sich aber auch abwandeln.

    Die Klimaaktivisten könnten ihre soziale Ader entdecken und, natürlich nur symbolisch, einen Supermarkt ausräumen und die Waren den Betroffenen zugänglich machen.

    de.wikipedia.org/w...chland_geht_klauen

  • "Es überrascht nicht, dass scheinbar immer mehr Menschen klauen müssen."

    Es überrascht mich, dass die taz da lügt. Die Statistiken in DE gehen gut nach unten. Von 387 Tausend runter auf 256 Tausend. Da ist null Anstieg zu entdecken.

    de.statista.com/st...lich%20registriert.

  • Nach Ansicht des Autors sind arme Menschen potentielle Diebe und Arme die ihren Einkauf bezahlen wohl eher dumm...



    Diebstahl ist zu verurteilen, da sonst die ehrlichen Kunden die Waren teurer bezahlen müssen.



    Den Ladendiebstahl quasi als Notwehr zu legalisieren, verhönt kleine Ladenbesitzer und das auch nicht üppig bezahlte Verkaufspersonal.

  • taz: "Arme Menschen gönnen sich also auch dann nichts, wenn sie klauen."

    Der Satz ist wohl etwas verunglückt. Es müsste natürlich heißen "... wenn sie klauen müssen". Das Wort "müssen" ist wichtig, denn Nahrung klauen Menschen nur weil sie Hunger haben. Der Arme kann eben nicht mit dem Porsche oder dem SUV zum Delikatessenladen fahren, um sich dort - ohne aufs Geld achten zu müssen - mit Leckereien einzudecken.

    So sieht soziale Gerechtigkeit in diesem Land also schon aus. Einige "Volksvertreter" feiern rauschende Partys auf einer Nordseeinsel und die armen Bürger sind schon gezwungen Lebensmittel zu "klauen".

    • @Ricky-13:

      Sind sie das?

      Wann folgen denn dann Aufrufe an die internationale Gemeinschaft, Deutsche vor dem Hungertod zu retten? Denn der Tod muss ja wohl unmittelbar bevorstehen, wenn ausschließlich Diebstahl ihn noch abwenden kann.

  • Wie hier schon erwähnt wurde, ist Klauen von Lebensmitteln nicht auf Arme beschränkt. Im Gegenteil. Bei einer Auswertung von Staatsanwaltsakten zu Ladendiebstahl kam heraus, dass die wenigsten wegen Geldmangels gestohlen hatten. Gründe sind eher Geiz, Gelegenheit, sich beweisen wollen..... Man kann sich dann eben noch mehr andere Dinge "leisten".

    • @resto:

      Nur weil es einige "verwirrte" Leute gibt, die Lebensmittel stehlen - obwohl sie es nicht nötig haben und eher ein Fall für den Psychologen sind, als für den Staatsanwalt - jetzt die steigende Armut in diesem Land damit relativieren zu wollen, ist schon sehr bemerkenswert.

  • so fing es in Polen an-als die Leute klauen mussten um ihre Familie ernähren zu können.

    • @Maik Voss:

      Was fing so in Polen an?

      • @Jesus:

        Im Schlesien der 90er und der frühen 00er Jahre gab es teilweise organisierte Diebesbanden die Kohle tonnenweise von fahrenden Zügen stahlen. Viele Kinder sprangen bei 20-30 kmh auf und von fahrenden Zügen um Heizkohle zu stehlen was viele mit dem Leben bezahlten. Schlesien war ein riesiges Armenhaus. Von dem was in unserem östlichen Nachbarland passiert, haben die meisten hier leider keine Ahnung. Ist also kein Vorwurf.

  • 0G
    03998 (Profil gelöscht)

    In unserem Lidl-Supermarkt gab es zeitweise eine Aktion wo man/frau einen Artikel mehr kaufen konnte, der dann Menschen mit wenig Geld zur Verfügung gestellt wurde. Eine Packung Nudeln o.Ä. mehr zu kaufen tut einem ja nicht weh - sollte aber gezielt da ankommen wo die Not am größten ist: Obdachlose, Drogenabhängige, kinderreiche Familien, Rentner, die ihre Miete kaum noch bezahlen können - das sind die Gruppen, die noch weit unterhalb der "Armutsgrenze" leben und die teilweise jetzt schon unterernährt sind..

  • Die befürchtete Bewegung gegen Armut zeigt sich hier:

    "Ulrich Schneider hat retweetet



    Tafel Deutschland e.V.



    @Tafel_DE



    🍽️ Die Tafel Jugend wird sich am 21. August mit leeren Tellern vor den #Bundestag stellen und fordern: Armutsfeste Regelsätze und volle Teller für alle Menschen!



    Wir laden alle Menschen aus #Berlin und Umgebung, die #ArmutAbschaffen wollen, herzlich zur Kundgebung ein. "



    twitter.com/Tafel_...wWgoC-3ZTvrp8rAAAA

    und hier:



    "Wir wollen in Würde leben - schafft Armut ab"



    steuert auf 75.000 Unterschriften zu



    weact.campact.de/p...n-schafft-armut-ab

    • @Brot&Rosen:

      Einmal mehr ein Danke für die Links.

  • Habe ich das richtig verstanden? Behauptet etwa der Autor, dass arme Menschen Lebensmittel klauen?

    Das ist Diskriminierung von Armen pur. Das sollte insbesondere in einem linken Blatt nicht stehen. Gerade wenn es um unbewiesene Aussagen geht, die Menschen stigmatisieren können, sollte ein verantwortungsbewusster Autor davon Abstand nehmen.

    • @Black & White:

      Wo steht das?!

  • eine ganze Reihe von Billigfleischprodukten, die mit Sicherungsmarkierungen versehen wurden, die sonst nur bei Luxusartikeln wie Champagner zum Einsatz kommen. Die deutlich teureren Bioprodukte in derselben Filiale seien dagegen nicht gesichert gewesen.

    +++

    Ist das denn vielleicht eine Einladung, lieber die teureren Artikel m itgehen zu lassen?

    • @ INTRASAT:

      Keine Einladung. Eine Maßnahme. Der gesunde, umweltbewußte Bürger klaut nur Bio Entrêcote vom Kobe Rind. Klaut jemand Bärchiwurst von Ja! oder die Hähnchenflügel von Wiesenhof muss man ihn zu seinem Glück erziehen

    • @ INTRASAT:

      "Ist das denn vielleicht eine Einladung, lieber die teureren Artikel m itgehen zu lassen?"



      Das KANN doch nur der richtige UMKEHRSCHLUSS sein !

  • Und was ist jetzt die Lösung von alldem?



    Klauen erlauben oder was?

    • @Laura Marwitz:

      "Klauen erlauben oder was?"



      Nein, nein, so einfach ist das nicht.



      Da das Stehlen nur den Armen erlaubt sein soll, muss eine Behörde her, die eine entsprechende Einstufung vornimmt und Klauberechtigungsausweise vergibt - mit begrenzter Gültigkeit natürlich, schließlich können sich die Lebensumstände auch ändern.



      Des Weiteren müssen Listen erstellt werden von den Gütern, die von diesen Berechtigten gestohlen werden dürfen. Dafür brauchen wir entsprechend Kommissionen die hierüber befinden.



      Außerdem muss es einen Berechtigungsklau-Lastenausgleich zwischen den Supermärkten geben, da diese vermutlich ungleich betroffen sein werden. Auch hierfür ist eine neue Behörde erforderlich.

      ...fällt noch jemandem was ein?

      • @Encantado:

        Es dürfen natürlich nur noch nicht abgelaufene Artikel geklaut werden!

        • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

          In den USA sind sie in manchen Städten wie SF schon ein paar Iterationen weiter.



          Mit ähnlicher Logik wurde das Klauen bis zu einem Betrag X legalisiert.



          Folge: Wenn die Händler nicht ganz dichtmachen führen sie nach und nach den Nachtschalter ein, nur eben für den Tag, ähnlich wie in Südafrika.

          Aus Frieren für den Frieden wird für viele Hungern für den Frieden werden, wenns so weiter geht.

        • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

          "Es dürfen natürlich nur noch nicht abgelaufene Artikel geklaut werden!"



          Das gefällt mir!



          'Das Stehlen von Artikeln mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum ist auch Inhabern eines Klauberechtigungsausweises nicht erlaubt! Zuwiderhandlungen werden mit Suspendierung des Klauberechtigungsausweises geahndet; über die Dauer der Suspendierung befindet das Klauberechtigungsausweissupendierungsamt.'

          • @Encantado:

            "Klauberechtigungsausweissupendierungsamt" hat womöglich Chancen für das Wort des Jahres!



            Oder war es das Unwort?

  • > ihr Geschäftsmodell, aus Grundbedürfnissen Profit zu machen



    Sonst nichts also. Man kann auch sagen, es gehe beim dem Zweig aller Einzelhandelsbranchen mit der notorisch niedrigsten Gewinnspanne darum, die Löhne der Mitarbeiter, die Mieten und die Energiekosten zu bezahlen. Und daneben auch darum, Großstädter, insbesondere die ohne eigenes Auto, zuverlässig mit Lebensmitteln zu versorgen. Die Alternative kennen wir von unseren Großeltern, die einen ganzen Tag mit leerem Rucksack auf den Dächern überfüllter Züge saßen, um irgendwie im weiteren Umland etwas Eßbares -- Qualitätsansprüche, wie sie heute gerade in den Metropolen gängig sind, gab es nicht -- aufzutreiben. Ich habe mein Auto noch und möchte trotzdem keinen Konkurs der umliegenden Supermärkte erleben.



    Und übrigens, natürlich richten sich Schlösser nicht gegen Arme sondern gegen Diebe. Den Wegfall des Mundraubparagraphen hielt allerdings auch ich schon lange für falsch.