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Erinnerung an den Chaostag auf SyltAuf LSD in den Knast

Kommentar von Robert Matthies

In sozialen Medien wird wegen des 9-Euro-Tickets zu Chaostagen auf Sylt aufgerufen. 1995 sind tatsächlich echte Punks dorthin gefahren. Ich war dabei.

Entspannter Punk am Strand: 1995 auf Sylt gab es das nicht, da ging's nur in den Polizeikessel Foto: Nick Fewings/Unsplash

C haostage auf Sylt? Mit echten Punks, die die Perle der Nordsee in Schutt und Asche legen? Nicht ohne mindestens bürgerkriegs­ähnliche Zustände natürlich? Oder bleibt das alles doch nur eine lustige Idee, ein sozialmediales Ersatzdings für Sofa-Radikalinskis? Bislang finden die Ausschreitungen ja bloß virtuell statt, in Twitter-Memes. Für Ältere gibt’s eine schwelgerische Facebook-Veranstaltung.

Sowas was gab es im März 1995 noch nicht, nicht mal googeln konnte man. Wer Chaos stiften wollte, musste noch umständlich und analog um Aufmerksamkeit buhlen. Per Neunnadeldrucker und Fax an die Ge­nos­s*in­nen und die Redaktionen wurde damals der Appell verschickt, mit dem die „Strandguerilla Hamburg“ zum „Politischen Chaostag“ auf der Nordseeinsel aufrief. „Sylt für alle, sonst gibt’s Krawalle!!!“, lautete die markige Drohung, die noch darauf bauen konnte, dass alle an die Chaostage in Hannover dachten. Im Jahr zuvor war die alte Tradition dort wiederbelebt worden, mit spektakulären Straßenschlachten zwischen Punks und der Polizei.

So ganz ernst nahm sich der Aufruf zum Chaostag auf Sylt dabei selbst gar nicht. Spaß- und Kommunikationsguerilla kam damals in Mode, Revolution sollte auch Spaß machen, Ironie, Satire, Persiflage, Fälschungen wurden in der radikalen Linken cool: „Erfrecht sich doch die Sylter Bourgeoisie eines direkten Angriffs gegen die proletarischen Massen und damit gegen uns alle!“, heißt es im Flugblatt maximal klassenkämpferisch: „Sperren wollen sie Sylt für diejenigen, die Urlaub nicht als bloße Konsumierung von 20-Mark-Pizzen und Nobelhotels verstehen. Die Kurtaxe soll künftig BesucherInnen direkt am Bahnhof abgepresst werden, um somit den Pfeffersäcken wenigstens teilweise ihren entgangenen Profit zu gewährleisten. Das ist eine direkte Provokation gegen Nichtreiche!“

Als wir dann am 25. März, pünktlich morgens um halb sechs (!), tatsächlich mit rund 80 Leuten am Altonaer Bahnhof in Hamburg standen und auch die Presse wirklich angebissen hatte, war das aber auch für die Angereisten eine Überraschung. Mehr als einen spaßigen Ausflug, für den sich am Ende doch niemand interessiert, hatten die meisten – auch ich – gar nicht erwartet. Autonome standen da, Antifas, viele fast noch Kinder. Und tatsächlich richtige Nietenkaiser*innen, die munter LSD-Pappen verteilten.

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Und dann wurde es echt chaotisch. Die Punks legten ein paar Karlsquell-Dosen später los, während die Autonomen noch Flugblätter verteilten und dem Hamburger Abendblatt den politischen Gehalt der Aktion erklärten. 30.000 Mark Schaden sollen nach Angaben der Bahn auf der Reise entstanden sein. Das sah vor allem wild aus: ein ganzer Waggon vollgesprüht, Passagiere fühlten sich belästigt.

Die Polizei war vorbereitet und wartete mit 100 Leuten in Westerland, deshalb stiegen wir kurzerhand in Keitum aus und zogen durch die Alleen. Und für ein paar Minuten sah es echt nach Chaostag aus: Ein Punk schmiss einen großen Stein aus diesen hübschen Bauernmauern, auf einer Motorhaube stehend, mit beiden Händen in die Frontscheibe des zugehörigen BMW.

Aber auf der Landstraße nach Westerland war schon Schluss: Geknüppel, Kessel, Innenhof des Westerländer Gefängnisses. Viele der Minderjährigen waren verletzt, stundenlang regnete es. Alle wurden erkennungsdienstlich behandelt und bekamen einen Eintrag in die gerade eingerichtete polizeiliche „Punker-Datei“. Dann mussten wir im Polizeispalier zum Bahnhof, am Rand schimpfende Menschen, die uns lautstark ins Lager wünschten. Zurück nach Hamburg ging es dann im zerstörten Waggon, damit wir uns schämten.

Ein paar Wochen und ernste polizeiliche Ansprachen in Elternhäusern später aber glätteten sich die Wogen um die Sylter „Billig-Touris“ wieder. Die kamen weiterhin, kurtaxefrei. Bis die Bahn das Wochenend-Ticket wieder abschaffte: vor drei Jahren erst.

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24 Kommentare

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  • Das Foto vom Punk am Strand wurde nicht auf Sylt aufgenommen, da es dort keinen Kieselstrand gibt.

    • @Elena Levi:

      😎 „Brighton Beach, Brighton, UK



      Published on September 5, 2020



      SONY, ILCE-7M3. Free to use under the Unsplash License. A punk rocker, dressed in leather, with green Mohican hair and wearing sunglasses, laying on the beach“



      ( unsplash.com/photos/bpHiMALBe-A )

      Mit Bildern Realität zusammen basteln. Ich finde es unglaublich, dass die Tat so etwas macht.

      • @Rudolf Fissner:

        Müsste es in der Quellenbeschreibung nicht "lying" heißen, obwohl "laying on the beach" auch seinen Charme hat, aber dazu wären wohl zwei nötig?!

      • @Rudolf Fissner:

        Die Bildunterschrift macht doch eigentlich recht eindeutig klar, dass es sich eben nicht um eine Aufnahme der geschilderten Ereignisse handelt.

    • @Elena Levi:

      Brighton Beach, Brighton, UK

      "A punk rocker, dressed in leather, with green Mohican hair and wearing sunglasses, laying on the beach."

  • "Echte Punks"? 1995? Nope. Da kamst ein paar Jahrzehnte zu spät.

    • @Gunter Gabriel:

      Inbegriff des Punk ist, dass er sich nicht zuordnen lässt.



      Insofern ist ihre Aussage falsch, da sie eine Klassifizierung vornimmt, die allem zuwider läuft, was Punk ausmacht.



      "Echte Punks" gab es immer und wird es immer geben.



      Genau so wie Ex-Punker, die nun aus ihrem Spiessbürgerlichen Leben heraus anderen den Punk erklären wollen :-)

  • "Passagiere fühlten sich belästigt." schreibt der Autor. Meint er, dass die Passagiere sich nur belästigt fühlten, aber nicht belästigt wurden? Dann dürfte er falsch meinen. Wenn eine Gruppe Alkoholisierter einen Waggon vollsprüht, ist das für die anderen Passagiere durchaus belästigend. Und für manche auch ein Grund, Bahnfahrten künftig nach Möglichkeit zu vermeiden.

    • @Budzylein:

      Zumindest von Juni bis Ende August. Dabei habe ich gar kein Auto. Aber solche Geschichten nerven mich: ey, was waren wir denn so coole Typen und haben auf alle/s geschissen.

    • @Budzylein:

      Die Formulierung läßt das offen. Aber ich denke, das wussten sie.

      Wenn Sie eine Entschuldigung zum Autofahren brauchen - da gibt es vermutlich bessere.

      • @pitpit pat:

        Ich brauche keine "Entschuldigung", unabhängig



        davon, ob ich mit dem Auto oder mit der Bahn fahre. Beides ist mein gutes Recht. Aber ich will in der Bahn ebensowenig belästigt werden wie sonstwo. Und Leute, die das Bahnfahren zu bestimmten Zeiten vermeiden, haben nicht immer die Wahl zwischen den Verkehrsmitteln, sondern haben nur die Möglichkeit, entweder mit der Bahn oder gar nicht zu fahren. Öffentliche Verkehrsmittel sind für alle da, und es ist nicht zu viel verlangt, dass man sich dort einigermaßen zivilisiert verhält.

        • @Budzylein:

          Korrektur: Statt "sondern haben nur die Möglichkeit" muss es heißen: "sondern häufig nur die Möglichkeit".

    • @Budzylein:

      Die werden wahrscheinlich eh den Wagon für sich gehabt haben. Und solange es Punks sind, die da alkoholisiert sind, muss man meist auch wenig Angst haben. Schreiende Kinder sind da viel belästigender ;)

    • @Budzylein:

      Vermutlich meint er, was die Polizei meldete.

  • 5 Punks und ein Fahrschein



    Dosenbier und Rotwein



    So brechen wir auf



    Ein Prost auf die Bahn



    Denn sie läßt uns fahrn



    Und wir sind gut drauf



    Mit uns im Abteil nur Abschaum dabei



    Musik, Gejohle und Geschrei

    • @Christoph Buck:

      N.O.E. aus Delitsch hatten damals auch einen schönen und passenden Song:



      „Wir sind da“



      Die Nacht, sie sieht so harmlos aus so wie ein kleines Kind. Man würde ihr wohl niemals ansehen, was der Tag, der kommt, wohl mit sich bringt.

      Noch schnell die lumpen gepackt, und der Zug, der uns erbricht, wirft uns mitten in die Stadt, ein fettes Grinsen im Gesicht.



      Und das kribbeln im Bauch und im Hirn das auch, sagt uns jetzt oder nie:



      I wanna be, I wanna be anarchy.

      Ein Hagel von Blitzlicht und tausende, die zu bunt sind für dieses Land. Wie 'ne Katze, die immer auf den Pfoten landet, die Welt für einen Tag in unsrer Hand.

      Von Krawatten nur ein Schulterzucken jedes Jahr, Den Rest erledigt der Knüppel, das war ja vorher schon klar. Alles aus den Fugen und trotzdem geplant, die Vernunft wird blaß, zu viel für sie oder zu wenig, oder was?!

      Scheißegal, was ihr im Goldturm treibt, weil uns immerhin noch die Straße bleibt. Es ist Anfang August und allen bewusst:



      Immer überall und heute hier - die letzte Schlacht gewinnen wir.

      4x



      Wir sind da auch wenn man uns nicht gerufen hat jetzt gibt’s Chaos in der Stadt und da wird euch Angst uns bang Chaostage Wochen lang

    • @Christoph Buck:

      diese establishment rebellen ...

      wären von mir mit ihrer eigenen sprühdose kunterbunt verschönert worden.

      dann hätten auf ihrer anreise auf das idyllische einland alle etwas bleibendes erlebt, worüber auch noch später gelacht wird.

      spaß muß keine einbahnstraße sein.

    • @Christoph Buck:

      selbst ...

      oder von die ärzte ?

    • @Christoph Buck:

      Schöne Geschichte, waren Sie auch dabei?

      • @Jim Hawkins:

        war da mehr so an Playmobil und König der Löwen interessiert... aber dieses Jahr bin ich auf jeden Fall dabei ;)

        Heute Hannover - morgen die Welt!

      • @Jim Hawkins:

        "5 Punks und..." entstammt einem Songtext der Band Terrorgruppe,falls ich mich richtig erinnere.Die ersten Sylter Chaostage fanden übrigens 1985(oder war es 86?) statt.Die TAZ berichtete und am Spritzenplatz wurden Fotos gemacht.Kann sein das die von M.Stroux geknipst wurden. :-)

        • @Clobert:

          Der Song heißt "Wochenendticket"

        • @Clobert:

          Danke für die Informationen!

      • @Jim Hawkins:

        Sie sollten dringend an ihrer musikalischen Bildung arbeiten ;)