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Le Pens KlientelDie Wut von Franzosen

Europa hat für die sich öffnende Schere von Arm und Reich keine Lö­sun­gen. Statt Wohnungspreise zu regulieren, hält die EU Spekulanten die Tür auf.

Brigitte und Emmanuel Macron. 40 Prozent der Franzosen können sich keinen Jahresurlaub leisten Foto: Gonzalo Fuentes/reuters

E s gibt keine Entwarnung für Europa. Ja, Macron hat Le Pen besiegt. Die Bilder von seinem Sieg erleichterten viele Europäer, seine hohlen Versprechungen lassen viele jubeln. Er verspricht, Präsident aller zu werden. Na dann. Ich verstehe das tiefe Bedürfnis nach Entwarnung. Es gibt zu viele Krisen derzeit. Man wünscht sich Ruhe an irgendeiner Front. Doch die Krise Europas ist mit der Wahl Macrons nicht vorbei. Im Gegenteil: Er könnte sie weiter befördern, wenn sich an seiner Politik nichts ändert.

Noch besser als die Erleichterung über Macron verstehe ich die Wut jener französischen Wählerinnen, die für Le Pen stimmten. Ja, sie ist Rassistin, doch ihre Strategie, den überforderten Bürgerinnen und Bürgern die Welt wieder kleinzuschrumpfen, ist intellektuell leider gut nachzuvollziehen und strategisch klug. Würde die Linke die Flanke, über die Le Pen kommt, schließen, hätte sie kein so leichtes Spiel.

Warum fragen so viele aus ihren Jugendstilwohnungen heraus empört: Wie kann man nur Le Pen wählen, wo man doch Macron wählen kann? Und mit Macron unser heiliges Europa! Sollte man nicht besser umgekehrt fragen: Wie kann man Macrons innenpolitischem Kurs gegenüber so unkritisch sein, wenn man seine Politik beobachtet? Woher die blinde Liebe zur EU? Arbeitnehmer haben es in Macrons Frankreich schwerer als zuvor. Geringverdienern wurde das Wohngeld gekürzt.

Die Mittelschicht darf mehr Steuern bezahlen, während die Vermögensteuer abgeschafft wurde, weil es ja Kapitalflucht gab. Weite Teile der Politik haben vor den Superreichen kapituliert. Die Bürger lassen sich nun im rechten Kümmerermodus einfangen. Das Problem wird sich nicht lösen, solange die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht. Ohne eine stabile Mittelschicht wird es keine stabilen Demokratien geben. Ohne eine wirklich soziale Marktwirtschaft wird es keinen sozialen Frieden geben.

Bild: Dorothee Piroelle
Jagoda Marinić

ist Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin. Sie lebt in Heidelberg und ist Mitglied des PEN-Zentrums. Ihr letztes Buch, „Sheroes. Neue Hel­d*in­nen braucht das Land“, erschien 2019.

Perverser Reichtum

Die Spaltung der Gesellschaft entsteht dadurch, dass die Superreichen sich für steuerlich unantastbar halten, während die Normalverdiener die Hauptlast der gesellschaftlichen Infrastruktur der Demokratien tragen. Der perverse Reichtum eines Elon Musk etwa, der mal eben 40 Milliarden Dollar lockermacht, um Twitter zu kaufen. Wie reich dürfen Einzelunternehmer sein? Reich an Geld und reich an Bürgerdaten? Reguliert das noch jemand?

Viele haben den Eindruck, dass den Superreichen und ihren Geldflüssen politisch nicht mehr beizukommen ist. Linke haben früher die Globalisierung kritisiert, heute müssen sie – aus guten Gründen – den offenen Handel verteidigen, weil er zu der Offenheit offener Gesellschaften gehört. Doch die offene Gesellschaft ist für viele zum Synonym für das ungeschützte Individuum geworden. Schützende Regulation fehlt. Viele haben ein Bedürfnis nach der Verzwergung der Welt, um ihrer Probleme wieder Herr zu werden. Le Pen spielte mit diesen Bedürfnissen.

Es braucht mehr politische Verantwortungsträger, die globale Verteilungsfragen in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen. Das Autopatriarchat eines Henry Ford war zwar schlecht, aber immerhin noch egoistisch fürsorglich. Das Megalomaniat, das Bezos, Musk und ihresgleichen verkörpern, kennt nicht einmal mehr egoistische Fürsorge. Humankapital ist ja zur Genüge vorhanden, um es abzunutzen.

Marine Le Pen droht mit dem Frexit und erhält trotzdem 42 Prozent, so die Empörung. Statt Wahlvolkbeschimpfung zu betreiben, sollten Analytiker fragen, weshalb jeder zweite Franzose die EU opfern würde? Würde die EU sich anders positionieren, etwa bei der Regulation von Immobilienmärkten, wüssten Europäerinnen, wofür sie gut ist. Stattdessen verlangt die EU etwa von EU-Beitrittsländern Liberalisierung, ohne Rücksicht auf die Kaufkraft der Einheimischen zu nehmen, wie etwa in Kroatien zu beobachten ist.

Wahlvolkbeschimpfung nützt nichts

Kanadas Staatschef Justin Trudeau will den Anstieg der Immobilienpreise stoppen, indem er Ausländern den Kauf von Häusern verbietet. Illiberal? Ich erinnere mich an einen Aufenthalt in Toronto, wo ich bei einer Sekretärin wohnte, die sich einst im Stadtzentrum ein Haus leisten konnte. Unvorstellbar für die heutige Zeit. Reiche Spekulanten aus China, Russland oder den Arabischen Emiraten kaufen den knappen Wohnraum der Städte als Geldinvestition auf.

Kanada zeigt, wie sich die turbokapitalistischen Auswüchse der letzten Jahrzehnte rückgängig machen ließen, damit die Bürgerinnen wieder ein Gefühl von Kontrolle über ihr Leben und ihr Land erhalten. Die EU reguliert in Sachen Immobilienmärkte nicht genug, sie macht es rücksichtslosen Investoren leicht. Auch so entstehen „antieuropäische“ Ressentiments. Auch so entsteht der Eindruck, Nationalismus sei etwas für die Bürger der Nation und nicht gegen andere.

Der Demokratieverdruss wird nicht durch Wahlvolkbeschimpfung verschwinden. Es reicht nicht mehr zu sagen: Ihr bösen Wählerinnen würdet eine antieuropäische Rassistin an die Macht bringen! Es haben doch viele Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ gelesen, weshalb verstehen sie die Wütenden noch immer nicht? Als hätte wirklich kaum jemand Zugang zum Prekariat und als würden viele nur zu gerne die Augen davor verschließen, dass sie selbst prekären Lebensverhältnissen immer näher kommen.

In Frankreich leben 20 Prozent an der Armutsgrenze. Davon über 2 Millionen Kinder. Schon 2018 ermittelte die Hilfsorganisation Secours populaire (Volkshilfe) in einer Umfrage, dass jeder fünfte Franzose nicht genug Geld für Lebensmittel hat. Jeder Vierte gab an, nicht genug Geld für Obst und Gemüse zur Verfügung zu haben. Rund 40 Prozent können sich den Jahresurlaub nicht leisten. Vierzig Prozent!

Wer jetzt die Teuerung der Lebenshaltungskosten der letzten Monate hinzuzählt, bekommt eine realistische Vorstellung davon, wie manche Menschen sich durch ihren Alltag kämpfen. Wie sollen sie da noch rufen: Vive l’Europe?

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29 Kommentare

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  • ,,Das Autopatriarchat eines Henry Ford war zwar schlecht, aber immerhin noch egoistisch fürsorglich.''

    Das galt aber nicht für die jüdische Bevölkerung bei unserem alten antisemitischen Okkupator des Wohlfahrtsstaates:

    de.wikipedia.org/wiki/Henry_Ford

    de.wikipedia.org/wiki/Fordismus

    ,,Doch die offene Gesellschaft ist für viele zum Synonym für das ungeschützte Individuum geworden.''

    Das Individuum ist in Poppers anzustrebender ,,offener Gesellschaft" von Vornherein ,,neoliberal-ungeschützt". Es ist bedauerlich, dass der Poppers Begriff der ,,offenen Gesellschaft" überhaupt mit irgendwie als ,,links" empfundener Politik assoziiert und verknüpft wurde und wird.

    de.wikipedia.org/w...ffene_Gesellschaft

    Noch bedauerlicher aber ist, was unter dem Deckmantel ,,linker Politik" alles angerichtet wurde, z.B. unter Blair und Schröder.

    Es braucht mehr internationalen kapitalismuskritischen ,,Patriotismus''.

  • Es ist echt traurig, wie immer mehr Menschen in die Armut abrutschen. Das wird wirklich zum gesellschaftlichen Sprengstoff. Dieser Artikel zeigt gut, in welche Richtung das auch geht: "die EU". Eigentlich ein wichtiger Artikel, aber erst heißt es "warum diese blinde Liebe zur EU" und dann werden nur innenpolitische Fehlentscheidungen aufgezählt. Nur ein negativer Punkt der EU wird genannt, positiv natürlich gar nichts. Wieso kann man nicht objektiv sein, wenns um Europa geht? Ja es gibt echt Punkte an der EU, die einen aufregen können, aber ja auch so viel positives. Der Frage, ob Frankreich ohne die EU denn tatsächlich besser dran wäre, wird voll aus dem Weg gegangen, aber trotzdem bisschen EU bashing. Das ist doch das, was hängen bleibt von dem Artikel. Und immer diese Formulierung "die EU" - es sind die Staats- und Regierungschefs der EU, die die Hauptentscheidungen treffen. Aber so wird immer der Eindruck vermittelt, es gäbe eine "europäische Regierung", die nur Mist verzapft, dabei kann Von der Leyen ja fast nichts alleine entscheiden.



    Oh man und das von der taz.. Aber bei EU hab ich das Gefühl ist kein Medium objektiv, das ist echt schade, weil es eigentlich eine so große Chance ist.

  • "Der Kapitalismus bleibt aber unverstanden solange man ihn nicht als ein von Macht und Herrschaftsstrukturen freies "Wirtschaftssystem" versteht."



    Zu korrigieren in: .Der Kapitalismus bleibt aber unverstanden solange man ihn als ein von Macht und Herrschaftsstrukturen freies "Wirtschaftssystem" versteht.

  • "Rund 40 Prozent können sich den Jahresurlaub nicht leisten. Vierzig Prozent!"

    Das heißt, dass diese 40% ja auch 2-3 Wochen zuviel an Urlaubstagen haben. Diese 2-3 Wochen sollten sie besser arbeiten gehen. Dann klappt's wenigstens mit dem Gemüsekauf!

    (So wurde Macron wahrscheinlich auf diesen Artikel reagieren. 😁)

  • Wenn es nur um Armut ginge, wäre wohl Melonchon Präsident geworden oder zumindest gegen Macron in die Stichwahl eingezogen.

  • Wenn eine Rechte, die Einzige ist, [in der Stichwahl] die linke Wirtschaftspolitik anbietet, ist das für Viele halt das Kleinere Übel.

    Bei Trump war das ähnlich. Er hat im Wesentlichen dank Demokraten im Rustbelt gewonnen, die sonst Sanders gewählt hätten.

    Und die meisten Brexit-Befürworter, gerade in der vorm. "Red Wall" , machen Brüssel für den in England noch viel stärker gewüteten Neoliberalismus verantwortlich.







    Was im Falle des UKs eigentlich Schuld Londons ist. -Aber bei uns ist ein großer Teil der EU-Marktliberalisierung und Privatisierungsnötigung Schuld am Neoliberalismus und der Abkehr von dem sog. "Rheinischen Kapitalismus" (Soziale Marktwirtschaft) in D, F, und B/NL...(LUX hat dagegen den Binnenmarkt zur Steuerhinterziehungsbeihilfe bewusst für sich ausgenutzt; wie auch Irland) .

  • "Ohne eine stabile Mittelschicht wird es keine stabilen Demokratien geben."

    Die Mittelschicht möchte weniger Steuern zahlen und weniger Geld ausgeben müssen. Also genau das Gegenteil davon, was man bei linker Politik hat.

  • Ich stimme Frau Marinic ja meist eher nicht zu, aber den Artikel finde ich gut, weil er zu einfache politische Schemata hinterfragt: es reicht nicht zu sagen "EU gut" und "Achtung Rechts". Das ist als Konzept für die Zukunft deutlich zu wenig.

    Wo ich finde, dass Frua Marinic auch hier nicht recht hat ist, dass es am Ende auf eine einzige andere Frage hinausliefe: die des besseren wirtschaftlichen Ausgleichs.

    Frau Marinic selber klagt ja oft andere Themen an, wie etwa Rassismus oder kulturelle und sonstige Identitäten.

    Ich denke die "Wahrheit" ist, dass große Gesellschaften einfach keine Selbstläufer sind, dass es ziemlich viele Gründe gibt, warum Menschen sich gegenseitig eher ablehnen. Es ist eher die anzustrebende Kunst, als der nur durch krasses Fehlverhalten zu störende Normalzustand, eine Gesellschaft halbwegs zusammen und befriedet zu halten - denke ich.

  • Die Ungleichverteilung der Stimmen in Frankreich (Unterschied Stadt / Land), die exakt so ist, wie in den USA bei den Präsidentschaftswahlen legt nahe, dass die Sozialpolitik bzw. die wirtschaftliche Lage NICHT die Ursache ist. Auf dem Land sind nämlich ebenso wenig fast alle arm, wie in der Stadt nicht fast alle reich sind.



    Die Frage nach den realen Ursachen für die Ergebnisse in BEIDEN Wahlen ist AFAIK nach wie vor unbeantwortet

    • @Kaboom:

      Die sozialen Unterschiede sind in der Stadt wahrscheinlich größer, oder fallen zumindest mehr ins Auge. Hier der Superreiche, da der Obdachlose, hier das Villenviertel, dort die Hochhaussiedlung. Deshalb wählen die sozial benachteiligten Gruppen in Großstädten vermutlich eher links und die Bessergestellten gemäßigt konservativ bis liberal. Es fällt auf Dauer wohl etwas schwerer jeden Menschen im Alltag zu hassen, der eine andere Hautfarbe, Lebensentwurf oder Sexualität hat, wenn man diesen Personen tagtäglich begegnet. Vermutlich hat selbst der dümmste Berliner Neonazi schonmal feststellen müssen, daß auch dunkelhäutige Menschen fließend die deutsche Sprache beherrschen können.

      In der Dorfgemeinschaft spielt der Sohn des Bauunternehmers mit den Sohn des Bauarbeiters zusammen in der selben Fussballmannschaft. Reiche geben sich bodenständiger als in der Stadt, auch weil die Anonymität fehlt. Die sozialen Unterschiede innerhalb der Dorfgemeinschaft sind nicht im selben Maß offensichtlich. Ansonsten heiratet der Nachbarsohn die Nachbarstocher und alles geht seinen gewohnten Gang. Fremde stören da den ruhigen Alltag und wenn die Nachbarstocher lesbisch ist, dann bringt das den ganzen Plan durcheinander. Hat lange trotzdem mit den gemäßigten Konservativen funktioniert , aber die Welt im Umbruch gefährdet auch die homogene Hobbit-Gemeinschaft.

      Die sozialen Probleme für sozial Benachteiligte haben auf dem Land wie in der Stadt den gleichen Ursprung. Ob nun Sozialwohnungen in der Stadt wegfallen und die Mieten in der Stadt unbezahlbar werden, oder der Bus im Dorf nurnoch zweimal täglich fährt: es muss sich eben für die reiche Elite rechnen.

      Die Le Pens und Trumps und AFDler haben es aber super hinbekommen daraus eine gute Geschichte zu erzählen. Die Geschichte von der elitären, degenerierten Stadtbevölkerung gegen den natürlichen und geistig gesunden Landbewohner. Dieser Erzählung sollte unbedingt wiedersprochen werden

    • @Kaboom:

      Alles eine Sache von nicht geglaubten Werbeversprechen und verdrehten Wahlmotiven.

  • In Deutschland gelten 16 Prozent als arm, Tendenz steigend Zudem ist Deutschlands Niedriglohnsektor weitaus größer als der in Frankreich.

    Melenchon hatte kaum weniger Stimmen in Frankreich als Le Pen. Die Debatte findet also auch unter Einbeziehung von linken Positionen statt. Ich kann die Analyse im groben nachvollziehen und frage mich dennoch, ob hier nicht der Rassismus in Frankreich verniedlicht wird. Würde man die gleichen Argumente für AFD-Wähler gelten lassen und sind nicht genau diese rechtsradikalen Nebelkerzen einer Sachdebatte über Regulierungen im Weg?

    In Berlin sollte es unter Rot-Rot-grün einen Mietendeckel geben, gegen den geklagt wurde. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel einkassiert. Das wäre zum einen Bundessache und zum anderen nicht verfassungskonform. Wenn also ein Bundesland keine Handhabe mehr hat um die Mieten zu regulieren, warum soll es dann im noch viel zentralistischer regierten Frankreich die EU sein? Wieder so eine rechte Nebelkerze.

    Wobei die EU natürlich unbedingt transparenter und demokratischer gestaltet werden sollte. Nur wird das halt nie was, wenn die EU-Wähler ihre Rechten Deppen nach Brüssel schicken, weil sie darauf hoffen das diese dann die egoistischen interessen ihres Landes vertreten.

    Die Le Pens und Trumps dieser Erde, werden gewählt weil ihnen die demokratischen Institutionen egal sind. Nicht trotzdem sondern gerade deshalb, weil einem heutzutage absoluter Stillstand und der faulste Kompromiss als Demokratie verkauft wird. Diese Demokratie scheint handlungsunfähig gegenüber der Wirtschaft zu sein.

    Niemand muss die EU lieben um Grenzkontrollen, Mauern, Zäune und Nationalismus zu verabscheuen. Putin zeigt ausserdem warum eine EU ausserdem wichtig ist. Ansonsten müsste sich nun jeder europäische Staat der nicht Russland werden will, bei den USA möglichst gut stellen und darauf hoffen, das es den Amis nicht egal ist. Die EU ist auch ein Werkzeug zu Unabhängigkeit gegenüber den USA.

    • @Alfonso Albertus:

      Es stellt sich, links wie rechts des Rheins die Frage, wie Rassismus diskutiert wird. Der breit gepflegte Ansatz ist der "individualpsychologische" im Sinne von ein*e Wähler*in mit rassistischen, menschenfeindlichem Weltbild wählt Rassisten.



      Ist ja auch richtig.



      Und dann reden wir, aber schon seltener, von strukturellem Rassismus, ein Rassimus, der in irgendwelchen Strukturen verankert ist, gerne werden Sicherheitsstrukturen als problematisch erkannt.



      Wer aber redet über die im Kapitalismus eingewobenen Rassismen? Unser Kapitalismus verteilt Lebenschancen nach Hautfarbe, Geschlecht und in dieser Hierarchie stehen weiße Menschen ganz oben.



      Die BRD-Wirtschaft beutet systematisch osteuropäische Menschen aus, in den Schlachthäusern, auf den Feldern, hinterm LKW-Steuer ,auf dem Bau, in der Pflege. Unter Missachtung von Arbeitsschutz, Arbeitszeit und menschenwürdigem Leben.



      Diese Rassismen sind Grundlage kapitalistischen Wirtschaftens.

      Der Artikel verzichtet nur darauf, in die städtisch-bürgerliche Empörungsfalle zu laufen und die Wählerinnen und Wähler von Le Pen als dumme rassistische Landeier zu verunglimpfen. (War hier in der TAZ in den vergangenen Tagen schon häufiger in den Kommentaren so zu lesen.)

      Rassismus ist eben auch ein Welterklärungssystem, das die kapitalistischen Rassismen einsetzt mit dem Ziel einer einfachen Weltdeutung und einer besseren Positionierung der eigenen Gruppe innerhalb der kapitalistischen Hierarchisierung.

      • @Favier:

        Eine sozialpsychologische Analyse über Serienmörder, oder eine soziologische Studie über die Wählerschaft von rechtsradikalen Parteien ist eine Sache.



        Dabei geht man kühl und ohne moralische Wertung an die Angelegenheit heran.



        Ein persönliche Entschuldigung für deren Entscheidungen zu suchen wiederum etwas ganz anderes und die Vermischung von beidem ein Teil des Problems.

        Denn es sind rassistische Landeier die Le Pen und die AFD wählen und Sympathien völlig unangebracht. Wer Verständnis zeigt, der hält sich lediglich für etwas besseres und ist arrogant. Denn damit wird die freie Wahl und die Auffassungsgabe dieser Leute noch mehr unterschlagen als von den gerne gebashten Stadtbewohnern, die deren Rassismus einfach nur eklig finden und etwas entgegensetzen wollen. Vielleicht wolllen die elitären Stadtbewohner einfach nur deshalb etwas entgegensetzen, weil der eigene Partner/in, beste Freunde, Bekannte und Arbeitskolleg/innen Migrationshintergrund haben oder homosexuell sind? Vielleicht geht es auch hier nicht so sehr um elitären abgrenzen wie unterstellt wird, sondern ebenso um die persönliche Lebenslage?

        Aber weil die Stadtbewohner ja alle in grossen Villen wohnen, wenn man der rechten Landei-Erzählung folgt, wissen die natürlich alle nichts vom harten Landleben.

        Ich könnte mir vorstellen das so manch ein AFD und Le pen Wähler von dieser Analyse genauso beleidigt fühlt, wie von der bürgerlichen Empörung belustigt. Denn der "arme" Le Pen Wähler will vielleicht endlich in seinem Rassismus ernst genommen werden und diesen Gefallen sollte man ihm nicht tun.

        Der Kapitalismus ist übrigens nicht rassistisch. Dem Kapitalismus ist das alles egal, siehe Dubai, Japan oder Saudi-Arabien. Allerdings lassen sich kapitalistische Ungerechtigkeit und koloniale Strukturen wunderbar rassistisch rechtfertigen.

        • @Alfonso Albertus:

          Ein kurzer Nachschlag: Ursachenforschung und Sympathie / Verständnis sind zweierlei.

          Und zur Aussage: "Der Kapitalismus ist übrigens nicht rassistisch." Das verkennt den Kapitalismus. Der Kapitalismus ist ja kein naturgegebenes System. Die Menschen entwickelten sich Jahrzehntausende ohne Kapitalismus. Die Forschung sagt, dass der Kapitalismus ein sich entwicklender Lösungsweg aus den Krisen des niedergehenden Feudalismus war. Vor 500 Jahren vielleicht begann der Weg der Weltdurchdringung.



          Der Kapitalismus bleibt aber unverstanden solange man ihn nicht als ein von Macht und Herrschaftsstrukturen freies "Wirtschaftssystem" versteht. Oder vereinfacht formuliert: es gibt keinen "freien" Markt. Macht, Herrschaft und Politik entscheiden über Rahmen, in dem der Markt sich als "freier" feiern läßt.



          Und weil der Kapitalismus von Macht- und Herrschaftstrukturen geformt und durchzogen ist, sind in ihn auch Rassismen oder bspw. die Abwertung von sogenannter Frauenarbeit (bspw. Pflegearbeit) eingewoben.



          Diese "Ungerechtigkeiten" sind Teil der dem Kapitalismus notwendigen Externalisierung von Arbeit, die an anderen Stellen die Profitraten erhöhen. Unser gesamter Wohlstand beruht auch darauf.

  • Ich empfehle Thomas Piketty, "Kapital und Ideologie" als ergänzende Lektüre.



    Viele sehr eindeutige Analysen, wie sich seit den 80ern auf Grund politischer Entscheidungen, die eben auch durch die EU befördert wurden, die Vermögenskonzentration massiv verschärft hat, die Einkommensschere immer weiter aufgegangen ist.



    Das ist die ökonomische Basis des Erfolgs von Le Pen. Und Macron (und mit ihm die EU) stehen für genau diese Politik.

    Deutschland ist der franz. Entwicklung nur wenige Jahre hinterher.

  • Der globale Kapitalismus wird sich selbst auffressen. Die Zurückgelassenen und Abgehängten werden immer radikaler werden und damit überall autoritären Regimen an die Macht verhelfen. Auch in Europa werden sich die Menschen wieder bekriegen. Die Lösung, weg vom Turbokapitalismus hin zu Wohlstand auf niedrigem Niveau für alle Menschen wird nicht funktionieren, da es immer wieder Individuen geben wird, die mehr wollen.

    • @Gnutellabrot Merz:

      Die "Zurückgelassenen und Abgehängten" sind vor allem eines: Leicht beeinflussbar und sehr anfällig für Lügen. Ob Le Pen oder Trump oder auch Boris Johnson und seine Brexit-Kampagne.



      De gemeinsame Klammer all dieser Leute ist ständiges systematisches Lügen.



      Und die Anhänger kaufen das, ungeachtet der Möglichkeit, die Aussage in ein paar Minuten zu falsifizieren. Hat IMHO große Ähnlichkeit mit Sekten, was da passiert. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer.



      Nat man btw. ansatzweise hier in D auch schon gesehen. Bei dem Mumpitz, den Sarrazin verzapft hat. Die ersten positiven Bewertungen waren auf Amazon zu finden, bevor das (erste) Buch überhaupt ausgeliefert wurde

  • RS
    Ria Sauter

    Danke, auf den Punkt gebracht.



    Kanada allerdings ist kein gutes Beispiel.



    Leider wird Ihr Artikel, wie auch die "Rückkehr nsch Reims" nicht von den Entscheidern gelesen.

    • @Ria Sauter:

      Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ gilt doch nicht nur für Frankreich! Sondern bekam auch in anderen Ländern ein hohes Ansehen, weil es eine Milieu erzählt, das mit jeweils landestypischer Ausprägung weltweit so oder so ähnlich als Phänomen grassiert.

  • Europa hat für die sich öffnende Schere von Arm und Reich keine Lö­sun­gen.

    Könnte es daran liegen, das es keine Lösung gibt. It's not a bug, it's a feature.

    • @Gegenklang:

      Natürlich gibt es Lösungen, nur werden die von der Politik nicht verfolgt, weil es dann von der Finanzwirtschaft Gegenwind gibt.



      Unterbinden von Hochfrequenzhandel, von Spekulation mit Rohstoffen für Lebensmittel, Einschränken des freien Kapitalverkehrs, stopfen von Steuerschlupflöchern... alles Dinge, die nur denjenigen nutzen, die (zu) viel Geld haben.

  • Wir nennen sie immer noch Superreiche. Dabei entwickelt sich auch Frankreich zur Oligarchie. Mit stark militarisierten Polizeikräften gegen alles, was gegen die soziale Ungleichheit aufbegehrt. Unterstützt von Medien, die teilweise den Oligarchen gehören.



    In ganz Europa türmen sich Probleme auf, die nicht ansatzweise bearbeitet werden. Polizeigewalt, Sozialabbau, Kinder - und Altersarmut, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Niedriglöhne, Klimapolitik auf Kosten der Armen, Militarisierung statt Bildung und Demokratisierung. Und zusätzlich zur sich anbahnenden Klimakatastrophe jetzt auch noch Krieg überall auf der Welt. Nicht nur in der Ukraine.

    Im Gegensatz zu Deutschland hat Frankreich noch linke Intellektuelle. Zumindest welche, die noch zu Wort kommen. Und es hat nicht so biederbrave Bürger und Bürgerinnen. Zumal Frankreich die Chance hätte, dass der neoliberale Kurs irgendwann einmal von Linken beendet werden könnte. Das ist in Deutschland kaum denkbar.

    • @Rolf B.:

      Düstere Zeiten.

  • Ich glaube, dass es deutlich komplexer ist als diese einfach zugespitzten Thesen suggerieren.

  • Also Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ hab ich nicht gelesen. Aber alles andere was die Autorin schreibt, ist mir absolut kongruent. Eine stichhaltige Analyse. Bloss werden sie die Macrons dieser neoliberal versklavten Welt weder lesen, noch sich zu Herzen nehmen. Erst wenn der Weltfaschismus und seine Zaster-über-alles-Financiers Orwell´s Visionen radikalverwirklicht haben werden, wenn es also zu spät ist, wird diesen elitären Lakaien vielleicht ein Licht aufgehn.

  • "Europa hat für die sich öffnende Schere von Arm und Reich keine Lö­sun­gen"

    Es ist populistisch, Europa Versagen vorzuwerfen. Denn bisher hat kein Land für das Problem eine Lösung. Nirgendwo. Ausser massive Unterdrückung.



    Auch das erwähnte Kanada Beispiel ist keine Lösung. 1) sind in Kanada die Preise in den letzten Jahren stark gestiegen (wie überall). 2) ist das eine Absichtserklärung von Trudeau, keine reale Politik. 3) In dem verlinkten Artikel steht das Fazit, dass diese populistisch ist - weil Ausländern leichter was angehängt werden kann und massive Neubauten einen geringen Popularitätswert haben.

    Davon ab. Die politischen Auswirkungen der Schere in Frankreich sind besorgniserregend.

    • @fly:

      Doch, (West-)"Europa" hatte die, bevor der Vertrag von Maastricht Kapitalmarkt- und Niederlassungsfreiheit über soziale Errungenschaften und Sozialpolitik stellte.

      Die Norweger haben 94 genau deshalb den Beitritt abgelehnt (was im Wesentlichen Landwirtschaft und Fischerei betrifft) und so das verhindert, was zu selben Zeit dann in Finnland passierte (das 28% der Bauern aufgeben mussten).



      Der EU-Kommission galten übrigens Teile des Sozialstaates und die staatliche Erdölförderung als "Beitrittshindernis"...



      Auch heute noch hat N eine wesentlich ausgeglichener Landw.-Politik, als die auf Industrialisierung ausgerichtete EU-Landwirtschaftpolitik und insgesamt ist der ländliche Raum nicht so ausgeblutet.

      Island hat seinen Beitrittsversuch auch genau wegen zu geringer Lw-Standards der EU, wieder abgebrochen.



      Die Schweiz macht auch besseren Schutz von Kleinbauern und traditioneller Wirtschaftsweise. (Z.b. saisonabhängige Zölle) .

      Dänemark verhinderte Spekulation mit Ferienhäusern (und Ausverkauf an Reiche), dadurch, das sie per Volksabstimmung den Vert. v. Maastricht ablehnten und dann ein Zusatzprotokoll erzielten, dass die diesbezügliche Gesetzgebung beibehalten werden dürfte.



      Und genau so etwas bräuchte man auch in Venedig oder auf Rügen oder Sylt.

      Und das mit den Immobilien hat Jacinda Ändern 2017 in NZ an die Macht gebracht... 💁‍♂️💁‍♂️

    • @fly:

      Eine Problemlösung setzt den Willen dazu voraus. Den sehe ich europaweit nicht. Dementsprechend ist Versagen schon der passende Ausdruck.