Jubiläum von Nirvanas „Nevermind“: 30 Jahre „Vergiss es einfach“
Am 24. September 1991 erschien „Nevermind“. Das zweite Album der US-Band Nirvana hat sich bis heute 30 Millionen Mal verkauft. Ein paar Erinnerungen.
Vielheit der Wünsche, Straucheln der Feinfühligen
Aus Gründen der Distinktion ziemt es sich ja für Kinder der Achtziger, zu behaupten, dass man „Nevermind“ in der Nuckelflasche hatte, von der Nirvana-Milch genährt wurde. Echte Musikliebhaber:Innen haben geweint als Cobain sich 1994 das Leben genommen hat – ich aber nicht. Tatsächlich hieß der Rock, der in meinem Elternhaus lief, nicht etwa Grunge, sondern Latin (Santana); statt Cobain hörte meine Mutter Take That und Gary Barlow. Mein Vater trug einen Schnäuzer, auch wegen Freddie Mercury von Queen. In meinem Fernseher gab es Eurodance/-Trash, Techno und Bravo TV. Ganz ehrlich: Mein Leben wurde nicht von Nirvana verändert – jedenfalls 1991 noch nicht. Auch bei meinen ersten Jugenddisko-Erfahrungen, dann auf Kufen in der Eishalle, war keine Spur von Dave Grohl, nichtmal von Hole. DJ Navid spielte 2-Step, Craig David und den „Thong Song“, während wir alle Leuchtmittel-Fischköder im Mund jonglierten.
Call me a Late-Bloomer, aber Nirvana tauchte erst in den Parks auf, die wir nach der Schule Mitte der 1990er besiedelten. Meine Schulkolleg:Innen rauchten Gras, spielten das MTV-Unplugged-Konzert von Nirvana rauf und runter, wir alle sangen dazu. Hippie-Dreams im Grunge-Gewand. Während aber MTV auch etliche Male eine Sendung namens „On Drugs“ ausstrahlte, in der die Lebenskrise von Kurt Cobain nachgezeichnet wurde – mehr Karikatur als liebevolles Porträt –, hörte ich halt Propaghandi, Black Flag, „richtigen Punk“.
Mit 21 schlitterte ich in eine schwere depressive Episode, bekam Angstzustände – und der Sound von Nirvana und ihrem Album „Nevermind“ entfaltete seine ganze Bedeutung. Hinter dem Mythos Cobain, der uns jahrelang durch die Medien vermittelt worden war, erschien der gefühlvolle Songwriter, der hadernde Mensch, der unter psychosomatischen Schmerzen litt – kein verrrückter Drogensüchtiger, sondern ein … Vorbild after all?!
Nirvana waren eine Band, die in ihrer Existenz von Anfang an um Freiheit und um die Vielheit der Wünsche, der Begierde, der Liebe kämpfte – und in dieser Welt, die so eingerichtet ist, einfach nicht glücklich werden konnte. Novoselic, Grohl und Cobain waren der Beweis, dass feinfühlige Menschen besonders häufig straucheln, dass sie das Gefühl haben, gestraft zu sein; vor allen Dingen aber, dass es irgendwie auch okay ist, an Depressionen zu leiden – nicht gut, aber okay! (Lars Fleischmann)
Süße Momente kennzeichnen Liebe zum Pop
Wenn es eines gibt, das viele jugendliche, unverstandene Nirvana-Fans gewaltig empören dürfte, dann wäre es wohl: die Behauptung, dass „Nevermind“, der wichtigste Wutausbruch der 1990er Jahre, der heilige Gral des heiligen Ernstes, eigentlich ein Popalbum ist.
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Nirvana – Come as you are
Geht es um „Nevermind“, bleibt selten unerwähnt, dass das Album wenige Wochen nach Veröffentlichung im Januar 1992 symbolträchtig Michael Jackson von der US-Chartspitze verdrängte. Denn „Smells Like Teens Spirit“, so wollten und wollen es viele sehen, fegte gleich zwei Relikte der 1980er hinweg: Stadionrock und Hochglanzpop – alles Aufgeblasene also. Und mit mindestens der Hälfte dieser Annahme tut man dem Album sehr unrecht. Während nämlich der erklärte Feminist Cobain – trotz oder gerade wegen seiner exponierten Rolle in der brünftigen Grunge-Bewegung – immer wieder versuchte, klassische Männlichkeitsbilder im Rock zu unterlaufen, den saturierten Gitarrendudes seiner Jugend also durchaus den Kampf ansagte, machte er nie ein Geheimnis aus seiner Liebe zu Pop, Verspielt- und Weichheit. Immer wieder nutzte er seine Reichweite, um für Bands wie die sanften Mazzy Star oder die Vaselines zu werben.
Auch das zentnerschwere „Nevermind“ hat seine süßen und leichten Momente. So erbarmungslos Songs wie „Stay Away“ und „Breed“ losprügeln, so unüberhörbar ist der Pop-Appeal von „Drain You“ (und ja, auch „Smells Like Teen Spirit“). Der fuzzy Sound des Nirvana-Debütalbums „Bleach“ wurde von Butch Vig, der sich mit „Nevermind“ als Produzent unentbehrlich machte, zum großen Paradoxon zurechtproduziert: Es war polierter Schmutz, ein Album der zwingenden, verführerischen Songs, vermarktet mit einem Titel wie ein müdes Abwinken: „Nevermind“ – zu Deutsch: wie auch immer, vergiss es, schon gut.
Was im Kult um den Nihilismus des Albums oft übersehen wird, ist der Witz an der ganzen Weltschmerz-Chose. Der offenbart sich zum Beispiel, wenn Cobain in „Lithium“ seinem Lamento über die eigene Hässlich- und Grässlichkeit einen Refrain folgen lässt, der so doof ist, dass niemand völlig ernst bleiben muss: Yeah, yeah, yeaaaaaah.
Allerdings täuschte der Pop, die Eingängigkeit von „Nevermind“ im Gegenzug auch über das verstörende Potenzial vieler Songs hinweg. Sei, wie du sein willst, ermutigt Kurt Cobain sein Gegenüber warm im ikonischen „Come As You Are“ – ich schwöre, dass ich keine Waffe habe. Unheimlicher sollten Treueschwüre zur besten MTV-Sendezeit nicht mehr werden. (Julia Lorenz)
Hang zu Strickjacken, Hang zum Weltschmerz
Nicht behaupten kann ich leider, dass die Veröffentlichung von „Nevermind“ im September 1991 besonders viel Eindruck auf mich gemacht hätte. In meiner Grundschulklasse stand eine andere Band weit höher im Kurs, die nur eine Woche zuvor ein Album, besser gesagt: ein Doppelalbum veröffentlicht hatte: Guns 'N’Roses beziehungsweise „Use Your Illusion I & II“ liefen bei mir vor 30 Jahren auf dem Kassettenrekorder und CD-Player rauf und runter. Auf beidem, denn ich hatte „Use Your Illusion I“ noch auf Kassette, „Use Your Illusion II“ war meine erste eigene CD. Als Entschuldigung für diese Ignoranz kann ich eigentlich nur mein junges Alter vorbringen.
Ziemlich bezeichnend ist es retrospektiv, dass diese zwei – oder drei – Alben quasi zeitgleich veröffentlicht, auf demselben Label sogar, ein merkwürdiger Moment in der Rockgeschichte, in der sich Vergangenheit und Zukunft des Genres die Klinke in die Hand gaben. Guns N’Roses waren mit ihrem kommerziellen, röhrenden Glam eigentlich noch ein Überbleibsel der 1980er, mit ihren vor Haarspray klebrigen Mähnen, ihren Bandanas, ihren Lederwesten auf dem nackten Oberkörper, mit ihren jaulenden Gitarren, ihrer Höhlenmenschenattitüde, ihrem Machismo.
Nirvana waren anders schlecht frisiert, brachten vor allem eine völlig neue Sichtweise auf das Leben wie das Musikbusiness mit – und modisch eine Vorliebe für Ringelshirts, ausgeleierte Strickjacken und bescheuerte Sonnenbrillen aus dem Secondhandladen. In ihrem Hang zur Selbstzerstörung ähnelten sie sich dann aber wieder gewissenmaßen, nur dass diese bei den einen auf Exzess, bei den anderen auf Weltschmerz gründete. Axl Rose, so heißt es, sei anfangs sogar Fan von Nirvana gewesen.
Im Video zu „Don’t cry“, dem ersten Teil der ikonisch-überfrachteten Musikvideotrilogie von Guns N’Roses, ist er mit einem himmelblauen Nirvana-Basecap zu sehen, in der Szene, in der Supermodel Stephanie Seymour die Therapeutin mimt, liegt es neben Rose auf der Couch. Cobain erwiderte diese Liebe jedoch nicht. Einladungen zur gemeinsamen Tour schlug er aus, bezeichnete Guns N’Roses als sexistisch – zu Recht, zweifellos. Der Streit eskalierte 1992 bei den MTV Video Music Awards, was sich auf zahllosen Fanseiten im Netz nachlesen lässt. Wann genau ich selbst ins Nirvana-Lager wechselte, kann ich nicht wirklich datieren, wahrscheinlich ungefähr zu dieser Zeit. Jedenfalls stellte ich noch vor „In Utero“ – dem Album nach „Nevermind“ – fest, dass Grunge sich sehr viel besser als Soundtrack für meine präpubertäre Melancholie eignete. „Use Your Illusion I & II“ verstaubten seitdem. (Beate Scheder)
Schrilles Feedback verebbt in medialer Dauerschleife
Viel deutlicher als die unangenehm patriotischen Bilder der Wiedervereinigung habe ich Kurt Cobain vor Augen, mit Gitarre zwischen Verstärker und Mikrofon auf der Bühne hin und her torkelnd, im November 1989, als Nirvana in einem Landgasthof tief in Niederbayern gastiert hatten. Statt Dave Grohl trommelte noch Chad Channing, Nirvana spielten ihre Songs ohne viel Federlesen, die metallische Härte und das schrille Feedback taten weh. So laut wie an jenem Abend muss sich das Purgatorium anfühlen.
Zum Majorlabeldebüt „Nevermind“ pflege ich dagegen ein Nichtverhältnis. Es wurde mir als Promotionexemplar zugesandt, oft gehört habe ich es nicht. Der Auftaktsong „Smells like Teenspirit“ lief damals pausenlos im Radio, das dazugehörige Video bekam bei MTV Powerplaystatus. Der PR-Rummel war enorm. Die Band sei ein „Flotter Dreier“, der „knallharte Hardrock-Riffs mit Punkdynamik“ verknüpft, meint der Waschzettel der deutschen Plattenfirma BMG eklig ironisch, die Attitude von Nirvana sei „Hardrock-Punk mit Pop“.
Rein musikalisch betrachtet war diese Mixtur anlässlich der Veröffentlichung im September 1991 nicht mehr de rigeur. Anders als beim Konzert knapp zwei Jahre zuvor klang Cobains Gesang gefühliger und seine Stimme war prominenter im Mix. Vorher übertönte ihn das Berserkern der Instrumente. Cobain blieb so als Person unnahbar. Auf dem Debütalbum „Bleach“, veröffentlicht vom Indielabel Sub Pop, ist nur ein Negativ der Band abgedruckt, man sieht Haare und Gitarren. Durch „Nevermind“ bekam Cobain ein Gesicht.
Der britische Kulturkritiker Jon Savage konstatierte, dass Punk in den USA erst durch den Mega-Erfolg von „Nevermind“ mit großer zeitlicher Verspätung landesweit zum Mainstream-Phänomen werden konnte. Anders als bei der Skandalisierung der Sex Pistols als maskuline Antihelden im Großbritannien von 1976 sorgte 1991 die Apathie der Künstler für Aufsehen. Nirvana waren keine stachelhaarigen Alphamännchen, sondern softe, androgyne Hänger. Ihre Aggression war passiv.
Nirvana-Songs läuteten das Ende von machistischem Rock ein. Allerdings erzeugte die mediale Dauerschleife bei den Künstlern Stress. Damals hieß es, sie säßen am liebsten auf dem Sofa, tränken Dosenbier und schauten Wiederholungen von Trash-TV-Serien. Plötzlich waren sie selbst zur Primetime im Fernsehen, und dieser Transfer ging nicht glatt.
Mit ihrem Wechsel vom Indielabel Sub Pop zum Plattenmulti Geffen wurde aus der ökonomischen Bezeichnung Indie plötzlich „Alternativesound“ im Mainstream. Die Vermarktungsmaschinerie war unerbittlich und beschleunigte die Selbstzerstörung von Kurt Cobain. (Julian Weber)
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