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Politisches Schachern um AfghanistanSchämt euch!

Unaufmerksamkeit und Desinteresse gingen der menschlichen Katastrophe in Kabul voraus. Erschwerend kommt jetzt noch deutsche Bürokratie dazu.

Ein Baby wird im Chaos der flüchtenden Menge den US-Soldaten hinaufgereicht. Kabul am 19. August Foto: Omar Haidari/ap/dpa

N och während ich diese Kolumne schreibe, erklärt Bundesaußenminister Heiko Maas: „Die Zeit wird nicht ausreichen, alle auszufliegen, die wir ausfliegen wollen.“ Man stelle sich diesen Satz als Bildunterschrift der Bilder vor, die seit Tagen in den Medien kursieren.

Unter Eltern, die ihr Baby in die Hände von Soldaten geben, ganz gleich, was kommt, unter Bilder von Journalisten, die Strafe der Taliban fürchten für ihre Berichterstattung, unter Bilder von Menschen, die sich aus Verzweiflung lieber an ein Flugzeug hängen, als bei den Taliban zu bleiben, weil sie dort nur zur Trophäe werden könnten für den Sieg, den die Taliban gegen die Freiheit errungen haben.

Seit bald zehn Tagen sehen wir die Bilder dieser humanitären und militärischen Katastrophe, und man weiß leider, dass die Wohlstandsverwahrlosten, die Freiheit so wertvoll finden, bald schon keine Kraft mehr haben werden für das Elend der anderen. Es wird schnell zu viel sein, neben den eigenen Sorgen noch an Menschen zu denken, die so weit weg im Elend leben.

Dorothe Piroelle
Jagoda Marinić

ist Schrift­stellerin, Dramatikerin und Kolumnistin. Sie lebt in Heidelberg und ist Mitglied des PEN-Zentrums. Ihr letztes Buch „Sheroes. Neue Hel­d*in­nen braucht das Land“ erschien 2019.

Es liegt nun an jedem von uns, den Regierenden klarzumachen, dass wir repräsentative Demokratie nicht so verstehen, dass man in unserem Namen Menschen in Kriegsgebieten zurücklässt. Die Bundesregierung schafft seit zehn Tagen einmal mehr ein bürokratisches Chaos, wie bei so vielen Themen, wo es am Ende mehr Papier als Lösungen gibt. Doch hier geht es um Menschenleben. Schnell wurde bekannt, dass Menschen, die gerettet werden müssen, auf Listen kommen sollen.

Triage auf dem Flughafen

Wie sie aber zum Flughafen kommen sollen, dafür fühlte sich die Bundesregierung zunächst nicht zuständig. Es begann ein Schachern um den Status, nach dem die Bundesregierung verantwortlich sei: Festangestellt oder nicht, weisungsgebunden oder nur bei Subunternehmen angestellt, dieselbe perfide neoliberale Logik wie auch hierzulande:

Bei Corona versuchten wir, den Ärztinnen eine Triage zu ersparen. Was in Kabul abgeht, ist eine Triage zum Quadrat.

Dienstleistungen von Menschen zu erkaufen und ihnen als Arbeitgeber gleichzeitig so wenig Verbindliches wie möglich bieten zu müssen, diese ohnehin unmenschliche Logik wollte man kurzerhand auch in eine Situation übertragen, in der Krieg herrscht, wo es ums Leben oder Tod geht: Wir haben keine Fürsorgepflicht für dich, du warst ja nicht weisungsgebunden, auch wenn du uns die letzten Jahre geholfen hast.

Wer wird gerettet? Und wie? Die WDR-Moderatorin Isabel Schayani, der wir, so wie Natalie Amiri, wichtige Informationen über die Lage in Afghanistan verdanken, setzte vor vier Tagen einen Tweet und fasste damit die Doppelmoral der Bundesregierung zusammen: „Bei Corona versuchten wir alles, um den Ärztinnen eine Triage zu ersparen. Zu Recht. Was da in #KabulAirport abgeht, muss Super-Selektion sein. Triage zum Quadrat. Überleben der Stärksten. Die armen Menschen, die da Listen führen und entscheiden, wer mitkommt und wer nicht.“

„Die Zeit wird nicht ausreichen, alle auszufliegen, die wir ausfliegen wollen“, sagt Heiko Maas. Unterdessen fürchten Frauenrechtlerinnen um ihr Leben und mit ihnen viele deutsche Hilfsorganisationen. Innenminister Horst Seehofer bestritt, es dürften alle kommen, ohne Bürokratie, während Frauenorganisationen warten und nicht wissen, wie das Kommen umgesetzt werden kann.

Auch die internationale Frauenorganisation Medica Mondiale, die sich noch in Zeiten des Krieges in Ex-Jugoslawien gegründet hatte, weiß immer noch nicht, wie es weitergeht. Deren Gründerin, die Ärztin Monika Hauser, erklärte mir gegenüber: Unsere Kolleginnen können nicht raus aus Afghanistan, weil es immer noch keinen gesicherten Korridor gibt. Selbst wenn sie es zum Flughafen schaffen, ist nicht klar, ob sie das Flugfeld betreten dürfen.“

Warnungen schlicht ignoriert

Müsste es nicht so laufen, dass die Bundesregierung auf die Menschenrechtsorganisationen zugeht, statt dass sich jede einzeln durch den Apparat kämpfen muss, um zu erfahren, wie es weitergeht? In einer funktionierenden Demokratie kann die Zivilgesellschaft nicht nur in die Pflicht genommen werden, man kann nicht Projekte vergeben an Träger, die dann vertrauensvoll Entwicklungsarbeit leisten, um im Notfall machtlos dazustehen und den eigenen Leuten sagen zu müssen, dass man von der eigenen Regierung nicht mehr unterstützt wurde?

Marcus Grotian vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte hat mehr für die Aufklärung über die Arbeit der Bundesregierung getan als jedes Ministerium. Die Transparenz über das Handeln und Scheitern in den Ministerien scheint den Regierenden kein Bedürfnis zu sein. Grotian berichtet von Unterlassungen, mit denen er umgehen musste, seit er Menschen aus Afghanistan retten will. Er bot dem Bundeskanzleramt seine Hilfe an, weil die Ministerien sich gegenseitig blockierten und zu lange brauchten.

Er erhielt keine Reaktion, keine Antwort. Man muss danach fragen, ob sich noch jemand schämt. Wer kann eine Mail von Marcus Grotian lesen und einfach nicht darauf antworten? Repräsentative Demokratie ist Politik im Namen des Volkes. Wenn Privatleute ein persönliches Wertesystem haben, dass es ihnen ermöglicht, solche Mails auszusitzen, fein. Mein Beileid. Aber nicht als Amtsträger, nicht als jemand, der Verantwortung übernommen hat. Das Leid in Afghanistan ist Konsequenz eines internationalen Scheiterns, ja.

Doch in Deutschland wird es zunehmend zu einer Vertrauensfrage zwischen Bundesregierung und Zivilgesellschaft. Selbst wenn die internationalen Geheimdienste versagt haben – Menschen wie Marcus Grotian hatten frühzeitig Alarm geschlagen, weil sein Verantwortungsgefühl für die Menschen größer zu sein scheint als das jener, die die politische Verantwortung tragen.

Vor der Bundespressekonferenz warf er am Dienstag der Bundesregierung „unterlassene Hilfeleistung“ vor. Man muss jetzt den Regierenden deutlich machen: „Nicht in unserem Namen!“

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18 Kommentare

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  • Das Geschehen in Afghanistan ist eine Tragödie, die Staaten sind aber doch auch die Getriebenen der Situation. Die ausländischen Streitkräfte wurden schon nach wenigen Jahren als Besatzer und nicht als Befreier wahrgenommen worden. Viele zivile Kräfte haben sich neutral verhalten. Das wäre in einem Krieg unter Einhaltung des Kriegsrechts (schrecklich das es so etwas gibt) in Ordnung. Die Taliban führen aber keinen Krieg, sondern sind Terroristen die keinerlei Gnade kennen. Es ist leider nicht gelungen in Afghanistan eine wehrhafte Zivilgesellschaft entstehen zu lassen. Dabei erscheint mir die Aussage von Herrn Röttgen wichtig, der dieses Chaos einer verfehlten Abzugspolitik der Amerikaner anlastet. Die Europäer plustern sich auf, sind aber militärische Papiertiger. Die ohne Amerikaner nicht handeln können. Bei aller Kritik wird aber mittlerweile bekannt das schon in der Vergangenheit Ortskräfte ausgeflogen wurden.

  • "Beerbock bitte übernehmen sie!"

    Das wäre vielleicht auch ganz lustig. Ich würde aber Baerbock bevorzugen :-)

  • Die Geheimdienste haben nichts übersehen. Frankreich hat von April bis Juli die meisten seiner Kräfte evakuiert. Sie jetzt zum Buhmann zu machen, ist wirklich dreist. Der Wahlkampf und die Angst vor der AFD haben offenbar das Denkvermögen komplett außer Kraft gesetzt. Beerbock bitte übernehmen sie!

  • Die Regierung hat diesen Organisationstalenttest nicht bestanden. Der Nachtwächterstaat hat mal wieder sein typisches Gesicht gezeigt. Nicht umsonst wird Deutschland wohl auch wegen seiner überbordenden Bürokratie mit Schlafmütze auf dem Kopf karikiert.

  • Ich frage mich (und jede/n einzelne/n unserer Politiker/innen), von welchem Menschenbild geleitet sie ihre Entscheidung trafen, die ihnen erlaubte, solch eine unglaublich beschämende Haltung an den Tag zu legen. Ja, ich schäme mich für sie, wenn sie es schon nicht selbst zu tun imstande sind. Und -

    Nicht in meinem Namen!

    Ich wünsche allen, denen es als Wahlberechtigte ähnlich geht wie mir, dass ihre Wahlentscheidung geleitet wird von der Empörung, der Enttäuschung und dem nachfühlbaren Schmerz, der Todesangst der im Stich gelassenen Menschen und sie sich dabei für die Parteien die dafür verantwortlichen Politiker vor Augen führen.

    Wir wollen Politiker, die uns repräsentieren als Menschen, als mitfühlende und menschliche Wesen, als diejenigen, die sich und ihren Kindern wünschen, ebenfalls nie abgewiesen zu werden. Denn auch wir sind nicht gefeit, dasselbe einmal erleben zu müssen. Wir hatten solches schon einmal in unserem Land und beteuern heute Anstand und Moral bei jeder Gelegenheit. Wie würden wir mit der Verachtung der heute von uns so kalt Zurückgelassenen künftig umgehen?

    Die derzeitigen Politiker sind nicht mehr tragbar, weil ihre Haltung und Handlungen unerträglich sind. Ich schäme mich vor den Menschen, die an uns und unsere Werte geglaubt haben und gebe Menschen wie Herrn Grotian gerne Stimme und Unterstützung, denn solche Personen geben ihnen Würde und Achtung im Sinne unseres Grundgesetzes zurück.

    • @noevil:

      Ganz meine Meinung!

  • „Unaufmerksamkeit und Desinteresse gingen der menschlichen Katastrophe in Kabul voraus.“

    Und nicht zu vergessen die „uneingeschränkte Solidarität mit den Vereinigten Staaten“ eines Bundeskanzlers Gerhard Schröder und Konsorten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York. Dicke Hosen im Wind.

    Marcus Grotian wirft der Bundesregierung „unterlassene Hilfeleistung“ vor. Nach allem, was bislang aber bekannt geworden ist, kann man doch nicht mehr von einem Fehlverhalten auf dem Level einer Ordnungswidrigkeit sprechen, sondern muss ganz klar von Fahrlässigkeit und Vorsatz ausgehen.

  • Wie üblich macht sich die Autorin des Artikes nicht die Mühe, ihre Forderungen bis zum Schluss zu durchdenken. Am Ende haben einzig die Amerikaner die Möglichkeiten eine Evakuierung durchzuführen und zu sichern, aufgrund hrer militärischen Fähigkeiten. Wenn die Amis rausgehen, müssen alle anderen und insbesondere die Deutschen mit. ich nenne nur Transportkapazitäten, KSK nicht einsatzbereit, kein MedEvac usw.



    Eigentlich müsste die Autorin eine massive Aufrüstung befürworten.

    • @Gerald Müller:

      Klar können die deutschen Soldaten nichts mehr ausrichten, wenn die US Truppen nicht mehr da sind. Das Problem ist, dass nicht schon viel früher, begonnen wurde, mit der Evakuierung.

      20.000 Liter Bier und ein mehrere Tonnen schwerer Stein als andenken mitnehmen aber den Ortskräften sagen, sie sollen die Ausreise bitte selbst organisieren und bezahlen?

    • @Gerald Müller:

      Nein. Das Versagen begann vor Monaten, als noch alle Möglichkeiten da waren, die Menschen rauszubringen. Man wollte aber nicht.

  • Bei dem Thema herrscht gerade unglaublich viel Selbstgerechtigkeit und gegenseitige Schuldzuweisungen. Was wäre eigentlich gewesen, wenn Maas vor einem halben Jahr gesagt hätte, dass wir damit beginnen müssten die örtlichen Helfer zu evakuieren. Die Diskussion hätte ich nicht erleben wollen. Bei 1000 oder 2000 Menschen wäre es vielleicht noch ruhig geblieben, bei 5000 oder 10000 ganz sicher nicht mehr. Da hätten auch die Bilder als Argument gefehlt. Jetzt hat man die Bilder und jetzt tut man so als hätte man zu wenig Zeit, ausgeblendet hätte man aber auf jeden Fall diejenigen, die man nicht sieht, die man auch jetzt nicht sieht, die man aber so oder so den Taliban ausliefert, einfach weil man keine Möglichkeiten hat ihnen zu helfen. Derweil sagt in Deutschland die Linke "jein" zu humanitären Bundeswehreinsätzen, Merkel erklärt uns, dass die Taliban Realität seien und manche Meinungsmacher genieren sich nicht, sich über Verhandlungen mit den Taliban zu empören. "Schämt euch!"? Ja, kann man sagen, aber dann sollten sich eine ganze Menge mehr Leute schämen und nicht nur die paar Politiker, die uns jetzt so unschön mit den Konsequenzen unseres Desinteresses behelligen.

    • @Benedikt Bräutigam:

      Sogar Gauland hat vor ein paar Tagen in ntv gesagt, dass man die Ortskräfte rausbringen muss. Wovor also diese jämmerliche Angst?

  • Was die Autorin noch vergessen hat zu erwähnen: Im Bundestag gibt es eine Partei, die selbst dem laufenden humanitären Rettungseinsatz der Bundeswehr nicht zustimmen will, so unzulänglich er auch sein mag... Es ist DIE LINKE.

    Die einen beharren auf ihren bürokratischen Hürden, die andern auf ihren ideologischen. Menschenverachtend ist beides.

  • Zitat: „Es liegt nun an jedem von uns, den Regierenden klarzumachen, dass wir repräsentative Demokratie nicht so verstehen, dass man in unserem Namen Menschen in Kriegsgebieten zurücklässt.“

    Na, da bin ich ja mal gespannt! Den Regierenden klar zumachen, dass „wir“ repräsentative Demokratie nicht so verstehen, dass man in unserem Namen Menschen in Kriegsgebiete entsenden bzw. abschieben kann, ist „uns“ ja auch schon ganz prima gelungen, richtig?

    • @mowgli:

      In ein paar Wochen ist Wahl. Trauen Sie sich.

  • Vor den Gewehrläufen der Taliban knapp fünftausend Menschen gerettet. Der Dank: "Schämt euch.". Versteht man nicht.

    "dass wir repräsentative Demokratie nicht so verstehen, dass man in unserem Namen Menschen in Kriegsgebieten zurücklässt. "

    Gut, dann kämpfen wir uns wieder einen Weg frei, ohne die Amis? Oder sollen wir den Taliban Milliarden schenken, wie Erdogan?

    • @Wonneproppen:

      Das diese Situation überhaupt entstanden so ist, liegt am Handeln der NATO Regierungen. Jeder Mensch mit einem Funken Verantwortungsgefühl evakuiert ERST gefährdete Zivilisten und DANN das Militär. Unsere Häuptlinge haben es anders gemacht, weil sie so wenig wie möglich Afghanen in Land haben wollen.

      Ach ja. Bier haben wir rechtzeitig evakuiert. Das sagt eigentlich alles über die "Werte" für die unsere Regierung steht.

  • Schämt euch?

    Was für eine verharmlosende Schlagzeile, wenn es buchstäblich um Leben und Tod gibt. Aber so handhaben es die Selbstgerechten, sie fordern die anderen auf, sich zu schämen. Dabei machen bei diesem tödlichen Spiel doch längst alle mit. Für die Toten im Mittelmeer schämt sich da schon niemand mehr. Und das Elend auf der Balkanroute und diese unsäglichen Lager im Libanon und der Türkei.



    Hört auf andere aufzufordern sich schämen zu müssen und packt endlich an. Was wir brauchen ist ein grundsätzliches Umdenken in der Asylpolitik. Da sind Luftbrücken, vereinfachte Visaverfahren und offene Grenzen schon der erste Schritt. Es muss aber weitergehen. Wir müssen diese heruntergekommenen Lager und Heime in Deutschland endlich schliessen und die Menschen angemessen unterbringen. Handeln statt "andere sollen sich schämen+