Coronabekämpfung in Taiwan: Verwunderter Blick auf Deutschland
Liya Yu kann überall einkaufen. Timo geht zur Schule. Beide sind nach Taiwan gezogen. Einen Lockdown hat es dort nie gegeben.
S eit mehr als einem Jahr läuft das Leben von Liya Yu fast so ab, als gäbe es kein Corona. Sie bringt ihren Sohn jeden Tag zur Schule, kann überall einkaufen, Ausstellungen besuchen, Freunde in Cafés und Restaurants treffen. Es gibt keine Kontaktbeschränkungen, keinen Lockdown, und die Sieben-Tage-Inzidenz liegt quasi bei null.
Wäre Liya Yu in Berlin geblieben, sähe ihr Leben anders aus. Doch die deutsche Politikwissenschaftlerin zog im März 2020 mit ihrer Familie nach Taipeh. Wie die Deutschen sich durch die Pandemie quälen, bekommt sie ebenso wie die 23 Millionen Einwohner von Taiwan nur noch indirekt und aus der Ferne mit, und oft kann sie kaum fassen, was sie da erfährt.
In Taiwans Hauptstadt lebt in einem Viertel an den Hängen des Yangming-Berges am Nordrand der Stadt Timo Heike. Der 13-Jährige besucht hier seit Februar die siebte Klasse, mit ganz normalem Präsenzunterricht. Als der deutsche Lockdown ihn im Frühjahr 2020 ins Homeschooling zwang, wich er mit seiner Schwester von der Mutter in Oldenburg für einige Monate zum Vater nach Taipeh aus. Die Familie pendelt ohnehin häufig beruflich und privat zwischen den beiden Ländern. „Am gleichen Tag hieß es, wir müssen los, packen, und let’s go“, erinnert Timo sich mit der Abgeklärtheit eines interkontinentalen Pandemie-Veteranen.
Im zweiten Lockdown im Januar saß Timo wieder vor dem Rechner im deutschen Kinderzimmer, noch immer war die Einwahl in den Schulserver unerträglich langsam und keine Besserung in Sicht. Und wieder flog er nach Taiwan, diesmal alleine. Hier musste er zwei Wochen in Heimquarantäne. Schließlich ist Deutschland, wie fast der ganze Rest der Welt, für Taiwan ein Risikogebiet.
Die Entscheidung für Taiwan
Dass es so schlimm wird, konnte Mitte März vor einem Jahr auch Liya Yu noch nicht absehen. Bundesligaspiele waren gerade erst abgesagt worden, Deutschland blickte entsetzt auf Italien, hatte aber selbst noch keinen Lockdown. Am 11. März erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Corona zur Pandemie. Sieben Wochen zuvor hatte China die Metropole Wuhan abgeriegelt. „Danach konnte niemand auf der Welt sagen, dass man nicht vorgewarnt war“, sagt Yu heute. „Für diese Nachricht musste man offen sein.“
Doch während sie erlebte, wie Berlins chinesische Community aus Vorsicht Chortreffen und Sportgruppen absagte, schien Corona für den Großteil der Deutschen noch ganz weit weg zu sein. „Es hat mir Sorgen gemacht, dass die Regierung so zögerte“, sagt Yu. „Sollen wir Schulen schließen oder nicht? Das war mir alles zu verwirrt und chaotisch.“ Den Ausschlag gaben ihre Eltern, die aus China stammen, aber auch in Taiwan leben. Am 13. März hieß es: Wir fliegen. Kommt ihr mit?
Nein, sagte Yu zunächst, die erst vor Kurzem mit Mann und Sohn aus dem Ausland nach Berlin gezogen war, wir bleiben. Doch dann erschien Taiwan ihr doch als sicherster Ort. Ein paar Stunden später packten sie ihre Koffer, saßen noch am selben Tag im Flugzeug und erreichten Taiwan, wenige Tage bevor man sie ohne Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr ins Land gelassen hätte. Am Vortag ihrer Abreise meldete Deutschland, am anderen Ende der Welt von Wuhan aus, die 2.369. Corona-Infektion und den sechsten Todesfall. In Taiwan, nur 160 Kilometer vor Chinas Südostküste, waren es 49 Infizierte und ein Toter.
Der entscheidende Unterschied: Taiwans Behörden waren gut vorbereitet, früh alarmiert und handelten konsequent. Während der Rest der Welt Corona mit 2020 verbindet, begannen Taiwans Vorbereitungen schon am Ende des Vorjahrs. Am 31. Dezember ließen Chat-Nachrichten des später an Corona verstorbenen Arztes Li Wenliang aus Wuhan in Taiwan die Alarmglocken läuten. Am selben Tag gingen Experten an Bord gerade in Taipeh gelandeter Flugzeuge aus Wuhan und kontrollierten die Passagiere auf verdächtige Symptome. Als Taiwan am 27. Januar seine erste inländische Infektion verzeichnete, meldete Bayerns Gesundheitsministerium gerade den allerersten Fall in Deutschland.
Karneval in Deutschland, Masken in Taiwan
Während Deutsche im Februar Karneval feierten, standen die Menschen in Taiwan Schlange für rationierte Masken. Einreisebeschränkungen und Quarantäneregeln wurden Schritt für Schritt verschärft. Lockdowns gab es nie, der drastischste Schritt waren um zwei Wochen verlängerte Schulferien.
„In Deutschland ist es auch schon ganz schön schlimm“, sagte die Grenzpolizistin, der Liya Yu im Taoyuan Airport am 14. März 2020 ihren Pass vorlegte. So hoch seien die Zahlen in Berlin eigentlich nicht, regten sich bei Yu deutsche Reflexe. „Da blickte sie mir direkt in die Augen und sagte: Wir finden es sehr besorgniserregend, was in Deutschland abläuft. Bitte seien Sie vorsichtig, wenn Sie in Taiwan umhergehen.“
Zwei Tage später, nach einer der ersten von vielen Gesprächsrunden, verkündeten Bund und Länder ein „einheitliches Vorgehen zur weiteren Beschränkung von sozialen Kontakten im öffentlichen Bereich“ – Deutschlands erster Lockdown war da. Am 19. März dann appellierte die Kanzlerin in ihrer Fernsehansprache, was in Taiwan längst selbstverständlich war: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“
„Taiwan ist das sicherste Land der Welt“ – was für die Familien Yu und Heike vor über einem Jahr klar war, hat sich bestätigt. Nur gut 1.000 Infizierte und zehn Todesfälle verzeichnen die Behörden seit Beginn der Pandemie – auch im Verhältnis zur Bevölkerung weniger als in den anderen demokratischen Musterbeispielen Neuseeland, Australien oder Südkorea. Weniger als 100 davon sind einheimische Fälle, bei denen die Behörden Infektionsketten nachverfolgen und unterbrechen mussten. Die große Mehrheit kam von außen und fiel kurz nach der Einreise auf. In Taiwan musste niemand über „Flatten the Curve“, „Zero Covid“ oder „No Covid“ diskutieren, denn von Anfang an war die Strategie: Keine Chance dem Virus, sich im Land auszubreiten.
Bei der Einreise hatte Liya Yus Familie Kontaktdaten angegeben. Sie erhielten täglich Anrufe zu ihrem Gesundheitszustand und sollten Menschenmengen meiden, konnten sich aber zunächst noch frei bewegen. Das änderte sich, als an ihrem dritten Tag in Taipeh die Quarantäneregeln auch auf Einreisende aus Europa ausgeweitet wurden. „Es hieß, nun geht nicht mehr aus dem Gebäude. Auch die Pförtner unten wussten Bescheid.“
Ein konsequentes Quarantänesystem
Das konsequente Quarantänesystem ist – neben Einreisebeschränkungen und transparenter Kommunikation – einer der wichtigsten Bausteine von Taiwans Strategie. Die Regeln sind einfach: Wer noch einreisen darf, muss für 14 Tage in Quarantäne. In derselben Wohnung dürfen nur am gleichen Tag Eingereiste sein. Während dieser zwei Wochen gelten strenge Regeln: Die Sim-Karte wird per Funkzellenabfrage – ohne App – geortet.
Entfernt sich das Handy vom zugewiesenen Ort, werden die Behörden alarmiert. Wer trotzdem auch nur einen Fuß vor die Tür setzt, riskiert empfindliche Strafen. Nach überstandener Quarantäne wird das alles aufgehoben, es winken das normale Leben und ein Dankeschön von 30 Euro pro Tag. Gut eine halbe Million Menschen hat das schon durchgemacht, die Verstöße liegen im Promillebereich.
Yu staunte, als die Behörden ihrer Familie während der Quarantäne sogar Ansprechpartner für mögliche psychische Probleme nannten. Es sei beeindruckend, dass Taiwans Regierung sich in der Pandemie das Vertrauen der Bevölkerung erarbeiten konnte. „Man hat von Anfang an den Menschen eine klare Vision gegeben. Deshalb sind die bereit, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Das braucht Deutschland auch, und das könnte Deutschland auch.“
Als Timo Heike diesen Januar zum zweiten Mal in Quarantäne musste, ging sein Vater freiwillig mit ihm in die Isolation. In der abgeschotteten Männer-WG brachte Florian Heike das Essen auf den Tisch, während Timo zunächst weiter beim niedersächsischen Homeschooling mitmachte. Dank der Zeitverschiebung konnte er sich zumindest außerhalb der Stoßzeiten besser ins System einloggen. Vater Florian Heike, der in Taipeh eine Handelsfirma betreibt, verlegte sich zwei Wochen aufs Homeoffice. Das Risiko, eine Infektion weiterzutragen, war ihm zu groß: „Tritt auch nur ein Coronafall in einem Unternehmen auf, wird die ganze Firma desinfiziert. Beim zweiten Fall wird das ganze Gebäude geschlossen.“
Dass Taiwan bei Corona so schnell aus den Startblöcken kam, mit klaren Plänen zur Eindämmung und Bekämpfung des Virus, kommt nicht von ungefähr. Jahrelang hatten die Behörden sich auf genau so einen Fall vorbereitet – seit der ersten Sars-Epidemie 2003. Auch damals kam das Virus aus China, und Taiwan war mit 73 Toten am zweitstärksten betroffen. Florian Heike lebte da schon hier und erinnert sich an Masken und Temperaturmessungen überall. Anders als heute aber war Taiwan damals überhaupt nicht gut vorbereitet. In ihrer Ratlosigkeit riegelten die Behörden in Taipeh ein ganzes Krankenhaus mit mehr als 1.000 Menschen ab, in dem sich das Virus ausbreitete. Panik griff unter den Eingesperrten um sich. Patienten hängten Bettlaken mit Hilferufen aus den Fenstern, einer brachte sich um. Überall hörte Florian Heike von der Angst, an Sars zu erkranken, das im Vergleich zu Corona viel tödlicher war: „Dann muss ich auch in diesen Infiziertenkerker, die Chance, dass ich rauskomme ist nur 50 Prozent, und ich sehe meine Familie nie wieder.“ Einwohner von Taipeh wurden in anderen Landesteilen geächtet. Bürgern und Politik war klar: So etwas darf uns nicht noch einmal passieren.
Nach dieser traumatischen Erfahrung stellte Taiwan sein System neu auf und schuf innerhalb der Seuchenkontrollbehörde eine permanente Stelle zur Krisenreaktion, die im Ernstfall einen Krisenstab ins Leben ruft. Am 20. Januar 2020 war es in Taiwan so weit – drei Tage bevor China Wuhan abriegelte. Geleitet vom Gesundheitsminister, hat dieser Krisenstab weit reichende Befugnisse und kann ressortübergreifend Maßnahmen anordnen.
Von Deutschland aus betrachtet läge es nahe, mit Blick auf Taiwans niedrige Zahlen, die anscheinend perfekt geölte – dabei demokratisch legitimierte – Krisenreaktionsmaschine und das unerreichbar scheinende normale Leben resigniert abzuwinken: Die machen alles besser, das schaffen wir eh nicht, die leben auf einer Insel, die können das. Vor so einer Überhöhung warnt Liya Yu, die sich als Politologin damit beschäftigt, wie Vorbehalte und Denkblockaden Erkenntnisprozesse blockieren. „Taiwaner haben auch Fehler gemacht und haben dieselben kognitiven Fähigkeiten und Schwächen wie Menschen in Deutschland“, betont sie beim Treffen in einem hippen und gut besuchten Kulturpark, wo alle Geschäfte geöffnet sind. „Was wir heute in Taiwan sehen, liegt nicht daran, dass hier ‚superhuman Asians‘ herumlaufen. Hier sind Menschen traumatisiert von einer Erfahrung und haben daraus gelernt.“
Von Taiwan lernen
Könnte auch Deutschland von Taiwan lernen? Auf jeden Fall, sagt Yu. Aber: „Für viele deutsche Entscheidungsträger sind Asien und besonders Taiwan gefühlt weiter weg als der Mars.“ Schade, betont sie, denn die beiden Gesellschaften seien eigentlich gar nicht so unterschiedlich. Dass noch immer Klischees und Vorbehalte den unvoreingenommenen Blick auf Asiens Positivbeispiele verstellen, stellt in ihrer Forschung eine Form von Dehumanisierung dar. Weitere Beispiele dafür: das Zuschreiben von Uniformität, Kollektivismus und einer „ganz anderen Kultur“ oder antiasiatischer Rassismus, der asiatisch aussehende Menschen seit mehr als einem Jahr zu Sündenböcken für das Virus macht.
Wenn es in Taipeh einen Ort gibt, der für mehr Taiwan-Verständnis in Deutschlands Politik sorgen kann, dann liegt er im Taipei 101. Im 33. Stock des bambusförmigen Wolkenkratzers, der einmal das höchste Haus der Welt war, findet sich das Deutsche Institut – eine Botschaft, die nicht so heißen darf. In den Büros mit der schönen Aussicht arbeiten Diplomaten aus Berlin, doch Deutschland hat wie fast alle anderen Länder keine diplomatischen Beziehungen mit Taiwan. Das liegt am Machtanspruch der Volksrepublik China, die eifersüchtig darüber wacht, dass diese widerspenstige Demokratie möglichst wenig Anerkennung erfährt.
Auf Nachfrage im Deutschen Institut erfährt man, dass Berlin sich hier nicht aktiv nach Ideen zur Pandemiebekämpfung erkundigt. Man berichte aber dem Auswärtigen Amt ohnehin seit Beginn der Krise „regelmäßig und ausführlich“ über Taiwans Coronastrategie. Auf diese lehrreichen Depeschen hätten auch das Gesundheitsministerium oder Abgeordnete Zugriff – falls sie daran interessiert sind, mehr zu erfahren.
Wie aus allen Organisationen der Vereinten Nationen bleibt Taiwan auch aus der WHO ausgeschlossen, 2017 nahm Peking ihm sogar den Beobachterstatus. Was eigentlich eine Lücke ins Netz der globalen Seuchenprävention reißt, war für Taiwan bei Corona ein Glücksfall. Während die WHO in der Frühphase zögerte und viel Rücksicht auf China nahm, konnte Taiwan unabhängig handeln. So sperrte das Land Anfang Februar 2020 seine Grenzen für chinesische Staatsbürger, als die WHO noch ausdrücklich von Reisebeschränkungen abriet.
Das Impfen hat gerade erst begonnen
Was aus deutscher Sicht paradox erscheinen muss: Die Lage in Taiwan ist entspannt, obwohl die Impfkampagne diese Woche gerade erst beginnt. Premier und Gesundheitsminister ließen sich am Montag demonstrativ als Erste impfen, um jegliche Zweifel zu zerstreuen. Die Regierung konnte im Ausland aber bislang nur für die Hälfte der Bevölkerung Impfstoff sichern. Chinesischer Druck habe das Bestellen nicht leichter gemacht, deutete der Gesundheitsminister an. Den Rest sollen heimische Hersteller liefern, deren Impfstoffe aber noch in der Erprobung sind. Wirklich erhalten hat Taiwan erst 117.000 Dosen von AstraZeneca, vorgesehen vor allem für medizinisches Personal auf Covid-Stationen.
Irgendwann könnte Taiwan also vor der prekären Situation stehen, dass der Rest der Welt schneller durchgeimpft ist und Reisebeschränkungen aufhebt. Wie lange man sich in so einem Fall weiter abschotten würde, welche Ausstiegsszenarien es gibt, wird von der Regierung kaum kommuniziert – in der Gesellschaft aber auch nicht vordringlich diskutiert. Die Wirtschaft wuchs 2020 trotz der Abschottung um fast drei Prozent, sogar stärker als in China, wobei in der Krise nicht alle Branchen so profitieren wie die Technologie-Industrie. Querdenker oder ähnliche Fundamentalkritiker der Maßnahmen spielen in Taiwan keine Rolle. Für den Moment sind die meisten Menschen stolz auf die gemeinsam errungenen Erfolge, während woanders eher Frust über ständige Misserfolge vorherrscht.
Falls die Lage in Deutschland sich in diesem August normalisiert hat, könnte Timo Heike zum neuen Schuljahr zurück nach Oldenburg. Große Hoffnung macht Vater Florian sich aber nicht. Er richtet sich noch auf eine lange Zeit der Reisebeschränkungen und Quarantänen ein, „vielleicht bis Sommer 2022“. Unbegreiflich findet er beim Blick auf Deutschland, dass Erkrankte zu Hause bleiben können, statt von Gesunden isoliert zu werden. „Das verhindert keine Ausbreitung.“ In Oldenburg erleben seine Frau und Tochter gerade, was passiert, wenn ein Land Corona nicht im Griff hat: Im erweiterten Familienkreis gibt es mehrere Infektionen.
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