Blinde Flecken in der Debatte: Cancelt euch doch
Solange die deutsche Diskussion über Cancel Culture ihre Denkfaulheit nicht aufgibt, kann man sie aufgrund mangelnder Relevanz gerne streichen.
D ie sogenannte Debatte über die Cancel Culture ist nur eine von vielen deutschen Diskursfaulheiten: Man nimmt eine laufende US-Debatte und wirft ein paar deutsche Namen und Themen hinein, fertig ist der Diskurs. Es stehen sich in etwa die gleichen Lager gegenüber wie bei #MeToo, wo es in Deutschland auch keine mit den USA vergleichbare Bewegung gab. So wie es in Deutschland kaum gecancelte Namen gibt, so gab es auch kaum drei Männernamen, die öffentlich gefallen sind; doch die deutsche Empörung über das Zerstörpotenzial von #MeToo war größer als die Bewegung selbst.
Das gleiche deutsche Scheindebattentheater spielt sich nun rund um den Begriff „Cancel Culture“ ab. Wie gesagt, man kommt in Deutschland auf keine drei Namen, aber wehret den Anfängen, sagen die Besorgten! Eher nicht. Dabei sind die Hintergrundgeschichten zu den deutschen Absagen vielschichtiger als: Ein linker Mob hat die Künstler von der Bühne gebrüllt. Nein, manchmal sind Kulturveranstalter derzeit überfordert damit, auf die aktuellen politischen Spannungen zu reagieren. Ein linker Meinungsmob jedenfalls hat die Kabarettistin Lisa Eckhart nicht von der Hamburger Bühne gebrüllt.
Spannend wird die deutsche Cancel Culture erst, wenn man sich ansieht, was und wer alles nicht unter den Schutzmantel der Anti-Cancel-Culture-Lobby fällt. Der afrikanische Historiker Achille Mbembe etwa, der die Eröffnungsrede der Ruhrtriennale halten sollte, kam nicht in den Genuss, von den Cancel-Culture-Empörten beschützt zu werden, obwohl ihm weltweit führende Denker zur Seite sprangen. Da gehe es um etwas so Sensibles wie Antisemitismus, heißt es dann, das Schüren von Vorurteilen sei in heutigen Zeiten besonders gefährlich. Interessanterweise wirft man der Kabarettistin Lisa Eckhart dasselbe vor, doch hinter ihr versammeln sich die engagierten Hüter der freien Kunst, doch dazu später.
Am interessantesten werden die deutschen Cancel-Culture-Besorgten in der Auslassung: Sehen sie Perspektiven, Künstler und Stimmen, die jahrzehntelang gecancelt wurden? Nein. Doch jahrzehntelang wurden Stimmen im deutschen Diskurs aussortiert, weil es für viele Verantwortliche selbstverständlich war, dass sie nicht mitzureden haben. Deren Kunst sei nicht gut genug, hieß es dann. Die Kälte des alten Cancel-Mechanismus lag ja darin, dass vielfältige Perspektiven gar nicht erst auf die Bühne gebeten wurden, deshalb musste man auch niemanden ausladen. Für Autor*innen mit Migrationsgeschichte gab es in Deutschland lange vor allem die Interkulturelle Woche oder irgendein Format mit „Nachbarn“ im Titeln, um den soziokulturellen Charakter der Veranstaltungen zu kennzeichnen. Bloß nicht in die heiligen Hallen der Hochkultur! Kulturprodukte von Eingewanderten und ihren Kindern waren so leicht zu canceln, man konnte sie einfach für „nicht gut genug“ befinden, völlig debattenfrei.
Doch jetzt sind viele von ihnen da und sie lassen sich auch nicht mehr canceln. Sie haben, wie emanzipiert, eine Meinung und vertreten diese nicht leiser als jene, die vorher den Diskurs bestimmt haben. Die Präsenz von Minderheitenstimmen in der Öffentlichkeit verdankt sich meist nicht den klassischen Gatekeepern, sondern ihrer eigenen Beharrlichkeit und einem Publikum, das sich endlich in den öffentlichen Meinungen wiederfindet. Die Vielfalt des aktuellen Diskurses ist dem Bildungsaufstieg einiger talentierter Einwandererkinder zu verdanken, die entgegen allen statistischen Prognosen ihren Weg gegangen sind und in der Mehr- und Minderheitsgesellschaft ihre Fans gefunden haben. Ihre Präsenz ist auch den sozialen Medien zu verdanken und der Kraft, mit der sie nun ihre Perspektive vorbringen. Zu behaupten, Widerspruch sei ein „Wegbrüllen“ oder „Canceln“ bezeugt eher: Man war gewohnt, alles sagen zu dürfen und dafür wenig Gegenrede zu erhalten.
Wenn mich Cancel Culture interessiert, dann vor allem als Frage danach, wer jahrzehntelang gecancelt wurde, ohne dass Canceln ein Thema war. Die deutschen Podien waren noch nicht so divers wie heute, gleichzeitig wird behauptet, der Meinungskorridor verenge sich. Eine Zeit lang benutzte man Künstler und Autoren mit Migrationsgeschichte, es galt als politisch hip und gewollt, sich mit ihnen zu zeigen, man wolle ja die deutsche Weltoffenheit zelebrieren. Doch jetzt, da die Rechten stärker und lauter sind, möchte man deren „Betroffenheitspositionen“ nicht so gerne hören. Es könnte den rechten Rand stärken. Doch sie bleiben. Zum Glück. Wer wurde in der Vergangenheit schon alles an den Planungstischen der Veranstalter gecancelt, weil seine „Betroffenheit“ die friedliche Bürgergesellschaft beunruhigt?
Wenn ich sehe, über wessen Canceln wir in Deutschland reden, kommen mir direkt große Mitleidstränen. In Zeiten von Corona hat die Kabarettistin Lisa Eckhart mehr Lesungstermine als zehn anspruchsvolle Autor*innen zusammen auf ihrer Webseite. Mit dieser Arroganz des Erfolges sitzt sie als Gast im ORF und beantwortet die „kritischen Fragen“ der Moderatorin. Nicht alle Juden fänden ihre Witze antisemitisch, und man „unterstelle den Juden eine Humorlosigkeit, die fast an Antisemitismus grenzt“. Nun ist es sicher klug, darauf hinzuweisen, dass keine einzige Organisation je „für alle Juden“ sprechen wird, doch auf die Kritik jüdischer Repräsentantinnen mit diesem Satz zu reagieren, ist dann doch interessant.
Im Grunde antwortet Eckhart auf jede Kritik mit: „Ihr könnt mir doch nichts.“ Das stimmt. Das ist auch gut so, aber dann sollte man das auch anerkennen. Solange die deutsche Debatte über Cancel Culture nicht lernt, ihre Sorge um die freie Rede internationaler zu denken und Themen wie Raif Badawi, der für einen Blogeintrag noch immer in Gefangenschaft ist, oder Hate Speech im Netz und Morddrohungen gegen liberale Stimmen einzubeziehen, kann man die deutsche Debatte aufgrund mangelnder Relevanz gerne canceln.
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