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Boris Palmer über die Windkraftindustrie„Massiver Eingriff in den Markt“

Im ersten Halbjahr 2019 wurden in Deutschland nur 35 Windräder aufgestellt. Wie lässt sich die Flaute überwinden? Grünen-Politiker Palmer setzt auf den Staat.

Haben es momentan nicht leicht: Windräder und ihre Hersteller Foto: Paul Langrock/Zenit
Peter Unfried
Interview von Peter Unfried

taz: Herr Palmer, die Bundesregierung von Union und SPD will die Mindestabstandsregel für Windräder von Wohngebieten von 700 auf 1.000 Meter erhöhen, um in der Bevölkerung „die Akzeptanz zu erhöhen“ für die Energiewende, zu der sie sich politisch verpflichtet hat. Was halten Sie davon?

Boris Palmer: Es nützt nichts, die Akzeptanz für Windräder dadurch zu erhöhen, dass wir keine Windräder mehr bauen. Bei 1.000 Metern Abstand würde etwa in Baden-Württemberg fast die Hälfte aller möglichen Standorte verlorengehen, während auf der anderen Seite die Bundesregierung Kaufprämien für Elektroautos auszahlt, die zum Ziel haben, dass wir noch sehr viel mehr Strom benötigen werden, als wir heute produzieren. Ein Land, das Atom- und Kohlekraftwerke abschaltet und bis 2030 im Strombereich 65 Prozent Erneuerbare will, braucht Windenergie – und damit mehr und nicht weniger Standorte für Windräder.

Im ersten Halbjahr 2019 wurden 35 Windräder aufgestellt, das ist politisches Versagen, wenn man die eigenen Klimaziele ernst nimmt. Aber es redet kaum einer drüber.

Stimmt, deshalb habe ich mich gefreut, dass Niedersachsens Ministerpräsident Weil einen 10-Punkte-Rettungsplan für die Windindustrie verkündet hat und die Dramatik klar aufgezeigt hat, dass diese Industrie kurz vor dem Exitus ist. Nach seinen Zahlen sind in der Branche in drei Jahren 40.000 Arbeitsplätze verlorengegangen. Die Vorschläge von Weil sind aber zu harmlos, das wird nicht für eine Rettung reichen.

Haben Sie einen besseren Vorschlag?

Ich sehe im Moment nur eine wirksame Lösung: Die Bundesregierung muss die heimische Industrie durch staatliche Aufträge so auslasten, dass sie den aktuellen Nachfrageeinbruch überlebt. Wir haben nur noch ein Viertel des Zubaus von vor zwei Jahren, 75 Prozent der Aufträge sind weggebrochen. Da kann sich jeder ausrechnen, dass die Überlebenschancen ansonsten ganz schlecht sind. Mit Senvion ist der erste Hersteller schon insolvent.

Was wird das kosten?

Der abrupte Nachfrageausfall 2019 liegt bei über 3.000 Megawatt. Ein Anstieg ist wegen der langen Planungszeiten vor 2021 unmöglich. Daher sollte der Staat im Jahr 2020 Windräder mit einer Leistung von 3.000 Megawatt kaufen. Das kostet etwa 3 Milliarden Euro, die aber durch einen verlustfreien Weiterverkauf in den Folgejahren gedeckt werden können.

dpa
Im Interview: Boris Palmer

47, Grünen-Politiker, ist seit 2006 Oberbürgermeister in Tübingen. Davor war er von März 2001 bis 2007 Abgeordneter im Landtag Baden-Württemberg.

Was ist mit der Rechtskonformität, wenn der Staat deutsche Unternehmen protektioniert?

Den Vorwurf kann man mit einer europäischen Ausschreibung entkräften. Das ist auch richtig, denn wir brauchen im europäischen Binnenmarkt eine entsprechende Kapazität für die Energiewende. Weil aber die deutschen Hersteller jetzt noch relativ stark sind und dringend Aufträge brauchen, nehme ich an, dass die besten Angebote von ihnen kommen könnten.

Was macht man dann mit den ganzen Windrädern?

Die bestellten Windräder müssten zunächst auf dem Werksgelände zwischengelagert werden. In zwei Jahren, wenn wieder ausreichend Genehmigungen da sind, werden sie versteigert, so dass es sich nur um eine Überbrückung handelt und nicht um eine staatliche Dauersubvention.

Sie wollen sagen: Jetzt durchfüttern und wenn die Grünen dann regieren, kann es losgehen?

Meine Partei sollte eine Rettung der Windindustrie jetzt zur Voraussetzung für die Zustimmung zum Klimaschutzpaket im Bundesrat machen. Wir brauchen mindestens eine Verdoppelung, vermutlich Verdreifachung der Windkraftkapazitäten in den nächsten 10 bis 15 Jahren, egal wer regiert. Sonst war es das mit der Energiewende.

Die staatliche Überbrückung macht nur Sinn, wenn es dann in zwei Jahren mehr Genehmigungen gibt. Wie soll das gehen?

Ich halte es für erforderlich, dass die Länder eigene Planungsgesellschaften gründen, die diese viel zu komplizierten Verfahren bis zur Genehmigung von Standorten selbst vorantreiben. Diese Planungsgesellschaften brauchen Ziele, die konform sind mit den Klimaschutzzielen. Das heißt, sie müssen bestimmte Mengen an Standorten jährlich zur Verfügung stellen und entsprechend ausgestattet sein. Vor allem muss die Netzausbauzone abgeschafft werden, die verhindert, dass dort gebaut wird, wo am meisten Wind weht.

FDP-Chef Christian Lindner wird entsetzt sein, wenn der Staat so in den Markt eingreift?

Lindner wird aus seiner Perspektive zu Recht entsetzt sein, denn das ist tatsächlich ein massiver Eingriff in den Markt. Den halten sozial und ökologisch verantwortliche Politiker immer für notwendig, wenn der Markt nicht mehr die erforderlichen Ergebnisse liefert. Der aktuelle Einbruch und die drohende Zerstörung der Windindustrie in Deutschland ist ein Markteffekt, der sich mit den Klimaschutzzielen nicht verbinden lässt.

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16 Kommentare

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  • 6G
    64984 (Profil gelöscht)

    Ein sehr guter Vorschlag von Boris Palmer.

  • Palmer ist ein sehr kluger Politiker, der die Möglichkeiten und die Grenzen der Marktwirtschaft gut erkannt hat.



    In Zeiten von Null-Zinsen wäre sein Vorschlag für die öffentliche Hand sogar ein sofortiger Gewinn, denn auf die verkauften Windräder würde ja Steuern gezahlt, die Zinskosten der Kredite wären hingegen NUll.

  • Lasst die Kommunen über die Abstandsregeln bestimmen und der Staat sollte kommunale Windkraftanlagen massiv fördern.

  • Lindner hätte solche Kommandowirtschaft tatsächlich kritisiert. Doch der Stellenabbau von Enercon bedeutet nicht nur für Magdeburg und Dessau den Verlust der simulativen Industrie. Die Städte fangen das nicht mehr auf. In Hannover werden auch ohne Windkraftverlust in den nächsten fünf Jahren 10.000 Arbeitsplätze abgebaut.

    Wollen wir Windkraft stärken brauchen wir auch mehr Massenspeicher und Homespeicher, wie LG Chem sie bereits für Solaranlagen anbietet. Damit lässt sich sparsam mit erneuerbarer Energie umgehen, die dann rund um die Uhr zur Verfügung steht. LG Chem hat für Milliarden ein Werk 200 Kilometer hinter Cottbus gebaut, in Wroclaw. In Deutschland ist LG u.a



    mit dem Tochterunternehmen Essex vertreten -Kupferdraht für E-Motorspulen.

    Nur ein Ausbau des Stromspeichermarktes führt zu viel Beschäftigung und mehr Nachfrage nach erneuerbaren Energien wie Windkraft und Solarstrom. Deutschland braucht auch da mehr eigene Fertigung..

  • Hallo Herr Palmer, wie wäre es denn mit einer oder mehreren kleinen Windanlagen in ihrer Stadt? Taten statt reden und warten.

  • "Der aktuelle Einbruch und die drohende Zerstörung der Windindustrie in Deutschland ist ein Markteffekt, ..."

    wer radikale staatsgelenkte Industriepolitik a la Altmaier als Markteffekt bezeichnet hat nur wenig Ahnung vom Geschehen und sollte besser mit anderen Themen versuchen Werbung für sich selbst zu machen.

  • 8G
    83421 (Profil gelöscht)

    Man sollte mehr Windraeder in Stadten bauen, dann waere auch die Akzeptanz auf dem Land groesser. Die meisten Haeuser sind niederiger als 30 Meter, da ragten die Windraeder locker drueber, und man brauchte keine zusaetzlichen landwirtschaftlichen Flaechen. Ein win-win Situation gewissermassen.

  • Was wäre der "Markt" ohne staatliche Subventionen für die großen Konzerne? In welche Richtung hätte sich die Kurse der Autokonzerne bewegt, nach dem organisierten Abgasbetrug? Im wievielten Tiefgeschoss befänden sich die Renditen der privaten Versicherungskonzerne, ohne die systematische Zerschlagung der solidarischen Kranken- und umlagefinanzierten Rentenversicherung? ...

    Der Markt regelt mittlerweile gar nichts mehr, sobald die Interessen der großen Kapitaleigner durch Konkurrenz berührt/bedroht sind. Die Windmühlen zu verhindern, liegt ausschließlich im Interesse der großen Energieversorger. Ihre Forderungen nach Ausgleichszahlungen in zweistelliger Milliardenhöhe, sind die begleitende Drohkulisse. Es geht ausschließlich um die im Aktienrecht geregelte Pflicht zum Schutz der Anleger!



    Im Aktienrecht sind Korrekturen erforderlich!

  • Naja, Windkraft lohnt sich, wenn man den Markt machen lassen würde hätten wir schon viel mehr Windräder. Es ist doch hier eher so, dass der Staat den Markt abgewürgt hat.

    • @FancyBeard:

      Der Staat würgt die erneuerbaren Energien ab, indem konkurrierende Stromerzeugungsanlagen nicht annähernd die Kosten tragen müssen, die ihre Emissione an CO2 verurachen.

  • Richtig. Wenn wir erst soweit sind, dass bei der Windkraft alle Hersteller fest in chinesischer Hand sind, brauchen wir von einer heimischen Industrieförderung nocht mehr zu reden.



    Die Politik hat mit ihrem Marktliberalismus - siehe Solarindustrie - genug Schaden angerichtet. Wer diesen Weg weiter geht, sichert vielleicht bei der nächsten Wahl ein paar Wählerstimmen, aber die nationale Wirtschaft führt er ins Nirvana.

  • Wie kann es sein, dass der einzige Grüne, der staatliche Interventionen propagiert bzw. in der Mietpolitik quasi umsetzt, der rechts irrlichternde Palmer ist?

  • Der Staat könnte auch die Kernkraftwerke kaufen und weiterbetreiben. Da hätten wir auf einen Schlag unsere Klimaziele auf Jahre hinaus übererfüllt.

  • Ich frag mich immer, was die Menschen ihren Kindern/Enkelkindern erzählen werden, wenn wir "the Point of no Return" erreicht haben.



    Wir haben von nichts gewusst wird nicht nochmal funktionieren. Vielleicht werfen wir ihnen einfach vor, dass sie ja auch nichts für uns getan haben. *trockenes lachen*

    Tick Tack Tick Tack Tick Tack Tick Tack Tick Tack Tick Tack



    www.mcc-berlin.net...k/carbon_clock.htm

  • Der Markt unser modernes Äquivalent zu Gott. Nur ist der Markt so fragil, das man ihn immerzu vor Eingriffen schützen muß.



    Mit dieser Religiosität wäre Asien nie wirtschaftlich vom Fleck gekommen.

  • Was heißt hier "Lindner wird aus seiner Perspektive zurecht entsetzt sein, denn das ist tatsächlich ein massiver Eingriff in den Markt."?



    Von staatlicher Seite zuerst den Markt kaputt machen (1000m-Abstandsregel) ist aber kein massiver Eingriff in den Markt?