Antisemitismusvorwürfe auf der Berlinale: Die Provinzialität des Joe Chialo
Der CDU-Kultursenator bezeichnete die Äußerungen von Berlinale-PreisträgerInnen als antisemitisch und gratismütig. Ihm selbst fehlte jeder Mut.
C laudia Roth hat’s vergurkt: Mit ihrem Applaus bei der Berlinale-Preisverleihung am vergangenen Wochenende und einem Tweet, der diesen erklären sollte, wollte sie irgendwie alles richtig machen und hat sich zwischen alle Stühle gesetzt. Die Kulturstaatsministerin ließ auf X klarstellen, sie habe bei der Closing Ceremony im Berlinale-Palast für den jüdischen Israeli Yuval Abraham geklatscht – der freilich die Dankesrede für den Dokumentarfilmpreis gemeinsam mit seinem palästinensischen Co-Regisseur Basel Adra hielt.
Für die einen ist klar, dass Roth mit ihrem Exklusivapplaus den Palästinenser rassistisch ausgeblendet hat. Gleichzeitig erhob sich ein tagelanger rechter Shitstorm, der ihren Rücktritt forderte, weil sie überhaupt Beifall gespendet hatte. Und formal betrachtet stimmt es ja: Abraham hatte sich nicht einfach „für eine politische Lösung und ein friedliches Zusammenleben in der Region ausgesprochen“, wie die Ministerin behauptete, er hatte die auch im Film gezeigte Situation in Israel und den besetzen Gebieten explizit als „Apartheid“ bezeichnet.
Der international von kritischen BeobachterInnen – auch jüdischen und auch israelischen wie Yuval Abraham – verwendete Begriff wird nicht nur in vielen deutschen Medien, sondern auch von der Bundesregierung gern als antisemitisch eingeordnet oder zumindest mit Antisemitismus in Verbindung gebracht. Claudia Roth hatte ihn wahrscheinlich überhört und würde deshalb wahrscheinlich am liebsten ihren Tweet wieder löschen oder die Klarstellung klarstellen. Aber dass soziale Medien so nicht funktionieren, weiß sie vermutlich.
Auch mit etwas zeitlichem Abstand jedenfalls bereitet es Kopfzerbrechen, wie man ein paar politische Wortmeldungen, die die israelische Kriegsführung in Gaza mit zehntausenden Toten und die humanitäre Katastrophe dort anprangern, als lupenreinen Antisemitismus begreifen kann. Besonders ungut: die Äußerungen von Berlins CDU-Kultursenator Joe Chialo, der in mehreren Interviews kaum noch Superlative für die angeblichen Abgründe fand.
„Das war Antisemitismus, das darf es in Berlin nicht geben“, urteilte Chialo in den „Tagesthemen“ in Bezug auf die, so Interviewer Ingo Zamparoni, „Täter“. „Gratismut“ hätten die RednerInnen auf der Veranstaltung bewiesen, und leider, leider sei „das Publikum in der Kulturszene nicht ganz so divers, wie man’s selber gerne sähe“, „nicht alle Perspektiven“ seien repräsentiert, es träfen sich halt „Gleichgesinnte“ – das genaue Gegenteil von einem CDU-Parteitag also.
Tiefe Provinzialität
Abgesehen davon, dass Chialo den vermeintlichen Skandal nun als Vorlage für einen zweiten Anlauf zu seiner abgeschmetterten „Antisemitismusklausel“ für öffentlich geförderte KünstlerInnen machen will: Solche Aussagen zeugen von tiefer Provinzialität. Würde Chialo sich nicht nur über deutsche Zeitungen und Sender informieren, wüsste er, dass in vielen anderen Ländern, gerade auch in den USA und Großbritannien, gerade auch unter Kunstschaffenden und Intellektuellen, Kritik am Vorgehen Israels keineswegs hinter vorgehaltener Hand geübt wird. Und wenn man ein internationales Festival ausrichtet, sollte man sich nicht wundern, wenn auch etwas davon ins kleine Berlin herüberschwappt.
Solches künftig – mit welchen Mitteln auch immer – verhindern zu wollen, wie der Kultursenator, die Staatsministerin und andere nun verkünden, lässt nichts Gutes erwarten. Muss die nächste Jury von Land und Bund abgenickt werden? Wird die Unterzeichnung von Chialo-Klauseln zur Bedingung für eingeladene FilmemacherInnen? Schafft man vielleicht gleich noch den Panorama-Publikumspreis ab (man weiß ja nie)?
Chialo, der im „Tagesthemen“-Interview den KünstlerInnen empfahl, sie sollten doch immer auch die Toten im Jemen und die Millionen Geflüchteten im „Südsudan“ erwähnen (richtig war: Sudan), sagte an anderer Stelle noch einen bezeichnenden Satz: Niemand im Publikum sei aufgestanden und habe seine Meinung gesagt, „ich auch nicht“. Genau das aber hätte er tun können, und vielleicht wäre eine fruchtbare Debatte daraus entstanden. Wer als Politiker und Gastgeber diesen Mut nicht hat, muss anderen auch keinen „Gratismut“ vorwerfen.
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