AktivistInnen im Mittelmeer: Die Nöte der RetterInnen
Vor Nordafrika retten Freiwillige Geflüchtete vor dem Ertrinken. Auch mit Traumatisierungen müssen die HelferInnen einen Umgang finden.
Panik sei ausgebrochen, Held habe einen Mann ins Boot gezogen, ihn zu reanimieren versucht, minutenlang, ohne Erfolg. Neben dem Schiff seien vier Menschen getrieben, offenbar noch lebend, aber augenscheinlich in bedrohlichem Zustand. „Ich musste mich entscheiden“, sagt sie: Bricht sie die Reanimation ab und versucht das Leben der vier anderen zu retten? Oder macht sie weiter?
Es ist ein fundamentales ethisches Dilemma. Seit die Seenotrettungs-NGOs ab dem Jahr 2015 im Mittelmeer aktiv wurden, haben wohl Hunderte Menschen wie Held in ähnlichen Situationen Entscheidungen treffen müssen, auf die sie niemand vorbereiten kann, in denen es kein Richtig und kein Falsch gibt, und die sie womöglich ihr Leben lang mit sich herumtragen.
Held entschied sich für die Rettung der vier, zog sie aus dem Wasser, versorgte sie auf der Leiche des Mannes. „Das waren ganz dramatische Erlebnisse“, sagt sie. Die 51-Jährige sitzt in einer Kneipe in Hamburg, Schanzenviertel. Sie arbeitet in ihrer Freizeit als ehrenamtliche Ärztin auf den Schiffen der Seenotrettungsorganisation Sea-Watch, einer von einem guten Dutzend privater Rettungs-NGOs, die in den letzten Jahren in kürzester Zeit gegründet wurden, um das Sterben auf dem Meer zu bekämpfen.
Apfelkuchen gegen Leichengestank
Beruflich verarztet Held Gäste auf Kreuzfahrtschiffen, auf dem alten Schiff aus der ZDF-Serie „Traumschiff“ etwa. Auf der „Sea-Watch“ kümmert sie sich meist mit einem weiteren Kollegen und zwei Assistierenden um erschöpfte Geflüchtete, leistet medizinische Erstversorgung, behandelt Verletzungen. Held ist dabei ständig mit dem Tod konfrontiert.
Auch nach der EU-Wahl ist unklar, wie sich Europas Asylpolitik entwickelt. Auf dem Mittelmeer spielen sich derweil täglich neue Dramen ab. Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni berichtet die taz ab dem 3. bis zum 24. Juni schwerpunktmäßig in Berichten, Reportagen, Interviews und Livestreams zu den globalen Flüchtlingszahlen, Protesten und Rettungen auf dem Mittelmeer, der Lage an den EU-Außengrenzen sowie zu den Asyl-Plänen von Innenminister Horst Seehofer. Die gesamte Berichterstattung finden Sie auf taz.de/flucht
Auf den Schiffen von Sea-Watch sind überwiegend Freiwillige, mehrheitlich männlich, seit 2015 waren knapp 400 Aktivist*innen auf den Schiffen aktiv. In Deutschland fahren sie Lkw, studieren Politikwissenschaften, kochen in Restaurants oder pflegen Kranke. In ihrem Urlaub suchen sie in Seenot geratene, überfüllte Schlauchboote, retten Leben oder kommen zu spät. Traumatisierende und belastende Erlebnisse gehören zum Alltag der Aktivist*innen – und bleiben nicht immer folgenlos.
„Allem Negativen müssen wir etwas Positives entgegenstellen. Das wirkt von außen sicher befremdlich“, sagt Held. Wenn Menschen ertrinken, bilden das Wasser und die Restluft in den Lungen einen sogenannten Schaumpilz vor dem Mund. Er sei klebrig, sagt Held. Während der Einsätze im Oktober 2016 sei das gesamte Schiffshospital voll mit solchen Patienten gewesen.
Die Medizincrew begann zu schrubben, niedergeschlagen, müde. Über die Boxen habe ihr Kollege Musik von Manu Chao gespielt, die Crew zu tanzen begonnen. Unter rhythmischen Klängen habe sich eine Art Putzparty entwickelt, wie viele sie wohl im heimischen Wohnzimmer veranstalten. Nur wurde dabei eben der Schaum der Ertrunkenen vom Schiff geschrubbt.
Der Kampf gegen die Erinnerungen
Auf einer anderen Fahrt habe die Crew mehrfach Leichen an Bord gehabt. Das passiert häufiger. Die Sonne prallte auf das Deck, der Geruch der Verwesung hätte immer weiter zugenommen. „Ein unglaublicher Gestank, ich musste mich fast übergeben“, sagt Held. Der Schiffskoch hätte daraufhin einen Apfelkuchen gebacken. „Der Geruch des Apfelkuchens hat alles andere ausgelöscht“.
Noch heute verbinde Held das Gebäck mit dieser Situation. „Ich als Ärztin kenne das“, sagt sie und meint den Tod. Sie könne solche Situationen verarbeiten, als geschulte Medizinerin mit Berufserfahrung. Andere der oft sehr jungen AktivistInnen aber seien an Bord immer wieder überfordert. „Miteinander reden“ helfe, Erlebtes besprechen und eigene Gefühle artikulieren. „Solange man in Action ist, hält man es aus“, sagt Held, „doch in der Ruhe kommt es dann oft hoch“.
Wie sollte eine politische Organisation mit solchen Belastungen der eigenen Aktivist*innen umgehen? Welche Verantwortung trägt der Verein für die psychische Gesundheit seiner Crews? Und wissen die überhaupt, worauf sie sich einlassen, wenn sie das Schiff betreten?
In einem alten Backsteinhaus in Berlin ist das Büro von Sea-Watch, umgeben von Start-ups und anderen politischen Organisationen. Die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings leuchten in den kleinen Konferenzraum, in dem Raphael Cuadros vor seinem Laptop sitzt und durch Steckbriefe von Psychotherapeut*innen scrollt. Die Abgebildeten bieten den Seenotretter*innen kostenlose Sitzungen an.
Psychische Gefahrensituationen
An der Bürotür hängen Poster, „Don’t forget them at sea“ steht auf einem. Vergesst sie nicht auf dem Meer. Gemeint sind wohl die Geflüchteten, die in den Wellen des Mittelmeers ihr Leben riskieren. Doch Sea-Watch will auch an diejenigen denken, die nach ihren Rettungseinsätzen wieder zu Hause in Deutschland sitzen. Und mit den Erinnerungen kämpfen.
Raphael Cuadros, ausgebildeter Psychologe
Cuadros ist ausgebildeter Psychologe. In Tel Aviv spezialisierte er sich in Trauma-Studien, bevor er Anfang 2017 zurück nach Berlin kam. Eine Ausschreibung von Sea-Watch suchte ehrenamtliche Psycholog*innen, die eine eigene therapeutische Begleitung, ein Netzwerk für ihre Aktiven aufbauen sollten. Cuadros wollte mitmachen. „Was ich gut kann, konnte ich hier einbringen“, sagt er.
„Die Leute begeben sich in eine psychische Gefahrensituation“, erklärt Cuadros. „Das kann unglaublich belastend sein.“ Insbesondere die Konfrontation mit dem Tod sei für viele Aktivist*innen ungewohnt, schockierend, aufwühlend. Bei den ersten Fahrten ab 2015 habe es keine organisierte psychologische Betreuung gegeben. Aber die Crew berichtete von Belastungen. Der Verein sei daraufhin von einem externen Team unterstützt worden, welches sonst etwa Mitarbeiter*innen der Bahn oder der Feuerwehr nach Großeinsätzen betreue.
Das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet seit 2013 Unternehmen, die psychische Gesundheit ihrer Angestellten zu berücksichtigen. Vereine wie Sea-Watch mit ihren Freiwilligen betrifft das Gesetz nicht. Anfang 2017 entschied sich Sea-Watch, eigene Strukturen aufzubauen. Nicht alle Aktivist*innen waren damit offenbar zufrieden, etwa der christliche Anstrich war einigen fremd, ist aus manchen Gesprächen zu hören.
Buddys gegen die Einsamkeit
Cuadros betont, dass Sea-Watch selbst Verantwortung übernehmen wollte. „Die müssen wissen, worauf sie sich einlassen“, sagt der Psychologe. Die Crew würde vor jedem Einsatz aufgeklärt, über die rechtliche Situation ebenso wie über zu erwartende psychische Belastungen. „Nur wer verstanden hat, was da passieren kann und wird, kann eine informierte Entscheidung treffen.“ Freiwillige bekämen im Vorfeld Informationsmaterial über die Mission. Mit Fragebögen zur Selbstreflexion würden sie angeregt, über eigenes Verhalten nachzudenken: Wie reagieren sie in Stresssituationen? Welche Unterstützung wünschen sie sich? Beim „Briefing“ im Hafen lerne das Team sich kennen, mache das Schiff fertig, spreche über Ängste.
Mit Zweierteams, sogenannten Buddys, soll möglicher Einsamkeit auf dem Schiff begegnet werden. „Die Buddys müssen sich wenigstens einmal am Tag über die eigenen Gefühle austauschen, und sei es nur ein Gespräch bei einer Zigarette oder beim Essen“, sagt Cuadros. Der Austausch unter Vertrauenspersonen sei wichtig, das Sprechen über eigene Bedürfnisse. Zurück an Land wird die Gruppe in einem „De-Briefing“ psychologisch betreut. Dabei spricht sie gemeinsam über das Erlebte. Wer möchte, kann mit Fachpersonal Einzelgespräche führen. „Da saßen wir zusammen, haben gemeinsam geweint und gelacht“, sagt Barbara Held. Sie betont die Solidarität, denn „vom Punk bis zum Unternehmer mit Segelschein, auf dem Boot sind wir alle gleich“.
Nicht alles sei aufzufangen, räumt Cuadros ein. Sea-Watch versuche in der Vorbereitung möglichst genau über Gefahren aufzuklären, schaffe Ansprechpersonen, ermögliche Therapieangebote. Dennoch sei die Belastung enorm. Viele Aktivist*innen würden sich sehr mit der Seenotrettung verbunden fühlen, politisch wie emotional, voll in ihrem Einsatz aufgehen – und sich dabei manchmal selbst vergessen.
Cuadros und sein Team haben einen festen Ablauf geschaffen, versuchen ihre Aktiven abzusichern. Außerdem, das betont er, könnten die Freiwilligen jederzeit aussteigen, kurz vor dem Betreten des Boots sowie auf dem Schiff selbst. Sea-Watch halte jederzeit Ersatzpersonal bereit.
„Dein Hirn ist Matsch, irgendwann“
„Es gibt natürlich krassen Leistungsdruck“, sagt Mattea Weihe salopp. Die 27-Jährige sitzt in einem Hamburger Café. Weihe ist modern gekleidet, trägt eine große Brille, ihre braunen Haare zusammengebunden. Sie studiert Islamwissenschaften, spricht Arabisch und ist als sogenannte Cultural Mediator auf dem Schiff gewesen, als Vermittlerin. Weihes Aufgabe ist es, mit einem Schlauchboot an das Flüchtlingsboot heranzufahren, den ersten Kontakt aufzunehmen, Rettungswesten zu verteilen, sich nach dem Befinden der Gruppe zu erkundigen. Oft weiß sie nicht, was sie auf dem Boot erwartet.
„Von extremer Langeweile über krassen Leistungsdruck bis hin zu extremer Erschöpfung ist alles dabei“, zählt Weihe auf. Viele an Bord kämpfen mit den ständigen Wellen, werden gerade in den ersten Tagen seekrank. „Dein Hirn ist Matsch irgendwann“, sagt Weihe. Die Bootscrew sei ausgesucht, Spendengelder eingesetzt worden, der Einsatz klar. Zwar sei es gut, dass Freiwillige sich bei Überlastung zurückziehen könnten, Arbeitspausen einlegen, das passiere auch. Wenn jedoch immer neue Notrufe eintreffen, sei eine Pause für manche auf dem Schiff kaum möglich.
„Wenn du Gäste an Bord hast, kannst du dich nicht einfach zurückziehen“, sagt sie. Die Arbeit stehe im Vordergrund, Zeit zur Reflexion bleibe nicht immer. Viele würden sich ihren Jahresurlaub nehmen, um bei den dreiwöchigen Missionen mitzufahren. Wer hier nicht hochmotiviert sei, mache sich im Nachhinein oft Vorwürfe. „Auf dem Schiff ist es immer gradeaus und Anpacken, da kannst du dich nicht in den Kreis setzen und reden“, sagt Weihe.
Mattea Weihe macht eine Psychotherapie. „Alle sollten das machen“, sagt sie und verweist auf Probleme, Ängste und belastende Erlebnisse, die jede und jeder im Leben schon gemacht habe. Die Seenotrettung sei für sie darin allerdings nicht zentral, spiele sicherlich eine Rolle. „Manchmal denke ich, meine Therapeutin sieht das etwas dramatischer.“ Vielmehr helfe es ihr, Fotos der Missionen anzuschauen, darüber zu sprechen, politische Aufmerksamkeit für das Sterben im Mittelmeer zu schaffen.
„Wenn du da einmal einsackst, kommst du nicht mehr aus den Socken“, fasst Weihe die Gefühlslage an Bord zusammen. Der Zusammenhalt der Crew sei hierfür wichtig, Vertrauen müsse aufgebaut werden.
„Ich wollte an die vorderste Front“
Auch Haidi Sadik ist Cultural Mediator. „Wenn ich zurückdenke, dann kommt mir das vor wie aus einem Film“, sagt Haidi Sadik. Die 29-Jährige erzählt von den Anstrengungen, von Ängsten auf See. Von den Verletzten, ihren Schicksalen, den Toten. „Die Arbeit hat mich verändert“, sagt sie. Sie wohnt erst seit wenigen Wochen in Berlin, aufgewachsen ist sie in Amsterdam, wo sie Menschenrechte und Konfliktmanagement studiert hat.
Haidi Sadik, Sea Watch-Aktivistin
Ihre Eltern kamen aus Ägypten in die Niederlande, Sadik spricht unter anderem Arabisch und Französisch. Humanitäre Notsituationen sind ihr Arbeitsbereich, dafür ist sie ausgebildet, arbeitete etwa schon in Flüchtlingslagern in Jordanien. „Ich wollte an die vorderste Front“, sagt sie etwas ironisch. In der Seenotrettung ginge es ausschließlich ums Leben-Retten, die Arbeit könne „kaum simpler und purer“ sein.
Der Erstkontakt mit den Geflüchteten zeige nach zumeist langer Irrfahrt unter der prallen Sonne im Mittelmeer oft enormes Leid, Durst, Ohnmacht, Verletzungen oder gar Tod. „Du blickst Lebenden in die Augen und sie scheinen sich schon mit dem Tod abgefunden zu haben“, beschreibt sie. Ihre Stimme bricht kurz ab.
Die Ankunft am Flüchtlingsboot sei oftmals der stressigste Moment, manche Geflüchtete gerieten angesichts der bevorstehenden Rettung in Hektik, würden ins Wasser springen, wo ihre Rettung enorm erschwert werde. Sadik soll dafür sorgen, dass alles geordnet abläuft, medizinische Notfälle aufgenommen, kleine Kinder und Säuglinge erstversorgt werden. „In diesem Moment sind die Emotionen und der Stress am höchsten“, sagt sie. „Die Angst und die Sorgen sind auf dem Höhepunkt.“
Diese Arbeit als „Brücke zwischen den Booten und den Helfenden auf unserem Schiff“ habe sie ab 2017 für mehrere Monate gemacht. Bei unzähligen Einsätzen sei sie dabei gewesen, im Dauereinsatz. Erst bei einer anderen Organisation, dann fest bei Sea-Watch. „Sea-Watch stellt die Freiwilligen an vorderste Stelle“, sagt Sadik, lobt die Unterstützung der Organisation. Das sei nicht immer so.
Aufreibendes reflektieren
Nach einem halben Jahr voller Einsätze habe sie ihrer Familie davon erzählt. Von den Rettungen, den Schwerverletzten, ihren Schicksalen, den Toten. Vom 13-jährigen Jungen aus dem Sudan etwa, der ihr nüchtern vom Foltern in Gefängnissen auf der Flucht erzählt habe. „Der Junge dachte nicht einmal daran, dass es nicht normal ist, wie ein Tier behandelt zu werden“, sagt sie. Sie habe bemerkt, dass solche Geschichten auch für sie normal erschienen.
„Ich musste lernen, mit der Belastung umzugehen, auf eine produktive Weise“. Als sie in Jordanien in Camps für syrische Geflüchtete arbeitete, Abstand von der hektischen, aufreibenden Arbeit auf den Schiffen suchte, begann sie eine Psychotherapie. „Das war das Beste, was ich machen konnte“, sagt sie. Erlebtes, Aufreibendes und Verletzendes habe sie hier reflektiert und aufgearbeitet, gelernt, die eigenen Gefühle überhaupt auszusprechen und zuzugeben.
Und ihre Grenzen zu akzeptieren, sich den limitierten Einflussbereich einzugestehen. „Wir leben in einer Welt, in der Menschen ertrinken und leiden, ohne dass ihnen geholfen wird.“ Die Arbeit von ihr und anderen könne helfen, sei aber „nur ein Tropfen im Ozean“.
Fragt man Haidi Sadik, wieso sie trotz solch enormer Belastungen weitermacht, denkt sie lange nach und lächelt. „So viele Gesichter habe ich gerade vor Augen“, sagt sie und betont, nie etwas Sinnvolleres getan zu haben. Auch die Ärztin Held spricht von „Wiederholungstätern“, viele würden eine Art Sucht entwickeln. Die Gefahr, sich selbst dabei zu vergessen, ist da offenbar nicht weit. „Ich komme da eigentlich nicht mehr raus“, sagt auch Mattea Weihe, die Studentin aus Hamburg. Beruf, politische Überzeugung, Fähigkeiten, theoretisch stimmt alles. Doch die Bilder sind stark, die Anstrengung enorm. An Bord sitzt neben dem Schicksal und der Hoffnung eben auch immer die Angst.
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