Ai Weiwei über sein Exil in Deutschland: „Deutschland hat sich angestrengt“
Der Künstler Ai Weiwei möchte sein Berliner Exil verlassen. Ein Gespräch über unfreundliche Taxi-Fahrer, die Arroganz von VW und einen Schatten auf der „deutschen Seele“.
taz am wochenende: Ni hao.
Ai Weiwei: Ni hao.
Herr Ai, es heißt, Sie mögen den europäischen Brauch des Händeschüttelns nicht?
Als ich gerade in Deutschland angekommen war, haben mir die Leute manchmal die Hand gedrückt, bis die Knochen knackten. Inzwischen komme ich damit klar.
Nach Ihrer Ankunft in Deutschland 2015 haben Sie gesagt, dass Sie Deutschland lieben. Jetzt wollen Sie Deutschland den Rücken kehren. Was ist passiert?
Über Deutschland zu sprechen, ist wirklich eine komplizierte Angelegenheit. Für mich ist Deutschland immer noch die stärkste Stimme auf der richtigen Seite der Geschichte, um Barack Obama zu zitieren. Auch im Umgang mit den Flüchtlingen. Angela Merkel balanciert vieles aus. Sie hat keine Angst vor den Donald Trumps dieser Welt. Das ist die eine Seite, die oberflächliche Seite. Die andere Seite ist, dass Angela Merkel elfmal in China war. Kein Staatsoberhaupt der Welt hat das je getan. Sie mag ja von der chinesischen Kultur fasziniert sein, aber ganz wahrscheinlich geht es ihr doch eher um das Überleben Deutschlands. Sie braucht einen starken Partner. Und China ist zweifellos der begehrenswerteste Partner, den man heute haben kann.
Der Künstler
1957 in Peking geboren, 1981 bis 1993 in New York. 2008 begann Ai Weiwei zu Schulkindern zu recherchieren, die bei einem Erdbeben in Sichuan zu Tausenden in eingestürzten Schulen gestorben waren. Inhaftierung 2011, Ausreise nach Deutschland 2015.
Die Kunst
Ai Weiweis Werke kreisen um die Veränderungen in China seit der Öffnung des Landes. Er kritisiert Verstöße gegen die Menschenrechte, auch wirtschaftliche Ausbeutung. Seit seiner Ausreise hat er sich viel mit dem Thema Flucht beschäftigt.
Trotz der Unruhen in Hongkong?
Die jungen Leute dort sind mutig und klug. Aber ich fürchte, sie haben keine Chance. China wird früher oder später gewaltsam eingreifen. Und die Leute im übrigen Teil des Landes interessieren sich kaum für sie. Es heißt in China immer, dass zuerst der Wohlstand kommen muss. Aber niemand weiß, was danach kommen soll. Besonders die junge Generation ist vollkommen herzlos. Sie ist verloren. Sie interessiert sich nur noch für Autos.
Wo wir auch bei der deutschen Autoindustrie wären, der es nicht so gut geht, wie man hört. Sie braucht den chinesischen Markt.
Exakt. Volkswagen verkauft 40 Prozent der Autos nach China. Gerade hat Volkswagen eine neue Fabrik in Xinjiang gebaut.
In Xinjiang, wo gerade bis zu drei Millionen Menschen in Internierungslagern eingesperrt sind – angeblich, weil sich dort der Islamismus breit macht?
Ja, genau. Die Situation wird schlimmer und schlimmer. Mein Vater Ai Qing, der Dichter, wurde Anfang der 1950er Jahre nach Xinjiang zwangsverschickt. Das war während der Anti-rechts-Kampagne. Wir haben dort fünf Jahre lang in einem Erdloch gelebt. Er musste täglich die Latrinen für 200 Menschen leeren. Im Sommer war der Gestank unerträglich. Im Winter konnte die Temperatur auf 40 Grad unter null sinken. Die Scheiße gefror zu riesigen Pagoden. Jeder in China weiß, dass Xinjiang kein guter Ort ist, um Geschäfte zu machen. Aber Volkswagen wollte der chinesischen Regierung einen Gefallen tun. Der Konzern möchte dort Arbeitsplätze schaffen. Ich kann nur sagen: Sie feiern da oben wirklich eine gute Party!
Haben Sie auch deshalb Volkswagen verklagt?
Ich habe in Kopenhagen eine Installation mit Schwimmwesten gezeigt, die auf der Insel Lesbos nach der Rettung von Flüchtlingen am Strand liegen geblieben waren. Volkswagen hat ein Auto in leuchtendem Orange im Programm, sie parkten es vor der Installation und ließen es dort für eine Werbeanzeige fotografieren. Das war taktlos. Als ich Volkswagen darauf ansprach, reagierte man arrogant. Es hieß: „Wer kennt schon dieses Kunstwerk?“ Wirklich verrückt.
Aber Volkswagen ist nicht Deutschland. Deutschland hat sich um Sie bemüht, als sich Ihre Lage in China zuspitzte, als Sie 2011 ins Gefängnis kamen, als Sie bis kurz vor Ihrer Ausreise nach Deutschland keinen Pass hatten. Oder nicht?
Der damalige deutsche Botschafter, Michael Clauß, hat mich tatsächlich jeden Monat einmal in meinem Pekinger Studio besucht. Keiner der 150 Botschafter in China hat das getan. Es hat mich sehr beeindruckt. Clauß hat mir geholfen, aus China rauszukommen. Deutschland hat sich wirklich angestrengt. Allerdings kann ich nicht klar erkennen, warum. Ich habe den Eindruck, es ist für beide Seiten nur ein Spiel. Es ist ein Fake. Eine Art Dekoration. Eigentlich geht es um Geschäfte.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Man hat Sie mit Ihrer Familie oft spazieren gehen sehen im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, wo Sie leben und arbeiten.
Ich war hier glücklich.
Sprechen Sie ein wenig Deutsch?
Leider nein. Allerdings ist mein Englisch auch nicht so gut. Und mein Chinesisch auch nicht.
Also ist Ihr Alltag, sind die unfreundlichen Taxifahrer, die Sie anderswo erwähnten, gar nicht der Grund für Ihren Entschluss, Deutschland zu verlassen?
Ich weiß sehr wohl, dass diese Taxifahrer zur Folklore gehören. Ich weiß ebenfalls, wie man ihnen begegnet. Das ist nicht der Punkt, auch wenn die Presse das nach meiner Äußerung so dargestellt hat. Es gab eine Kolumne des Chefkommentators der Welt, die wenige Tage nach besagtem Interview erschien, in der er sich über mich lustig machte. In derselben Ausgabe der Zeitung ist eine ganzseitige Werbeanzeige von Xinhua erschienen.
Von der Nachrichtenagentur der chinesischen Regierung?
Genau. Wissen Sie: Mein damals sechsjähriger Sohn war dabei, als wir zum ersten Mal von insgesamt drei Malen aus einem Taxi geworfen wurden. Ich wollte nicht, dass er sieht, wie aggressiv ich werden kann. Es geht hier überhaupt nicht um mich selbst. Es geht ums Prinzip. Ich habe mich bei der Antidiskriminierungsstelle beschwert. Ich mag es, durch das System zu gehen. Ich habe auch in China viele Briefe an chinesische Behörden geschrieben, obwohl ich natürlich weiß, dass das zu nichts führt. Ich habe trotzdem meine Fragen gestellt. Ich besitze über 200 Antwortschreiben der chinesischen Regierung. In allen steht, dass sie meine Fragen nicht beantworten werden. Wunderschön. Ich stelle all diese Briefe gerade in den Vereinigten Staaten aus. Ein New Yorker Journalist hat mich gefragt, warum ich das immer wieder gemacht habe, obwohl ich doch weiß, dass dabei nichts herauskommt.
Was haben Sie ihm gesagt?
Man muss immer wieder das Gute prüfen, genauso wie das Böse. Ich bin im Exil groß geworden. Denken Sie, ich bin naiv? Jede Generation hat ihren Job. Ich bin stolz darauf, dass ich meinen mache.
Wie hat die deutsche Diskriminierungsstelle denn auf Ihren Brief reagiert?
Sie hat geantwortet, dass sie nichts mehr für mich tun kann, weil ich mich spätestens zwei Monate nach dem Vorfall hätte melden müssen. Meine Antwort lautete: Diskriminierung hat keine Deadline. Unsere Erinnerung hat keine Deadline.
Sie haben gesagt, dass Deutschland keine offene Gesellschaft sei. Was genau meinen Sie damit?
Als ich in China war, hat die deutsche Presse über mich berichtet wie über einen Helden des Antikommunismus. Als sei ich die einzige kritische Stimme im Land. Seit ich raus bin und mich künstlerisch vor allem mit der Situation der Flüchtlinge beschäftige, hat das Interesse nachgelassen.
Dabei sind Sie selbst ein Flüchtling, nicht wahr?
Ja.
Im Jahr 2009 haben Sie die Fassade des Hauses der Kunst in München mit 9.000 Rucksäcken bestückt. Sie wollten an die Schulkinder erinnern, die 2008 beim Erdbeben in der chinesischen Provinz Sichuan unter den Trümmern ihrer maroden Schulen gestorben sind. Die Aktion wurde von der Kritik viel gelobt. 2016 hüllten Sie die Säulen des Konzerthauses am Gendarmenmarkt in die Schwimmwesten der Flüchtlinge, die Sie später in Kopenhagen noch einmal benutzten. Das kam weniger gut an. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Ich verstehe das nicht, bis heute nicht.
Verstehen Sie die Kritik an dem Foto, auf dem Sie versuchten, das Foto des ertrunkenen syrischen Jungen Aylan Kurdi nachzustellen, das 2015 um die Welt ging?
Das Foto war eine Kritik. Wir haben bei unseren Recherchen auf Lesbos jeden Tag tote Menschen gesehen. Aylans Bruder wurde 50 Meter weiter gefunden, ebenfalls ertrunken. Aber von ihm gab es kein Foto. Aylan wurde eine universelle Obsession. Vielleicht, weil er auf dem Foto wie ein weißer Junge aussieht. Vielleicht, weil er Kleider in den Farben von Pepsi trug: rot und blau. Oder auch nur, weil er aussieht, als schliefe er. Die Menschen brauchten einen Grund zu weinen.
Verstehen Sie nicht, dass das auf viele pietätlos wirkte?
Ich finde, Künstler dürfen alles. Die Kunst ist frei.
Warum ist Ihr Dokumentarfilm „Human Flow“ über die Flüchtlinge nicht so gut aufgenommen worden?
Ich habe für diesen Film 40 Flüchtlingslager in 23 Ländern besucht und mehr als 360 Interviews geführt. Und ich habe so gut wie keine Interviewanfrage aus Deutschland erhalten, als der Film fertig war. Dabei sind die deutschen Medien die kritischsten der Welt. Selbst in China haben mich alle großen Medien um ein Interview gebeten, als es um die Kinder in Sichuan ging. Selbst in China!
Und wie hat das Publikum den Film aufgenommen?
Der Film hatte in Deutschland im Vergleich mit allen anderen europäischen Ländern, in denen er lief, die schlechtesten Zuschauerzahlen.
Kann es sein, dass der Film mit 200 Minuten einfach zu lang war? Das ist ja nicht gerade gute Unterhaltung für den entspannten Feierabend.
Ich möchte da nicht so in die Tiefe gehen, aber ich glaube wirklich, dass auf der deutschen Seele ein Schatten liegt. Und oft tun die Deutschen sehr viel dafür, diesen Schatten nicht anzurühren. Das ist falsch. Jede Gesellschaft kennt dunkle Flecken. Selbst Verbrechen sind menschlich. Wir sollten uns mit diesen beschäftigen. Ich will Ihnen ein anderes Beispiel nennen: Vor Kurzem habe ich eine Anfrage von einem deutschen Museum bekommen, ob ich mich an einer Ausstellung über Elefanten beteiligen möchte. Ich habe vorgeschlagen, mich mit der Asche toter Elefanten auseinanderzusetzen. In Afrika wird ja immer wieder Elfenbein verbrannt, wegen der Wilderei. Der Kurator, ein sehr kluger Intellektueller, wurde plötzlich nervös. Er fand, man sollte keine Asche zur Sprache bringen. Das könne die Leute zu sehr an den Zweiten Weltkrieg erinnern.
Ai Weiwei
Sind wir nun bei der schwierigen Schuldfrage angelangt?
Diese Frage sollte Geschichte sein. Wir leben im 21. Jahrhundert! Ich denke, wir sind moderne Menschen und haben die Möglichkeit, unsere Positionen zu korrigieren. Wir strukturieren uns durch Wissen. Keiner wird schlecht geboren.
Aber können Sie nicht ein wenig nachsichtig mit uns Deutschen sein?
Ich habe mich nach all diesen Erlebnissen immer öfter gefragt: Warum bin ich hier? Ich bin 63. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich brauche einen Ort, an dem ich mich frei ausdrücken kann. Und an dem meine Stimme gehört wird. Warum bin ich wohl an all diese Orte gereist, nach Gaza, nach Griechenland, in die Türkei, nach Bangladesch? Ich will Kommunikation. Ich will nicht als Held wahrgenommen werden, sondern als Kämpfer.
Warum liebten Sie die Deutschen so, als Sie noch in China waren?
Die Deutschen lieben Helden.
Kann es sein, dass Sie für die Deutschen eine Art Projektionsfläche waren?
Sie meinen, dass sie mich nutzen konnten, um sich wie die größten Verteidiger der Menschenrechte zu fühlen?
Ja.
Das ist möglich. Die Deutschen verstehen nicht, dass ich nach wie vor für die Menschenrechte und die menschliche Würde kämpfe, wenn ich mich mit Flüchtlingen beschäftige. Sie verstehen nicht, dass mein Thema die Ungerechtigkeit ist, ganz egal, wo sie geschieht. Dass ich eben einfach so ein Mensch bin.
Was sind Sie denn für ein Mensch?
Ich kann einfach nicht anders. Die Welt dreht sich weiter und ich werde sie nicht aufhalten. Ich bin nur einer von vielen. Ich bin nicht immer sehr umgänglich. Ich mache ein bisschen Lärm. Na und? Wundert es Sie wirklich so sehr, dass ich keine Lust habe zu jubeln und immer wieder zu betonen, wie dankbar ich doch bin, in so einer tollen, liberalen und multikulturellen Stadt voller Kultur zu leben, die wir alle sehr lieben?
Das ist wirklich nicht verwunderlich. Aber welche Pläne haben Sie denn jetzt?
Ich bin dumm. Ich habe angekündigt, Deutschland zu verlassen, aber ich habe noch gar keinen Plan! Mein Sohn wird künftig in Cambridge zur Schule gehen. Ich werde ihn dort hinbringen, aber nicht bleiben. England hat weitaus größere Probleme als Deutschland. Ich werde mein Studio in Berlin behalten, aber die Stadt verlassen und wieder ein Reisender zwischen den Welten sein.
Hatten Sie nie Sehnsucht nach einer Art Heimat?
Ich weiß gar nicht, was das ist. Stattdessen bin ich gut dafür gerüstet, ein Staatsfeind zu sein. Machen Sie sich keine Sorgen um mich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!