piwik no script img

Afghanistan nach dem AbzugTaliban nehmen Städte ein

Binnen 24 Stunden erobern die Islamisten in Afghanistan zwei Provinzhauptstädte. Auch in Kundus, wo die Bundeswehr stationiert war, gibt es heftige Angriffe.

In der afghanischen Hauptstadt Kabul kommt es immer wieder zu Angriffen Foto: Stringer/reuters

Kabul dpa | Binnen 24 Stunden haben die militant-islamistischen Taliban eine zweite Provinzhauptstadt in Afghanistan eingenommen. Lokalen Behördenvertretern zufolge ist die Stadt Schiberghan der Provinz Dschuzdschan im Norden des Landes am Samstag an die Islamisten gefallen. Erst am Freitag war die kleine Provinzhauptstadt Sarandsch an der iranischen Grenze an die Taliban gefallen. Auch in anderen Städten dauerten heftige Gefechte an.

Seit dem Beginn des Abzugs der US- und Nato-Truppen Anfang Mai haben die Taliban mehrere Offensiven in dem Land gestartet. Erst konnten sie vor allem im ländlichen Raum massive Gebietsgewinne verzeichnen. Danach eroberten sie mehrere Grenzübergänge. Nun liegt ihr Fokus offenbar auf den Hauptstädten der 34 Provinzen des Landes.

Dem Fall von Schiberghan gingen heftige Kämpfe voraus, sagten Provinzräte. Schlüsseleinrichtungen der Stadt hatten am Freitag mehrmals die Kontrolle gewechselt. Am Samstag brachten die Islamisten die wichtigsten Regierungsgebäude unter ihre Kontrolle – das Polizeihauptquartier, das Gefängnis und den Gouverneurssitz.

Sicherheits- und Pro-Regierungskräfte haben lokalen Behördenvertretern zufolge auch den Sitz des Geheimdienstes und das Haus des ehemaligen Kriegsfürsten und Vizepräsidenten Abdul Raschid Dostum verlassen und sind lediglich noch im Gebiet rund um den Flughafen und in einer Militärbasis.

Schiberghan liegt rund 130 Kilometer von Masar-i-Scharif entfernt an einer wichtigen Ost-West-Verbindung in Nordafghanistan. Die Stadt mit geschätzt 130.000 Einwohnern gilt als wichtiges Tor zu den nördlichen und nordöstlichen Regionen des Landes.

Sie ist seit Langem der Machtsitz von Dostum. Als Teil der sogenannten Nordallianz bekämpften dessen Milizen im Bürgerkrieg der 1990er Jahre die Taliban. Dostum galt als besonders grausam gegenüber den Islamisten. In den aktuellen Gefechten um die Stadt waren seine Milizen unter Führung seines Sohnes im Einsatz, Dostum selbst war erst diese Woche nach einem Auslandsaufenthalt wegen einer Krankheit nach Kabul zurückgekehrt.

USA bitten Bürger „nachdrücklich“, das Land zu verlassen

Der Ex-General Atikullah Amarchail sagte, der Fall der Provinzhaupstadt von Dostums Geburtsprovinz werde negative Folgen auf die Moral der Sicherheitskräfte im Land haben. „Die Menschen und Soldaten hier dachten, dass Dostum übermenschliche Fähigkeiten im Kampf gegen die Taliban hat“, sagte Amarchail. Andere Beobachter erklärten, es sei unklar, ob die Bewohner von Schiberghan eine Taliban-Kontrolle einfach hinnehmen würden. Ein Parlamentarier aus der Provinz sagte, der Sohn von Dostum bereite an der Stadtgrenze bereits einen Gegenangriff vor.

Heftige Taliban-Angriffe mussten Sicherheitskräfte am Samstag zudem in den Städten Kundus und Faisabad im Norden sowie Laschkargah im Süden abwehren. Provinzräte aus Faisabad sagten, die Islamisten hätten die Stadt aus fünf verschiedenen Richtungen angegriffen, seien aber auf starken Widerstand der Polizei und Armee gestoßen. Auch in Kundus rückten die Islamisten auf mehrere Polizeibezirke der Stadt gleichzeitig vor. Alle Geschäfte und Behörden seien wegen der Kämpfe geschlossen, es gebe zivile Opfer.

Im Moment sehe es so aus, als ob die Taliban schneller vordrängen als von allen erwartet, sagt der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network zur Deutschen Presse-Agentur. „Die US-Truppen haben noch nicht einmal vollständig das Land verlassen, da greifen sie schon Provinzstädte an.“

Es sei „bemerkenswert“, dass Sarandsch am Freitag wohl kampflos fiel. „Nun, da Schiberghan im Gegensatz dazu bei heftiger Gegenwehr fällt, sollte niemand mehr die militärischen Fähigkeiten der Taliban unterschätzen“, sagte Ruttig weiter. Immerhin würden sie zeitgleich in vielen Regionen angreifen. „Bis Kabul aber ist es trotzdem noch ein langer Weg.“

Die US-Botschaft in Kabul gab am Samstag eine neue Sicherheitswarnung heraus und forderte alle US-Bürger erneut „nachdrücklich“ auf, das Land zu verlassen. Die US-Militärmission in Afghanistan endet am 31. August. Der Abzug ist US-Angaben zufolge zu mehr als 95 Prozent abgeschlossen. Die Bundeswehr hat das Land bereits Ende Juni verlassen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
  • Schon die Briten, die seinerzeit, der kaiserlich-russischen Armee zuvorkommen wollten, mussten sich - nach drei anglo-afghanischen Kriegen - aus Afghanistan zurückziehen. Wenig später trat erstmals ein pakistanischer Import namens „Taliban“ auf die politische Bühne. Fanatische Islamisten, von denen ein Bericht der Vereinten Nationen Zeugenaussagen zitiert, die beschreiben, dass „arabische Milizionäre lange Messer mit sich trugen, mit denen sie Kehlen aufschnitten und Menschen häuteten.“



    Nach der Annäherung des unabhängigen Afghanistan an die Sowjetunion marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Aus dem Bürgerkrieg wurde ein Stellvertreterkrieg, den die sowjetischen Truppen 1989 dann völlig entnervt aufgaben und wieder abzogen. Nach endlosen Stammesfehden übernahmen die Taliban 1994 die Macht in verschiedenen südlichen und westlichen Provinzen Afghanistans. Bis März 1995 hatten die Taliban sechs Provinzen eingenommen und Kabul erreicht. Ahmad Schah Massoud blieb der einzige Kommandeur, der seine Gebiete ab 1998 erfolgreich gegen die Taliban verteidigen konnte. Dann jedoch intervenierte Pakistan militärisch auf Seiten der Taliban. Im Frühling 2001 sprach Massoud vor dem Europäischen Parlament in Brüssel und bat die internationale Gemeinschaft um humanitäre Hilfe für die Menschen Afghanistans. Er sprach auch davon, dass sein Geheimdienst Informationen von einem bevorstehende Terror-Anschlag auf amerikanischem Boden hätte. Was am 11.September 2001 geschah, ist bekannt und führte dann im Oktober 2001 zu einer Invasion Afghanistans durch ein Militärbündnis unter der Führung Amerikas, der sogenannten „Vereinten Front“ mit dem Segen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Mit Donald Trump wurde das hinfällig. Was nun? Soll man auch noch die Schweizer Garde mal dahinschicken, oder muss man sich ehrlich machen, dass nur die Afghanen selbst eine Lösung herbeiführen können? Ohne Unterstützung - auch militärisch - wird das aber wohl nie gelingen können.

  • Was für ein schrecklicher Egoismus, den Vormarsch der antimodernen Taliban zuzulassen!

  • Wir sollten respektieren, wie sich Afghanistan nach der Befreiung von den Besatzern neu konstituiert. Durch die westliche Brille betrachtet, mag manches nicht verständlich erscheinen, aber jede Kultur hat das Recht, für sich selbst zu entscheiden.

    • @C.O.Zwei:

      Wo entscheidet denn hier jemand "für sich selbst"? Es ist pure militärische Macht, die hier entscheidet. Oder fragen Sie doch einfach mal die Frauen in Afghanistan, ob es deren Entscheidung ist, wenn sie demnächst wieder unter der Knute der Taliban leben müssen.



      Kultur ist was anderes.

      • @mwanamke:

        Es scheint aber einigen Rückhalt in der Bevölkerung zu geben, wenn die Taliban teilweise kampflos ganze Landstriche übernehmen können. Die afghanische Regierung hatte 20 Jahre lang militärisch deutlich mächtigere Verbündete auf ihrer Seite, hat aber offenbar keine attraktive Alternative zu einer religiösen Diktatur entwickeln können/ wollen

        • @Frank Martell:

          Die afghanische Armee ist sich ihrer militärischen Unterlegenheit bewusst, entsprechend demoralisiert, so dass deren Soldaten eher zur Flucht als zum Kampf bereit. Und zugegeben, ich würde mich als im Kampf unausgebildeter und unbewaffneter Zivilist auch keinem einrückenden, militärischen Kampfverband entgegenstellen. Das teilweise kampflose Vorrücken der Taliban-Verbände ist kein Zeichen von Zustimmung, sondern von Angst.

          • @Ingo Bernable:

            Da gebe ich Ihnen schon recht, ich hätte auch keine Lust, gegen diese Leute zu kämpfen. Afghanische Armee und Polizei sollten es hingegen schon als ihre Aufgabe begreifen. Worauf ich aber eigentlich hinaus wollte ist, dass die Taliban keine Fremdkörper sind, sie sind Teil der Gesellschaft, in den Dörfern weiß man sicherlich, wer dazu gehört und gewiss haben sie all die Jahre Unterstützung aus der Bevölkerung erhalten, zumindest beim Untertauchen.



            Wenn Afghanen diesen Kampf nicht führen wollen, warum sollten Amerikaner, Briten oder Deutsche es tun? Die Individuen meine ich, nicht die Staaten

    • @C.O.Zwei:

      Das würde auch bedeuten, China in Tibet weiter klaglos schalten und walten zu lassen, sämtliche Bürgerkriege in Afrika hinzunehmen und Russland zu erlauben, die Opposition zu ermorden. Denn „jede Kultur hat (ja schließlich) das Recht, für sich selbst zu entscheiden“. Etwas zynisch, finden Sie nicht? Aber klar, jetzt wo das Land (erneut) im Chaos, Krieg und religiösen Wahn versinkt und blöderweise niemand mehr den ausländischen „Besatzern“ die Schuld daran geben kann, wird’s halt schwierig mit der Argumentation…

    • @C.O.Zwei:

      Die Taliban sind die Kultur in Afghanistan? Nein, sie wollen die Herrschaft und alle anderen werden mit gewaltsam unterjocht. Die Menschen haben eben nicht das Recht für sich selbst zu entscheiden.

    • @C.O.Zwei:

      Ich les, "Eroberung" und "zivile Opfer". Das klingt nicht nach willkommen. Fußball, Fernsehen, Musik, alles verboten. Und ob die Frauen den Einmarsch begrüßen? I doubt it.

    • 1G
      17900 (Profil gelöscht)
      @C.O.Zwei:

      Keine Kultur hat das Recht seine eigenen Leute zu ermorden.