Vormarsch der Taliban in Afghanistan: Unheilvolle Vorahnung
In den meisten eroberten Gebieten Afghanistans geben sich die Taliban bislang weniger extrem als befürchtet. Vor allem Frauen sind aber auf der Hut.
Gleichzeitig hielten im südafghanischen Laschkargah die Kämpfe um den Gouverneurssitz, das Provinzgefängnis, in dem viele Talibankämpfer sitzen, und die Stützpunkte von Armee, Polizei und Geheimdienst an. Die Bevölkerung sollte wegen einer Gegenoffensive der Armee die Stadt verlassen. Das setzte eine neue Fluchtwelle in Gang. Bis Dienstag waren bereits 18.000 Familien geflohen.
Auch in der drittgrößten Stadt Kandahar sowie nahe der nordafghanischen Provinzhauptstadt Schibarghan hielten Kämpfe an. In Herat, wo Taliban am Freitag einen Wachmann vor einem UN-Büro erschossen, scheint sich die Lage beruhigt zu haben.
Der afghanischen Menschenrechtskommission liegen Berichte von Augenzeugen vor, dass Taliban nach ihrer Eroberung der Grenzstadt Spin Boldak im Juli nahegelegene Dörfer durchkämmt und mindestens 40 Menschen getötet haben sollen. Ähnliches soll sich im Distrikt Malistan in der Provinz Ghasni abgespielt haben. Die Kommission weist aber darauf hin, dass bei einigen der Morde „persönliche Motive“ im Spiel gewesen seien, nämlich Rache für eine Reihe von Folter und Mord durch die örtliche Polizei.
Taliban hält Kliniken und Behörden am Laufen
In den meisten eroberten Gebieten zeigen sich die Taliban laut Beobachtern erstaunlich „weich“. Sie beschränkten sich – jedenfalls bisher – darauf, in den Moscheen dazu aufzurufen, dass Männer sich an die islamische Bart- und Kleiderordnung halten und die Menschen „vermeiden“ sollten, fernzusehen und Smartphones zu verwenden. Über Verhaftungen oder Hausdurchsuchungen, um wie zu ihrer Regierungszeit bis 2001 diese Aufrufe auch durchzusetzen, wurde bisher nicht berichtet. Auch Anfragen der taz in mehreren Provinzen ergaben nichts.
Im Distrikt Surmat im Südosten verhinderten die Taliban laut Stammesältesten und Aktivisten, dass die Bevölkerung wie andernorts Verwaltungsgebäude plünderte. Auch Kliniken blieben geöffnet. In mehreren Provinzen forderten sie die Behörden auf, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Dem wurde wegen des Misstrauens den Aufständischen gegenüber nur sporadisch Folge geleistet, besonders unter Frauen.
Ein Stammesältester in der Ostprovinz Laghman sagte der taz, weibliche Angestellte der örtlichen Bildungs- und Gesundheitsverwaltung würden weiter arbeiten und seien auch nicht aufgefordert worden, nur in männlicher Begleitung außer Haus zu gehen. Solche Vorfälle wurden etwa aus den Provinzen Tachar und Dschusdschan gemeldet. Zu den befürchteten Schulschließungen, besonders für Mädchen, kam es nicht, da Unterricht wegen der Coronapandemie ohnehin nicht stattfindet.
Schulen und Verwaltungen offenzuhalten, ist laut Talibansprecher Sabihullah Mudschahed offiziell Politik der Bewegung. Er bezeichnete auch Berichte, dass Frauen außer Haus männliche Begleitung benötigten, als „Gerüchte“. Was nicht heißt, dass sich Talibankämpfer auch überall daran halten.
Frauen finden in Kabul Unterschlupf
Berichte, die Taliban hätten angeordnet, alle unverheirateten Frauen hätten sich registrieren zu lassen, um mit Kämpfern verheiratet zu werden, gehören wohl tatsächlich ins Reich der psychologischen Kriegsführung. Viele Beobachter halten in mehreren Provinzen aufgetauchte Kopien eines solchen Edikts mit Taliban-Briefkopf für eine geheimdienstliche Fälschung. In der Provinz Bamian scheint ein talibanfreundlicher Mullah allerdings versucht zu haben, dies tatsächlich umzusetzen. Der betroffene Bezirk fiel aber bereits nach zwei Tagen zurück an die Regierung.
Trotzdem haben Familien aus mehreren Provinzen ihre weiblichen Angehörigen nach Kabul geschickt, um der Gefahr solcher Übergriffe zu entgehen. Es gibt auch keine Garantie, dass die Taliban ihre überwiegend weiche Linie nach einer Machtkonsolidierung beibehalten werden.
So weit ist es allerdings noch nicht. In Kabul und anderen Städten waren bereits vor dem gestrigen Anschlag Hunderte Menschen gegen die Talibangewalt mit den Rufen „Gott ist groß“ und „Freiheit“ auf die Straßen geströmt. Ein Aktivist aus Laghman sagte aber der taz, er bezweifle, dass viele Menschen dem Aufruf der Regierung folgen würden, sich gegen die Taliban zu bewaffnen. „Nachdem so viele Distrikte gefallen sind, ist es dafür zu spät.“
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