Abschiebungen nach Afghanistan: Die Sammelflüge starten weiterhin
Kabul hat Europa gebeten, Abschiebungen auszusetzen. Doch Deutschland, Großbritannien, Dänemark und die Schweiz setzen ihre Praxis fort.
Seit Dezember 2016 hat Deutschland 1.104 Afghanen in 40 Sammelflügen nach Kabul abgeschoben. Der letzte erfolgte am 6. Juli von Hannover. Bund und Länder rechtfertigen die Abschiebungen damit, dass die Sicherheit der Abgeschobenen nicht in allen Landesteilen gefährdet sei. Ob dies auch nach dem Abzug der Nato-Truppen zutreffe, ließen Innenministerium und das Auswärtige Amt (AA) auf Anfrage der taz unbeantwortet. Das AA verweist auf seinen neuen Lagebericht, der „in Kürze“ übermittelt werde.
Vor wenigen Tagen noch sagte Außenminister Heiko Maas (SPD), er halte Abschiebungen nach Afghanistan trotz der Gewaltzunahme für vertretbar. Flüchtlingsräte, Kirchen und Teile der Opposition hingegen fordern einen sofortigen Abschiebestopp. Wie eine Studie der Universität Bern zeigt, droht abgeschobenen Afghanen Verfolgung und Gewalt.
Dem AA sind nach eigenen Angaben keine derartigen Fälle bekannt. Trägt der neue Lagebericht der Realität vor Ort Rechnung, müsste das Einfluss auf die Asyl-Entscheidungen beim Bamf haben. Aktuell erhalten nur 37,5 Prozent der Afghanen einen Schutzstatus. Pro Asyl wirft dem Bamf vor, die Schutzquoten aus politischen Gründen gering zu halten. Wohl nicht zu Unrecht: Im vergangenen Jahr wurden Tausende Bamf-Entscheidungen vor Gericht kassiert.
Ralf Pauli, Berlin
Amnesty fordert in Großbritannien mehr Schutz
Auch Großbritannien schiebt weiterhin Menschen nach Afghanistan ab. Das bestätigt das britische Büro von Amnesty International. Laut Angaben des britischen Innenministeriums gegenüber der taz, prüft die Regierung noch das Gesuch Kabuls. Eine offizielle Reaktion steht jedoch aus.
Der Direktor für Flüchtlings- und Migrationsrechte bei Amnesty, Steve Valdez-Symonds, hatte dem zuständigen parlamentarischen Ausschuss gegenüber bereits die eskalierende Situation in Afghanistan betont. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit, mehr geflüchteten Afghan*innen Asyl zu gewähren. Der Ausschuss selbst kam im März 2021 zu der Schlussfolgerung, dass je nach Ausgang der Friedensgespräche zwischen afghanischer Regierung und Taliban, die britische Regierung der Tatsache ins Auge sehen müsse, „dass die Umstände für eine permanente Abschiebung von Asylsuchenden nach Afghanistan nicht mehr bestünden.“
Damals antwortete die britische Regierung noch, dass alle Asylanträge von Afghan*innen individuell und mit Vorsicht überprüft werden würden. Sie gab an, dass britische Gerichte die Lage in Afghanistan wiederholt zwar als instabil beschrieben hätten, nicht aber als zu unsicher für Rücksendungen.
Laut Angaben von Migration Observatory, einem Analyseprojekt der Universität Oxford, gab es im Jahr 2020 1.546 Asylgesuche von Menschen aus Afghanistan, das waren 4 Prozent aller Asylbewerbungen. 68 Prozent davon erhielten ein Bleiberecht. 289 Personen wurden im gleichen Jahr nach Afghanistan zurückgeschickt. Insgesamt leben laut Schätzungen des britischen statistischen Amtes (ONS) fast 80.000 in Afghanistan geborene Menschen im Vereinigten Königreich.
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski, London
Dänemark zögert, Finnland prescht vor
Ebenso hat Dänemark die Aufforderung der afghanischen Regierung noch nicht offiziell beantwortet. Das zuständige Ministerium bestätigte lediglich, dass man das Schreiben aus Kabul erhalten habe: Es werde „derzeit geprüft“. Unklar blieb auch, ob die Regierung einen übergeordneten Beschluss zu dieser Frage treffen wird, oder die Entscheidung im Einzelfall dem „Flygtningenaevnet“, einer gerichtsähnlichen Verwaltungsinstanz, die über Abschiebungen entscheidet, überlassen will.
Dänemark hatte 2019 27 Menschen nach Afghanistan abgeschoben, im vergangenen Jahr waren es 7. Gegen rund 50 afghanische StaatsbürgerInnen sind gerichtlich Ausweisungsentscheidungen ergangen und sie warten derzeit noch auf ihre Abschiebung.
Über die Haltung Dänemarks tobt eine politische Diskussion. Marcus Knuth, der Migrationssprecher der oppositionellen Konservativen, sprach sich gegen einen Abschiebestop aus: „Wir haben hier schon viel zu viele ausgewiesene Asylsuchende.“ Eine gegenteilige Meinung äußerte Kristian Hegaard von den linksliberalen Radikalen: Es handle sich nur um drei Monate, das sei kein Problem. Komme die Regierung zu einer anderen Einschätzung, erwarte man eine gute Begründung. Hegaard verwies auf Finnland, das als erstes nordisches Land mit einem dreimonatigen Abschiebestopp reagierte. Auch die schwedische Regierung teilte am Freitag mit, Abschiebungen auszusetzen.
Auch in Oslo wird offiziell noch „geprüft“. Aus Schweden wird derzeit sowieso nicht zwangsweise abgeschoben, weil Kabul einen Covid-19-Test verlangt. Nach schwedischem Recht kann niemand zu so einem Test gezwungen werden.
Reinhard Wolff, Stockholm
Weitere „Ausschaffungen“ in der Schweiz
144 Asylsuchende aus Afghanistan müssen in der Schweiz derzeit zittern: Denn sie sind jung, gesund und haben nach Ansicht der zuständigen Behörden familiäre oder andere enge Bindungen in Afghanistan. So lauten ganz grob die Voraussetzungen für die Einzelfallprüfung, die das zuständige Schweizer Staatssekretariat für Migration durchführt.
Abgeschoben wird derzeit nur in die drei Städte Kabul, Herat und Masar-e Scharif. Doch selbst dort sei die Lage viel zu gefährlich, warnen Organisationen wie die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Abschiebeflüge waren wegen der Coronapandemie zwischenzeitlich ausgesetzt worden. Dass sie ausgerechnet jetzt wieder aufgenommen werden sollen, sei absolut unverständlich, so die Organisationen.
Wenn es um Asylverfahren geht, dann gelten die Schweizer Behörden als strikt. Immer wieder werden auch Afghanen, die als gut integriert gelten, „ausgeschafft“, wie es in der Schweiz heißt.
2020 stellten 1.681 Afghaninnen und Afghanen ein Asylgesuch, nach Flüchtenden aus Eritrea stellen sie die größte Gruppe dar. Statistisch wird in der Schweiz jeder dritte Asylantrag anerkannt, fast noch einmal so vielen wird Schutz gewährt.
Obwohl die Zahlen der Asylbewerber und -bewerberinnen mit 11.000 so gering sind wie lange nicht, bleibt das Thema politisch weiterhin heikel. Die rechtsnationale SVP, die die Angst vor zu vielen Flüchtlingen regelmäßig schürt, wirbt etwa für das „dänische Modell“, bei dem Asylverfahren in Drittstaaten ausgelagert würden. Das Staatssekretariat lehnt den Vorstoß ebenso ab wie den eines sozialdemokratischen Abgeordneten, der Asylanträge in Schweizer Botschaften ermöglichen möchte.
Marc Engelhardt, Genf
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