Migrationspolitik von Schwarz-Rot: Erneut Abschiebungen nach Afghanistan
Bis zu 50 Afghanen sitzen in Abschiebehaft. Die Bundesregierung bereitet offenbar einen Abschiebeflug vor – womöglich schon für die kommende Woche.

Mitte Juni hätten bundesweit noch 40 bis 50 straffällig gewordene afghanische Geflüchtete eingesessen, berichteten die Diakonie Rheinland-Pfalz, der dortige Flüchtlingsrat sowie der Initiativausschuss für Migrationspolitik kürzlich in einem gemeinsamen Statement. Neben Rheinland-Pfalz seien weitere Fälle aus Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen bekannt. Die taz fragte bei den zuständigen Ministerien in den fünf Bundesländern nach.
Im Freistaat Bayern sitzen dem Innenministerium zufolge derzeit fünf afghanische Staatsangehörige in Abschiebehaft. Auch in Nordrhein-Westfalen gilt dies für fünf Personen, wie eine Sprecherin des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration mitteilte. In Rheinland-Pfalz sei laut des zuständigen Familienministeriums auf Antrag von Kommunen „für eine mittlere einstellige Anzahl von Personen“ Abschiebungshaft durch das jeweils zuständige Amtsgericht angeordnet worden. Sachsens Innenministerium verweigerte eine Antwort und erklärte lediglich, „abschieberelevante Aspekte“ seien „nicht Gegenstand öffentlicher Auskunft.“
Baden-Württemberg gab an, dass sich neun Untergebrachte mit afghanischer Staatsangehörigkeit in der Abschiebungshafteinrichtung Pforzheim befänden, 2025 seien fünf afghanische Staatsangehörige wegen gerichtlicher Entscheidungen aus der Abschiebungshaft entlassen worden. Dazu, ob konkrete Abschiebungen nach Afghanistan aktuell in Vorbereitung seien, wollte sich das Ministerium in Baden-Wüttemberg nicht äußern, dies falle in die Zuständigkeit des Bundesinnenministeriums.
Laut Sächsischem Flüchtlingsrat säßen Afghanen unter anderem in der Abschiebehaftanstalt Dresden und in Abschiebeeinrichtungen in Pforzheim (Ba-Wü), Büren (NRW) und Ingelheim (RLP). Einige, etwa in Sachsen, gehörten zur diskriminierten Minderheit der Hasara und fürchteten „Verfolgung als Oppositionelle, ‚verwestlichte‘ Rückkehrer oder Taliban-Kritiker“. Einige hätten keine Familie mehr in Afghanistan, und damit auch kein soziales Auffangnetz. Auch das schließt eigentlich eine Abschiebung aus.
Abschiebehaft kann bis zu sechs Monate dauern
Abschiebehaft kann angeordnet werden, wenn ein ausländischer Staatsbürger unmittelbar ausreisepflichtig ist und Deutschland nicht freiwillig verlässt. Ein Gericht dürfe das in der Regel aber nur dann, „wenn es keine andere Möglichkeit sieht, die Ausreise durchzusetzen beziehungsweise eine 'erhebliche Fluchtgefahr’ besteht“, schreibt der Mediendienst Integration.
In Abschiebehaft genommen werden können demzufolge auch Ausreisepflichtige, von denen eine „Gefahr für Leib und Leben Dritter“ ausgehe. Sie könne bis zu sechs Monaten und „in Ausnahmefällen“ bis zu 18 Monaten dauern. Nach der EU-Rückführungsrichtlinie müssen Abzuschiebende in gesonderten Hafteinrichtungen untergebracht werden, getrennt von Straftätern.
Die Initiativen aus Rheinland-Pfalz kritisiert, Abschiebehaft „ohne konkrete Aussicht“ auf eine Abschiebung sei unzulässig. Dass diese besteht, sieht eine zunehmende Zahl von Gerichten offensichtlich als nicht mehr gegeben an. In mehreren Fällen verlängerten sie die Haft nicht mehr. Einige Inhaftierte mussten inzwischen freigelassen werden. Andere Gerichte verlängerten jedoch die Abschiebehaft, in mindestens einem Fall sogar bis September.
Wie viele Afghanen wurden 2025 aus Abschiebehaft entlassen – und warum? Auf taz-Nachfrage antwortet Bayerns Innenministerium, dass eine Person aufgrund einer „Stornierung der Flugverbindung“ entlassen wurde, während 19 Personen im Rahmen des Dublin-Verfahrens in andere EU-Mitgliedsstaaten überstellt worden seien. 31 Personen wurden demnach abgeschoben, eine Person sei freiwillig ausgereist, bei einer weiteren war der Antrag auf Haftverlängerung abgelehnt worden. Bei drei weiteren Entlassungen aus der Abschiebehaft lagen andere Gründe vor.
In NRW wurden dem Ministerium zufolge 46 Afghanen aus der „Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige“ in Büren entlassen. In 45 Fällen erfolgte die Überstellung an einen anderen EU-Mitgliedsstaat, in einem Fall sei eine richterliche Anordnung der Grund gewesen. In Rheinland-Pfalz liegt laut Ministerium für die Zahl der in diesem Jahr aus Abschiebehaft entlassenen afghanischen Staatsbürger „keine statistische Erfassung“ vor.
Rückführungen dank „Schlüsselpartner“ Katar?
Es könnte also sein, dass die Bundesregierung jetzt noch schnell die Verbleibenden ausfliegen möchte, weil ansonsten die Prozedur erneuter Inhaftierungen und Flugtauglichkeitsuntersuchungen von vorn beginnen müsste. Zudem würde sie sich der Kritik in den eigenen Reihen sowie von weiter rechts aussetzen, dass sie ihre im Koalitionsvertrag versprochenen Afghanistan-Abschiebungen nicht umsetze.
Noch Mitte Juni hatte ein Landesinnenministerium einem Gericht mitgeteilt, der „regionale Schlüsselpartner“ habe die Bundesregierung informiert, er könne „Rückführungsmaßnahmen“ „sehr zeitnah“ ermöglichen.
Es wäre die zweite solche Sammelabschiebung aus Deutschland seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 und die erste unter der schwarz-roten Koalition. Im August 2024 waren 28 Afghanen mit einem vom Golfstaat Katar gestellten Flugzeug vom Flughafen Leipzig/Halle in Sachsen nach Kabul verbracht worden. Frauen und Familien werden – jedenfalls bisher – nicht abgeschoben. Frauen genießen nach einem Spruch des Europäischen Gerichtshofs im Oktober 2024 generell europaweit Schutz.
Katar sei wohl jener „regionale Schlüsselpartner“, der offenbar auch den neuen Abschiebeflug gegenüber den Taliban vermitteln soll, vermutet der Sächsische Flüchtlingsrat. Dieser Begriff taucht auch in mehreren Gerichtsentscheiden auf, die der taz vorliegen, sowie in der Bundespressekonferenz vom vergangenen Freitag, als Journalist*innen nach den Abschiebungen fragten. Die Taliban würde die Bundesregierung kaum so nennen.
Deutschland erkennt deren Regime nicht an, hat aber „technische Kontakte“ dorthin zugegeben. Auf die Frage, ob es auch Direktgespräche mit Taliban-Vertretern über Abschiebepläne gäbe, antwortete das Auswärtige Amt am Sonntag, es würden bisher keine Gespräche mit dem Flüchtlingsministerium der de-facto Regierung geführt. Ein Welt-Reporter berichtete jedoch nach einem kürzlichen Kabul-Besuch, der Sprecher des dortigen Flüchtlingsministeriums habe „Vertreter der Bundesregierung“ schon in seinem Büro gesprochen.
Dobrindt: Kontakt über Dritte soll keine Dauerlösung sein
Die Bundesregierung möchte das für regelmäßige Abschiebungen sogar verstetigen. Der Weg über Katar ist ihr zu umständlich. Innenressortchef Alexander Dobrindt (CSU) sagte Anfang Juli in den Medien: „Nach wie vor braucht es Dritte, um Gespräche mit Afghanistan zu führen. Eine Dauerlösung darf das so nicht bleiben.“
Dabei möchte auch der frühere BND-Chef August Hanning helfen. Jetzt für seine eigene Beratungsfirma unterwegs, traf er vorige Woche in Berlin den früheren afghanischen Staatspräsidenten Hamed Karsai. Das wirbelte einigen Staub auf, auch, da Hanning hinterher behauptete, die Taliban hätten Karsai autorisiert, mit Deutschland über Abschiebungen zu sprechen.
Hamid Sidig, ehemaliger afghanischer Botschafter in Deutschland, der nach eigener Aussage bei dem Treffen dabei war, wies das gegenüber der taz „kategorisch“ zurück. Vorstellungen über die Rückkehr von Afghanen aus Deutschland hätten mit Karsai „nichts zu tun“, sondern entsprängen nur den „Ideen“ der Gesprächspartner. Hanning ließ später verlauten, dass er „nicht im Auftrag der Bundesregierung“ gehandelt habe. Ein Sprecher des Auswärtigen Amt antwortete auf taz-Anfrage lediglich, man habe „keine Erkenntnisse zu Gesprächen“. Ähnlich äußerte sich das Innenministerium.
Regierungssprecher Stefan Kornelius sagte, es gehe nicht um ein Abkommen mit den Taliban. Vorgängerbundesregierungen und die EU schlossen schon mit afghanischen Vorgängerregierungen nicht „Abkommen“, sondern einen „gemeinsamen Weg vorwärts“ zur Kooperation in Migrationsfragen – damals, um eine Mitsprache des Parlaments in Kabul zu umgehen.
Taliban will Direktgespräche mit Berlin
Die Taliban sind explizit bereit, auch eine größere Zahl afghanischer Landsleute aus Deutschland zurückzunehmen, sogar Kriminelle. Ihre Bedingung allerdings: Direktgespräche mit Berlin, nicht nur superdiskrete diplomatische Kontakte. Außerdem müsse Deutschland für die Integration in Afghanistan zahlen und die Rückkehr müsse freiwillig erfolgen. Dafür werden sich sicherlich nicht viele melden.
Dave Schmidtke vom Flüchtlingsrat in Sachsen kritisiert: „Wer mit den Taliban verhandelt, stärkt ein Regime, welches Frauen komplett ihre Rechte nimmt und neue Fluchtursachen schafft. Wir erinnern uns an die Abschiebungen nach Kabul vor einigen Jahren: Zuerst traf es nur Straftäter, doch am Ende mussten alle abgelehnten Afghan*innen mit einer Abschiebung in den Krieg fürchten.“
Eine „missbräuchliche und ausgeweitete Anwendung“ des Instruments Abschiebungshaft führe im Endeffekt auch zu einer Wiedereinführung „einer Art Beugehaft“ in Deutschland, die rechtlich nicht zulässig sei, so ein*e Mitarbeitende der im Flüchtlingsbereich tätigen Initiativen zu taz. Vielleicht hoffen manche Behörden, Inhaftierte so zu freiwilliger Ausreise zu bewegen.
Nach den Haftbefehlen, die am Dienstag der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag gegen die zwei wichtigsten Taliban-Anführer wegen der von ihnen verantworteten systematischen Menschen- und darunter insbesondere Frauenrechtsverletzungen verhängte, dürfte es für die Bundesregierung noch schwieriger werden, Gespräche mit deren Regime gegenüber der Öffentlichkeit zu begründen.
Unterdessen eskalierte ein Streit der Bundesregierung mit Afghanistans Nachbarland Pakistan. Wie die Welt berichtet, habe Pakistan Razzien in Gästehäusern durchgeführt, in denen Deutschland Afghanen untergebracht hatte, deren Aufnahme die Bundesrepublik zugesagt aber noch nicht umgesetzt hatte.
Deutschland hatte nach der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 Zehntausenden Afghanen Aufnahmezusagen erteilt, die Betroffenen aber nicht eingeflogen, sondern in Pakistan untergebracht. Ein Ultimatum Pakistans, etwa 2.500 dieser Personen auszufliegen, verstrich nach Verlängerung am 30. Juni, so die Welt, seit dem Ablauf dieser Frist ist es zu den Razzien gekommen.
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