Bundestagswahl 2025: Verdrossenheit ist auch keine Lösung
Das Land ist in der Krise und die Politikverdrossenheit groß. Schlechte Stimmung hilft aber nicht, wenn die Demokratie verteidigt werden muss.
D eutschland hat schlechte Laune: Wetter, Zukunftssorgen und jetzt auch noch Winterwahlkampf. Zumindest letzteren hat sich das Wahlvolk in gewisser Hinsicht selbst eingebrockt. Seit dem Sommer und über Monate hinweg verlangte mehr als die Hälfte der Deutschen das, was sie nun bekommen: eine vorgezogene Neuwahl.
Aber was sollte die bringen? Zwar erreichte die Unzufriedenheit mit Noch-Kanzler Olaf Scholz und seinen Koalitionären bis dahin ungekannte Negativrekorde. Der wahrscheinliche Nachfolger und Anführer der größten Oppositionspartei – Friedrich Merz – war schon damals nicht viel beliebter als der Amtsinhaber. Bei der Frage, was man denn von ihnen halten soll, liegen SPD-Mann Scholz und CDU-Kandidat Merz nun zu Beginn des eigentlichen Wahlkampfes annähernd gleichauf, Merz (und der Grünen-Kandidat Robert Habeck) mit einem kleinen Vorsprung. Spitzenwerte konnte allerdings kein Kandidat für sich verbuchen.
Nochmal deutlich unbeliebter sind unter den bekanntesten Politiker:innen Sahra Wagenknecht, Christian Lindner und Alice Weidel. Doch auch für die Linke gibt es an dieser Stelle keinen Grund zur Freude: Ihr Spitzenduo (zur Erinnerung: Jan van Aken und Heidi Reichinnek) ist so unbekannt, dass überhaupt keine Messwerte vorliegen. Helfen soll hier deshalb nun das letzte Aufgebot der sogenannten Silberlocken. Die Malaise beschränkt sich aber nicht auf das Personal, sondern betrifft die Parteien insgesamt. Im letzten Politbarometer vor Weihnachten erwarteten lediglich 29 Prozent der Befragten, dass eine zukünftige unionsgeführte Bundesregierung eine bessere Politik machen würde. Das ist tatsächlich noch etwas weniger als der Anteil derjenigen, die angaben, für CDU und CSU stimmen zu wollen.
Die zweitgrößte Oppositionspartei hat in der laufenden Legislaturperiode zwar erheblich an Zuspruch gewonnen. Trotzdem ist die AfD für die große Mehrheit der Bevölkerung keine Alternative. Als die Frage zuletzt im Februar (und damit unter dem frischen Eindruck der Enthüllungen über Pläne für eine „Remigration“) gestellt wurde, zeigten sich mehr als drei Viertel der Bürger:innen überzeugt, dass in der AfD rechtsextremes Gedankengut weit verbreitet sei. Gering sind auch die positiven Erwartungen an eine Regierungsbeteiligung des BSW, von dem aktuell noch nicht einmal klar ist, ob es überhaupt im nächsten Bundestag vertreten sein wird. Kurzum, die Stimmung beim Wahlvolk ist denkbar trübe, dementsprechend niedrig sind auch die Erwartungen an die Wahl.
Letzteres könnte sich im Wahlkampf durchaus noch einmal ändern, was mittelfristig aber auch nichts Gutes erwarten ließe. Die Union verspricht aktuell eine Rückkehr in die Vor-Merkel-Zeit nicht nur in der Gesellschafts-, sondern auch in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik: Niedrigere Steuersätze für Reiche und die gehobene Mitte sollen zusammen mit drastischen Kürzungen bei den Sozialausgaben die Wirtschaft so sehr beflügeln, dass dies die Lücken im Etat wie von selbst schließt und eine (modifizierte?) Schuldenbremse eingehalten werden kann. Dazu soll es möglicherweise eine etwas robustere Unterstützung für die Ukraine geben. Die SPD gönnt sich derweil eines der linkesten Programme der vergangenen Jahre. Sie will endlich investieren, Familienleistungen ausbauen, das Rentenniveau stabil halten und den Sozialstaat, wenn nicht gar ganz Deutschland, Europa und die Welt vor der „Merz-CDU“ beschützen.
Enttäuschung ist vorprogrammiert
Beide Botschaften sind durchaus geeignet, die jeweiligen eigenen Anhänger noch einmal zu mobilisieren. Sie wecken bei diesen aber auch Hoffnungen, die offensichtlich so nicht einzulösen sind, wenn der derzeit wahrscheinlichste Fall eintritt und beide Parteien nach der Wahl einmal mehr eine gemeinsame Regierung bilden. Mindestens ebenso groß wären auch die mentalen und emotionalen Zumutungen, die mit der – wiederum nach aktuellem Stand – einzig anderen plausiblen Konstellation verbunden wären: einer schwarz-grünen Koalition. Damit ist die Enttäuschung nach der Mobilisierung vorprogrammiert. Schlimmer noch: wer den absehbaren zukünftigen Partner im Wahlkampf dämonisiert, macht sich bei großen Teilen des Publikums schon heute unglaubwürdig.
Misstrauen, Unzufriedenheit und Desinteresse als grundlegende Probleme der deutschen Demokratie sind zum großen Teil strukturell bedingt und keineswegs neu: Bereits 1992 wählte die Gesellschaft für Deutsche Sprache „Politikverdrossenheit“ zum Wort des Jahres. Vorangegangen war dem eine lange politische und akademische Debatte, die bis heute nicht abgerissen ist. In dieser wurden einige historische Entwicklungen identifiziert, die helfen können, zu verstehen, warum „die Politik“ in Deutschland, aber auch in vielen anderen Demokratien seit Jahrzehnten so unbeliebt ist und unter erheblichem Druck steht.
Zu nennen ist hier in erster Linie die Pluralisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der damit verbundene Niedergang von Kirchen und Gewerkschaften als Organisationen im sogenannten Vorfeld der beiden Volksparteien. In der Vergangenheit konnten diese – nicht immer, aber oft – ihre vielbeschworene Funktion als Transmissionsriemen zwischen Politik und Gesellschaft erfüllen. Noch Mitte der 1970er Jahre gehörte fast ein Drittel der (zumeist männlichen, oft manuell tätigen) Erwerbsbevölkerung einer Gewerkschaft an. Heute ist es noch ein gutes Neuntel. Mehr als 80 Prozent der Gesamtbevölkerung waren Mitglieder der katholischen oder der evangelischen Kirche. Dieser Wert ist inzwischen auf deutlich unter 50 Prozent geschrumpft und sinkt kontinuierlich weiter. Auch wenn die Zeiten politisch keineswegs ruhig waren, konnten eine große Mitte-links-Partei, eine große Mitte-rechts-Partei und eine kleine liberale Partei noch 1976 satte 99 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen – und dabei behaupten, dass sie „das Volk“ halbwegs angemessen repräsentierten.
Schon sieben Jahre später zog mit den Grünen erstmals seit den 1950er Jahren eine neugegründete Partei in den Bundestag ein, die explizit eine grundlegend andere Politik forderte und neue politische Anliegen repräsentierte. Seitdem ist durch Modernisierung und Postmodernisierung, Wiedervereinigung, Globalisierung und Zuwanderung die Zahl politisch relevanter Gruppen und Streitfragen fast kontinuierlich gestiegen und auch die Zahl der politisch relevanten Parteien bewegt sich auf (für deutsche Verhältnisse) hohem Niveau.
Unter diesen Bedingungen ist es schwer, Koalitionen zu bilden, die sich auf ein gemeinsames, kohärentes Regierungsprogramm einigen können, das idealerweise auch noch den Vorstellungen einer Bevölkerungsmehrheit entsprechen sollte. Und selbst dort, wo das gelingt, gibt es eine ganze Reihe von Vetospielern – angefangen beim ebenfalls von immer bunteren und komplizierteren Koalitionen geprägten Bundesrat – die dessen Umsetzung im Wege stehen können. Das macht es ausgesprochen schwierig, die inzwischen fast 62 Millionen Souveräne zufriedenzustellen.
Emotionalisierte Inhalte
Hinzu kommen weitere strukturelle Probleme, die sich seit den 1990er Jahren abgezeichnet, aber in den vergangenen Jahren noch einmal deutlich verschärft haben. Erstens ist eigentlich fast immer irgendwo in Deutschland Wahlkampf. Zweitens stehen Politiker:innen wie niemals zuvor unter Dauerbeobachtung durch ein digital beschleunigtes Mediensystem, das zusehends auf kurze, negative, emotionalisierte Inhalte angewiesen ist, um mit einer immer dünneren Personaldecke hinreichend viel Aufmerksamkeit und damit Werbeeinnahmen zu generieren. Drittens sind die populistischen Feinde der liberalen Demokratie inzwischen fest im politischen System verankert und machen sich dessen Möglichkeiten zu Nutze, um die demokratischen Parteien zu diskreditieren.
Unter diesen Bedingungen handelt Politik zu häufig reaktiv und ist zu sehr auf die kurzfristigen Reaktionen in Medien und Umfragen fixiert. Langfristige Ziele und Pläne bleiben dabei ebenso auf der Strecke wie der Versuch, die Bevölkerung von deren Notwendigkeit zu überzeugen. Das hat funktionelle Konsequenzen, die man gerade jetzt wieder beobachten kann: Weil Wähler:innenstimmen die harte Währung der Demokratie sind und man die ungnädigen Reaktionen der Bürger:innen fürchtet, wagt es in diesem Wahlkampf keine der früheren Volksparteien, offen auszusprechen, dass Deutschlands altes ökonomisches Modell nicht mehr in die veränderte Welt passt. Obwohl dies allen Verantwortlichen klar sein dürfte.
Die absehbare Folge sind weitere Jahre der Stagnation. Dabei verfügt das Land (noch) über die Ressourcen, um sich grundlegend zu modernisieren und in seine Zukunft zu investieren. Die aktuellsten Umfragen zeigen einmal mehr, dass bei der großen Mehrheit der Blick auf das Land und die Wirtschaft zwar durchaus sorgenvoll, die Wahrnehmung der individuellen Lage aber weitaus positiver und der Wunsch nach Veränderung groß ist. Dissens – siehe oben – besteht allerdings darüber, wohin die Reise denn gehen sollte, wenn man sich denn aufmachen würde.
Ganz zu Beginn ihrer Regierungszeit hatten sich die Parteien der Ampel vorgenommen, dieses Potential mit einer neuen Fortschrittserzählung zu aktivieren. Wegen der vielfältigen, sich überlagernden Krisen ist diese Erzählung niemals über ihren Anfang hinausgekommen. Ob sie unter günstigeren Voraussetzungen die erhoffte Wirkung gezeigt hätte, ist eine andere Frage: Wer darauf hinweist, dass (selbst jetzt noch) die Lage deutlich besser ist als die Stimmung, und wir uns mit unserer schlechten Laune selbst im Wege stehen, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, selbst Teil jener abgehobenen Elite zu sein, die für das ganze Elend verantwortlich sein soll.
Was also können wir selbst tun? Vom Rechtsphilosophen und späteren Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt die berühmte Einsicht, dass die moderne Demokratie von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann. Gemeint hat er damit das, was wir heute Zivilgesellschaft nennen, und hier liegt ein wichtiger Ansatzpunkt. Durch Engagement in Vereinen, Initiativen und Genoss:innenschaften, in Gewerkschaften und Kirchen – und ja, wenn wir uns dazu durchringen können, sogar in den demokratischen Parteien – können alle etwas für diese Voraussetzungen tun, die nötig sind, damit die Demokratie trotz ihrer inneren Widersprüche irgendwie weiter funktioniert. Und gegen die schlechte Laune hilft das dann auch.
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