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Desaströse Lage in der UkraineKyjiws Wunschzettel bleibt im dritten Kriegswinter unerfüllt

Kommentar von Barbara Oertel

So tragisch es ist: Der Ukraine läuft die Zeit davon, und das immer schneller. Da helfen auch keine deutschen Wahlkampfbesuche mit hohlen Versprechen.

Alltag in der Ukraine: Zerstörung durch russische Rakenangriffe wie hier in Saporischschja am 11. Dezember Foto: Dmytro Smolienko/NurPhoto/imago

D ass sich so manche ein westlicher Ver­tre­te­r oder Vertreterin dieser Tage kurz vor Weihnachten noch einmal in Kyjiw blicken lässt, mag vielleicht kurzzeitig das Herz der Ukrai­ne­r*in­nen erwärmen und ihnen das Gefühl geben, nicht komplett vergessen zu sein.

Dabei ist besonders die Präsenz deutscher Spit­zen­po­li­ti­ke­r*in­nen auf- und alles andere als zufällig: Zunächst Bundeskanzler Olaf Scholz, dann dessen möglicher Erbe und CDU-Oppositionsführer Friedrich Merz sowie – last but not least – Entwicklungsministerin Svenja Schulze. Der Wahlkampf in Deutschland lässt grüßen.

An persönlichem Engagement und wohl auch durchaus ernst gemeinten Solidaritätsadressen mangelt es auch diesmal nicht. Doch das Mantra, fest an der Seite der Ukraine zu stehen, klingt schal.

Denn alle Beteuerungen ändern nichts daran, dass die Lage der Menschen im mittlerweile dritten Kriegswinter mit jedem Tag dramatischer und verzweifelter wird.

Massivste Angriffe auf die Ukraine

Wie seit Monaten schon setzt Russland, in gewohnt perfider Manier, verstärkt auf gezielte Bombardements der kritischen Infrastruktur. Und da scheint immer noch Luft nach oben zu sein.

In der Nacht zu Freitag dieser Woche seien, so sagt es jedenfalls Präsident Wolodymyr Se­lenskyj, mit die massivsten Angriffe seit Beginn von Russlands Angriffskrieg am 24. Februar 2022 verzeichnet worden.

Militärisch hat Kyjiw dem immer weniger entgegenzusetzen, ja mehr noch: Die ausgelaugten und dezimierten ukrainischen Truppe laufen Gefahr, weitere Gebiete beziehungsweise Frontabschnitte nicht mehr lange halten zu können.

Die seinerzeit viel gepriesene und als Faustpfand bei künftigen Waffenstillstandsverhandlungen gehandelte „Operation Kursk“ könnten aus ukrai­ni­scher Sicht in einem Desaster enden. Mittlerweile sollen russische Truppen bereits vierzig Prozent des Territoriums wieder zurückerobert haben.

Weigerungshaltung von Scholz für Taurus

Die Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Prokowsk im Donbass scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Und wer weiß schon, welche weiteren Fakten in den partiell von Russland besetzten Gebieten Cherson und Saporischschja noch geschaffen werden. Dessen ungeachtet hält Kanzler Scholz an seiner Weigerungshaltung fest, Taurus am Kyjiw zu liefern.

Diese Waffe ist Einschätzungen ukrainischer Militärs zufolge jedoch derzeit ohnehin kein Gamechanger.

Wie weiter? Immerhin scheint sich, mit Blick auf die Amtseinführung von US-Präsident Donald Trump am 20. Januar 2025, die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass Europa handeln muss – nicht zuletzt im ureigensten Interesse.

Der Ukraine läuft die Zeit davon

Doch nach wie vor stehen vielen Fragen nicht einmal ansatzweise Antworten gegenüber. Selbst wenn die Waffen schweigen sollten: Welche Sicherheitsgarantien wird die Ukraine bekommen, und wer wird wie für sie einstehen?

So tragisch es ist: Der Ukraine läuft die Zeit davon, und das immer schneller. Dabei geht es seit dem 24. Februar 2022 um nichts weniger, als die Existenz dieses Landes. Friedvolle Weihnachten? Von wegen.

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
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6 Kommentare

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  • Dem Artikel kann man nur ganz und gar zustimmen. Welche Kräfte haben diese Entwicklung verursacht ? Die Entwicklungsministerin hat wirklich gesagt, "sie wolle sich vor Ort davon überzeugen, dass das Geld auch wirklich da ankommt, wo es benötigt wird". Misstrauen gegenüber einem Land und seinen Menschen, die immense Opfer bringen ist einer der Faktoren.

    *



    Dreifach ist der Schritt der Zeit:



    Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,



    Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,



    Ewig still steht die Vergangenheit.

    Keine Ungeduld beflügelt



    Ihren Schritt, wenn sie verweilt.



    Keine Furcht, kein Zweifeln zügelt



    Ihren Lauf, wenn sie enteilt.



    Keine Reu, kein Zaubersegen



    Kann die stehende bewegen.

    Möchtest du beglückt und weise



    Endigen des Lebens Reise,



    Nimm die zögernde zum Rat,



    Nicht zum Werkzeug deiner Tat.



    Wähle nicht die fliehende zum Freund,



    Nicht die bleibende zum Feind.



    *



    Schiller, 1795

  • Wie hieß es früher schon mal?



    "Wer hat uns verraten, die ..."

  • "Und da scheint immer noch Luft nach oben zu sein."

    Ich finde es interessant wie sich Berichterstattung langsam ändert. Im Herbst 22 hieß es oft das Russland sein konventionelles Eskalationspotential ausgeschöpft hat und wer etwas anderes behauptete würde schnell diffamiert. Hatten womöglich die warnenden Stimmen Recht?



    Letztendlich ist die Situation in der Ukraine schlimm, war aber voraussehbar. Jetzt wird im Januar in Washington entschieden wie es weitergeht, ob es Europa passt oder nicht.

  • Erstaunlicher Weise hat in den letzten Jahren das magische Denken bei den Politikern zugenommen, ob bei der kostenneutralen grünen Transformation oder in der Ukraine.



    Als müsse man sich etwas nur ganz doll wünschen und der Wunsch würde in Erfüllung gehen. Nur leider ist das meistens nicht der Fall.

    Im Ukraine Krieg war mir von Anfang an klar, das es mit einer skrupellosen Atommacht Russland für die Ukraine schwierig bis unmöglich werden würde zu gewinnen. Nur ein Personalwechsel im Kreml hatte einen Sieg vielleicht wahrscheinlicher gemacht.

    Es ist tapfer wie die Ukrainer sich verteidigen, aber ohne ein "All in" der europäischen Länder mit eigenen Truppen und allen Waffen ist dieser Mut auf Dauer sinnlos. Hier hätte es den Mut Europas gebraucht, das Pokern Russlands mit der atomaren Bedrohung auszuhalten.



    Wenn Russland es will, könnte es sowieso jederzeit einen atomaren Weltkrieg auslösen und einen Großteil des Lebens auf der Welt auslöschen würde, davor sollte man keine Angst haben.

    Stattdessen zeigt sich Europa als feige und schwach, weil es nicht bereit ist eigenen Truppen zu schicken. Das ist der eigentliche Sieg Russlands - Europas Schwäche und Feigheit aufzuzeigen.

  • Es sieht düster aus, auch und besonders für unser Land. Die Wirtschaft stagniert bzw. gerät immer mehr in eine Rezession. Das Geld wird knapp. Wir müssen den Gürtel enger schnallen. Da bleibt nichts mehr übrig für die Ukraine.

  • Es übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Ukraine, Gaza, Syrien, Libanon, Sudan, Indien, Pakistan ...



    Wie, in Gottes Namen, will die Menschheit das je wieder in geordnete Bahnen lenken.



    Und jetzt noch die Katastrophe: Hier Xi da Trump.