: „Alle haben funktioniert“
Mit sieben Monaten kommt unser Autor in eine Wochenkrippe: totale staatliche Betreuung rund um die Uhr. Jahrzehnte später begibt er sich auf die schmerzhafte Suche nach Erinnerungen – und nach Antworten. Mehr als 200.000 Kinder haben solche Krippen besucht. Über ein unbekanntes Kapitel DDR
Von Alexander Teske
Was ist deine erste Erinnerung? Wie alt warst du da? Woran erinnerst du dich? Ich würde mich gern an meine frühe Kindheit erinnern. Diese Zeit ist wie bei allen in meinem Körper abgespeichert. Doch den wenigsten Menschen gelingt es, sich diese Erinnerungen bewusst zu machen. Meine frühesten Bilder setzen mit sechs Jahren ein.
Ich wurde 1971 in Leipzig geboren und war in einer Wochenkrippe. Am Montagmorgen wurde ich von meinen Eltern abgegeben und am Freitagnachmittag von dort wieder abgeholt. Der bezahlte Mutterschutz endete in der DDR damals bereits nach sechs Wochen. Alle Wochenkinder wollen sich gern an ihre Zeit in der Wochenkrippe erinnern und können es meist nicht. Mit Hypnose versuchen es manche. Andere begeben sich auf die Suche, sie befragen ehemalige Erzieher und ihre Eltern.
Ich frage meine Mutter: „Wenn du da wieder arbeiten gehen musstest, dann musste ich ja schon abgestillt sein?“ – „Ich konnte dich sowieso nur zwei Wochen lang stillen. Ich war zu aufgeregt, wegen des Streits mit deinem Vater.“
Ich mache meinen Eltern keine Vorwürfe. Trotzdem bin ich erschrocken. Ein Jahr lang zu stillen wird heute empfohlen. Die Ersatzmilch kann mit Muttermilch nicht mithalten. Das galt vor fünfzig Jahren sicher genauso. Ich lese, dass in den Wochenkrippen auch Kuhmilch gegeben wurde, dass Kinder daran starben.
Seit ich selbst die Geburten meiner zwei Kinder miterlebt habe, kann ich mir auch schwer vorstellen, wie man sechs Wochen danach schon wieder arbeiten gehen kann. Aber für den „Aufbau des Sozialismus“ brauchte die SED jede Hand. Deswegen galt die Arbeitspflicht auch für Frauen. Nachdem ich monatelang von meiner Tante und meiner Oma betreut wurde, komme ich mit sieben Monaten in die Wochenkrippe.
„Das ist mir sehr schwergefallen“, sagt meine Mutter heute. „Aber ich hatte keine Wahl, ich habe einfach keinen Platz in einer Tageskrippe gefunden. Damals hat man anders über Erziehung gedacht und das als nicht so schlimm erachtet.“
Sie wird immer ganz aufgeregt, wenn ich danach frage. Manchmal kämpft sie gegen die Tränen an oder bekommt hohen Blutdruck. Einmal war für ein Jahr Funkstille zwischen uns. „Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich will nur verstehen“, schreibe ich einmal. „Ich rechtfertige mich gar nicht“, kommt es zurück.
Schade. Lange hoffte ich heimlich auf eine Entschuldigung. Meine Mutter ist liebevoll. Wir haben ein gutes Verhältnis. Trotzdem kann ich ihre Zuneigung schwer annehmen. Sie hat verpasst, wie ich laufen lernte, meine ersten Worte gesprochen und meine ersten Zähne bekommen habe.
Und dann rechtfertigt sich meine Mutter doch. Zumindest verstehe ich es so. Sie schenkt mir zwei selbstgemachte Bücher mit Fotos, Briefen, Zeichnungen, Tagebucheinträgen und Dokumenten. Ich soll nachfühlen, wie es ihr damals ging. Das gelingt.
Bis ich entdecke: Sie ist in der Zeit zweimal mit einer Freundin eine Woche in den Urlaub gefahren. Verbringt auch Wochenenden ohne mich. Ich kann ihren Lebenshunger verstehen. „Ich war doch noch jung“, hat sie oft gesagt. „Ich habe einen neuen Partner gesucht.“ Trotzdem bin ich enttäuscht. Nicht einmal alle Wochenenden gehörten uns.
Vor einigen Tagen habe ich meiner Mutter erzählt, dass ich mich im Verein Wochenkinder e. V. engagiere. Danach schicke ich ihr Links mit Artikeln und zu einem TV-Beitrag. Sie sieht sie sich an und schreibt: „Es tut mir leid für uns beide. Ich war hilflos und konnte nur all meine Liebe über dich ausschütten, wenn du bei mir warst. Ich verstehe jetzt besser, dass das Thema für dich wichtig ist. Besonders erschüttert hat mich die Nennung von Fixierungen. Fühl dich umarmt.“
Die Kinder wurden nachts mit Lederriemen in den Betten festgebunden. Dabei gab es in den sechziger Jahren einen Todesfall. Danach wurden Windeln oder Decken verwendet, die Kinder fest eingewickelt. Haben die Erzieherinnen uns abends noch eine Geschichte vorgelesen? Ein Lied vorgesungen? Ein Lied für zwanzig Kinder, die nebeneinander in ihren Betten lagen? Oder war dafür keine Zeit?
„Abends haben wir die Kinder in die Betten gelegt, dann kam die Nachtwache und wir haben die Türen offen gelassen. Aber die Kinder haben auch gar nicht geweint. Erst heute weiß ich, wie sonderbar das ist. Es wäre ja auch niemand gekommen. Alle haben funktioniert“, erinnert sich Bärbel Benkert, eine Erzieherin in einer Wochenkrippe in Gotha.
Kleine Kinder wachen nachts bis zu achtmal auf. Dann wollen sie getröstet werden. In meiner Kindheit dachte man anders. Das Kind soll lernen durchzuschlafen. Auf keinen Fall dürfe man hingehen. Also hat man die Kinder schreien lassen.
In der Wochenkrippe wäre es ohnehin nicht möglich gewesen, sich um alle zu kümmern. Eine Nachtwache war für bis zu vierzig Kinder zuständig. Im Fall einer Dresdner Wochenkrippe war nachts nur der Hausmeister da – allein mit neunzig Kindern.
Einige Kinderpsychologen sagen heute: Säuglinge haben in den Momenten, in denen keiner kommt, Todesangst. Mir fällt es schwer, das auf mich zu projizieren. Ich möchte kein Opfer sein. Und dann zucke ich zusammen, wenn eine Therapeutin in einem Vortrag sagt: „Ich halte das für eine Menschenrechtsverletzung, sein Kind in eine Wochenkrippe zu geben.“
Die Mutter heute über ihre damalige Lage
Und doch gibt es sie schon wieder: die 24-Stunden-Kita. In Hamburg, Berlin oder Schwerin. Der Ausbau von 300 Einrichtungen wurde unter Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig mit 100 Millionen Euro gefördert. Natürlich sind die Einrichtungen von heute keinesfalls mit denen von damals vergleichbar. Für bedenklich halte ich sie trotzdem. Spreche ich das aus, heißt es oft: Du bist wohl gegen Gleichberechtigung?
Mindestens 200.000 Kinder gingen in der DDR in eine Wochenkrippe. Die erste eröffnete 1950, die letzte schloss 1992. Da die Wochenkrippen planmäßig überbelegt und viele Kinder nur für einige Monate dort waren, könnte ihre Zahl auch bei bis zu 600.000 liegen. Die Betroffenen sind heute zwischen 32 und 74 Jahren alt.
Ich kann mich an meine Zeit in der Wochenkrippe nicht erinnern. Andere auch nicht. „Fremde“ durften die Einrichtung nicht betreten, auch die Eltern nicht. Deswegen haben meine Eltern nie gesehen, wo und wie ich dort geschlafen habe, gegessen oder gespielt. Wieder andere wollen sich ungern erinnern oder nur sehr selektiv. Da ich meine Erzieherinnen nicht kenne, kann ich sie nicht fragen. Wenn sie überhaupt noch leben. Ich bin jetzt 52 Jahre alt.
Ich stoße auf Bärbel Benkert. Sie hat in Gotha zwischen 1978 und 1983 Wochenkinder betreut. Dann hat sie gekündigt. „Alle Erzieherinnen haben sich bemüht, viele auch liebevoll. Aber es blieb eine Abfertigung, weil jede bis zu zehn Kinder hatte. Wir hatten einen starren Tagesplan: 6 Uhr Flasche, 6.45 Uhr Wickeln, 8.15 Uhr Schlafen, 9.15 Uhr Spielen, 10 Uhr Brei, 10.45 Uhr Spielen, 11.15 Schlaf, 13 Uhr Wickeln usw. Mal ein Kind auf den Schoß nehmen und Hoppe-hoppe-Reiter machen, dafür blieb keine Zeit. Individuelle Geborgenheit war auch gar nicht Teil der Ausbildung. Für mich war die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sehr schmerzhaft.“
Benkert ist eine Ausnahme. Die meisten Erzieherinnen blicken ganz anders zurück: Den Kindern habe es nicht geschadet, heißt es, aus ihnen sei doch was geworden. Und wie war meine Erzieherin? War ich ein Lieblingskind, das bevorzugt behandelt wurde und auch mal auf ihrem Schoß sitzen durfte? Oder wurde ich in all den fünfzehn Monaten nie gestreichelt?
Manche Erzieherinnen sollen sehr liebevoll gewesen sein und sich rührend gekümmert haben. Sie haben auch mal ein Baby abends mit nach Hause genommen. Andere waren genervt, haben Kinder geschlagen. Manche haben den Kindern die Nase zugehalten und ihnen dann den Löffel mit dem Brei in den Mund geschoben. Das ging schneller. Manchmal kamen Kinder am Freitag auch mit einem wundem Po nach Hause.
Ich lese das alles in den Sachbüchern, die frisch erschienen sind. „Wochenkinder in der DDR“ von Heike Liebsch und den Sammelband „Wochenkrippen und Säuglingsheime“ aus dem Psychosozial-Verlag. Ich verschlinge alles zu dem Thema, was ich in die Finger bekommen kann.
Mehrere Studien aus DDR-Zeit wiesen nach, dass Wochenkrippenkinder dreimal so häufig krank waren wie zu Hause betreute Kinder. Auch motorisch und sprachlich entwickelten sie sich deutlich langsamer als Tageskrippenkinder. Nur Heimkindern erging es schlechter. Doch diese Studien blieben unter Verschluss. Sie passten nicht ins offizielle Bild der optimalen staatlichen Betreuung.
In meinem Entwicklungsbogen vermerkte eine Frau Habicht: „Das Trinken aus der Flasche muss noch geübt werden.“ Im Entwicklungsbogen benoteten die Erzieher nach festen Kriterien das Kind. Er war für die Eltern gedacht. Als Datum steht da der 19. 12. 1972. Einen Tag später werde ich ein Jahr alt. Der 20. war ein Mittwoch. War ich da in der Wochenkrippe?
Am 19. 12. 1973 notiert eine Frau Hain: „Alexander muss es noch lernen, auch beim Mittagsschlaf sauber zu bleiben. Er ist auch auf dem Gebiet der Spieltätigkeit mit didaktischem Material ungeschickt. Auch beim Singen muss Alexander noch mehr Interesse zeigen.“
Einen Tag später feiere ich meinen zweiten Geburtstag. Nur wie? Der 20. war ein Donnerstag. Ich frage bei meiner Mutter nach: „War ich zum Geburtstag zu Hause, mitten in der Woche?“ Sie weiß es nicht mehr.
Dass ich in eine Wochenkrippe ging, war kein Geheimnis in der Familie. Mir war es lange Zeit auch nicht wichtig. Bis ich mit 24 Jahren das erste Mal Vater wurde. Erst da begriff ich, was es bedeutet, seine Eltern nur am Wochenende zu sehen. Seitdem hat das Thema in mir gearbeitet. Aber erst vor zwei Jahren ist mir klar geworden, dass es noch immer eine Bedeutung hat.
Damit bin ich nicht allein. Viele Wochenkinder holt die Vergangenheit erst Jahrzehnte später ein. Ich suche mir eine Selbsthilfegruppe. In meinem Wohnort gibt es keine. Also fahre ich dafür ab und zu nach Leipzig. Oder Potsdam.
Noch nie habe ich mich in einer Selbsthilfegruppe angemeldet. Nun sitze ich zwischen lauter fremden Menschen. Und fühle mich zu meiner Überraschung verstanden. Und geborgen.
Aus den Treffen weiß ich: Viele haben nur durch Zufall erfahren, dass sie in der Wochenkrippe waren, ihre Eltern haben es ihnen verschwiegen. Andere kommen mit ihren Eltern darüber nur schwer ins Gespräch. Die Eltern reagieren ablehnend, manchmal wird geschrien. Eine dritte, kleine Gruppe berichtet von Entschuldigungen und Versöhnungen. Das fühle sich kurz gut an, sei aber keine endgültige Heilung.
Ein Treffen der Selbsthilfegruppe, dreizehn Betroffene wollen mit Regina sprechen. Sie hat fünfzehn Jahre lang als Ärztin einer Wochenkrippe Kleinkinder betreut. Ihre Botschaft: „In die Wochenkrippe zu gehen war damals normal. Die Erzieherinnen haben sich alle ganz liebevoll um euch gekümmert.“ Die ehemaligen Wochenkinder kneten ihre Hände, sie rutschen auf ihren Stühlen hin und her, sie blicken irritiert. Und dann stellen sie Fragen: „Hatten die Kinder auch einmal blaue Flecken?“
„Nein.“
„Haben Sie Isolierzimmer für kranke Kinder gesehen?“
„Nein.“
„Haben die Erzieher Beruhigungsmittel für die Nacht beantragt?“
„Also vielleicht im Ausnahmefall, wenn ein Kind mal sehr unruhig war.“
Regina ist heute 83 Jahre alt. Über die Fragen ist sie überrascht. Sie sagt: „Ich wehre mich dagegen, wenn die Wochenkrippen heute als Gefängnis bezeichnet werden.“
„Aber woher kommt diese Verteidigung? Niemand hat hier von einem Gefängnis gesprochen?“
„Für eure Mütter war das bestimmt auch nicht leicht, die haben bestimmt viel geweint.“ Regina nimmt einen Schluck Tee.
Ich frage: „Sie selbst haben erzählt, dass Sie Ihren Sohn ‚zum Glück‘ nicht in die Wochenkrippe geben mussten, sondern bei den Schwiegereltern unterbringen konnten. Warum, wenn es da so gut war?“
„Na, weil es immer besser ist, wenn das Kind bei der Oma bleibt. Das weiß doch jeder. Die Erzieher können sich noch so viel Mühe geben, die Mutter können sie nicht ersetzen.“
Seit fünfzig Jahren ist die Bindungstheorie Konsens in der Psychologie. Sie besagt, dass eine sichere Bindung in der Kindheit zu einer gesunden emotionalen Entwicklung und stabilen Beziehungen im Erwachsenenalter führt. Entscheidend sind die ersten zwölf Monate. Wird in dieser Zeit das Urvertrauen gestört, kann es später zu emotionalen und sozialen Problemen kommen. Erst mit zwei Jahren beginnen Kinder, sich zaghaft von ihren Eltern zu lösen.
Seitdem gilt in der Bundesrepublik der Grundsatz, selbst eine schlechte Familie ist besser als ein gutes Heim. Ende der sechziger Jahre wurden alle Säuglingsheime geschlossen. Wem es zu Hause zu schlecht erging, kam in eine Pflegefamilie oder wurde adoptiert.
Eine ehemalige Betreuerin
Da sie eher eine individuelle statt eine kollektive Perspektive propagierte, galt die Bindungstheorie in der DDR als reaktionär, gerichtet gegen die Emanzipation der Frau. Sie war das Gegenteil des sozialistischen Konzepts.
Doch auch in der DDR wussten Fachleute um die Folgen der Trennung der Kinder von ihren Eltern. Die Aufnahme in die Wochenkrippe wurde damals von Forschern als „physischer und psychischer Schock“ beschrieben. Der Fachbegriff lautete „Anpassungsstörung“, schreibt Florian von Rosenberg in seinem Buch „Die beschädigte Kindheit“.
Die Kinderpsychiaterin Agathe Israel beschäftigt sich seit Langem mit dem Thema. Sie meint: „Für das kindliche Empfinden sind Trennungen, die sie zeitlich nicht überblicken können bzw. deren Ende für sie nicht absehbar ist, faktisch ein Abschied für immer.“
In Grünheide bei Berlin treffen sich auf einem Freizeitgelände am Störitzsee fünfzig Wochenkinder. Es ist das erste Mal, dass sie drei Tage lang zusammenkommen. Am zweiten Abend sitzen sie alle um ein Lagerfeuer herum. Das Brennholz haben sie selbst mitgebracht – aus Karlsruhe, Halle, Greifswald. Der Mann, dem die Stimme versagte, als er sich an der Diskussion beteiligen wollte, spielt Gitarre. Drei Frauen singen dazu den melancholischen Song der Leipziger Band „Karussell“ von 1987: „Als ich fortging, war die Straße steil – kehr wieder um. Nimm an ihrem Kummer teil, mach sie heil.“
Am nächsten Tag stellt Stefanie Knorr die Ergebnisse einer Studie der Universität Rostock vor. Es ist die erste Studie dieser Art. Ihre Ergebnisse: Nur 27 Prozent der Wochenkinder haben in ihrem Leben sicher-autonome Bindungen aufbauen können. In der gesunden Kontrollgruppe sind es 58 Prozent. 92 Prozent der Wochenkinder entwickeln psychische Störungen, vor allem soziale Phobien, Schlafstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen. 59 Prozent sind es in der Kontrollgruppe.
295 Wochenkinder wurden für die Studie befragt. Sie haben sich freiwillig gemeldet. „Was uns überrascht hat, war wie oft Traumata weitergegeben werden. Uns wurde berichtet, dass viele Eltern von Kriegserlebnissen schwer gezeichnet waren. Dies könnte später ein Grund für eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung sein“, sagt Stefanie Knorr.
Das könnte bei mir passen: Meine Mutter ist Anfang 1945 noch kein Jahr alt, da muss meine Oma mit ihr aus Schneidemühl in Westpreußen, dem heutigen Piła in Großpolen, fliehen. Der Zug wird von Tieffliegern beschossen, es ist kalt, die Trinkflasche geht kaputt. Für 275 Kilometer brauchen sie Tage, sie stranden im zerschossenen Leipzig, wo sie niemanden kennen.
Meine Oma hat oft über die Wochenkrippe gesprochen. Sie war eine liebevolle Bilderbuch-Oma. Sie ist seit zehn Jahren tot. Bleiben meine Eltern. „Ach, gehst du jetzt wieder zu dieser Selbsthilfe?“ sagt eines Tages mein Vater.
„Ja, und warum rollst du da mit den Augen?“
„Na ja, da helft ihr euch dann alle selbst, wie schwer ihr es hattet.“
Mein Vater ist 82 Jahre alt. Seine Kindheit hat er zwischen Trümmern mit Hunger und Schlägen verbracht.
„Genau. Es tut mir gut. Und wenn ich deine Meinung dazu wissen will, frage ich“, gebe ich zurück.
Es gibt bei ihm aber auch Momente von Verständnis: „Ich habe dich immer mit dem Auto hingefahren. Deine Mutter hatte ja keins und es war ein weiter Weg. Wenn wir dann um eine bestimmte Ecke gebogen sind, hast du schon angefangen zu weinen. Da waren wir aber noch ein ganzes Stück von der Wochenkrippe entfernt. Dein Schreien hat dann nicht mehr aufgehört. Das war so eine Villa in Leipzig-Leutzsch.“
Ich sehe sofort nach. Auf wochenkinder.de, der Webseite des Vereins, sind viele Wochenkrippen in einer interaktiven Karte eingetragen. Da ist sie: Leipzig, Otto-Schmiedt-Straße 32. Auf Google Maps sehe ich: Das Haus steht noch.
Tage später fahre ich hin. Die Villa steht in einem noblen Viertel, ist renoviert. Ich mache Fotos, erkenne aber nichts wieder. Ein Mann schließt sein Fahrrad an.„Wohnen Sie hier?“, frage ich.
„Ja, schon.“– „Darf ich mir mal den Flur ansehen?“
Er lässt mich ein. Und sofort erkenne ich alles wieder. Die dunkelbraunen Holzvertäfelungen, die Treppe, das große Fenster mit Buntglas und den riesigen Kronleuchter. Oder bilde ich mir das etwa nur ein? Ich kann mich doch gar nicht erinnern. Aber es kribbelt plötzlich wie wild in meiner Hand.
„Das Haus gehört jetzt Kai Pflaume“, sagt der Mann, als ob das irgendwas zur Sache täte.
„So, ich muss dann mal wieder, ich habe wenig Zeit“, sagt er und schiebt mich zum Ausgang.
Zurück bei meinem Vater: „Und wenn wir dich dann am Freitag abgeholt haben, hast du den ganzen Abend nicht mehr gesprochen. Zu Hause bist du die Zimmer abgelaufen, von Ecke zu Ecke, als ob du alles vermessen wolltest, um es wiederzuerkennen. Gesprochen hast du dann erst ab Sonnabend früh.“
Ich traue mich nicht, die naheliegende Frage zu stellen: Warum hast du dich nicht gekümmert? Du hast gut verdient. Du hättest meine Mutter heiraten können und sie hätte zu Hause bleiben können. Ich will ihn nicht in Bedrängnis bringen. Er hat Krebs. Wer weiß, wie lange wir noch eine schöne Zeit verbringen können. Von meiner Mutter weiß ich: Als sie schwanger war, ging eines Tages eine andere junge Frau bei meinem Vater zu Hause ans Telefon.
In einer Diskussion mit anderen Wochenkindern sage ich später: „Mich stört die Verengung auf die Mütter. Immer müssen sie sich den unangenehmen Fragen ihrer Kinder stellen. Und die Väter machen sich einen schlanken Fuß. Wenn mehr Väter damals Verantwortung übernommen hätten, hätte es weniger Wochenkinder gegeben.“
Wir hatten den Film „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“ gesehen. Ein Mutter-Kind-Drama. Eine knappe Stunde in Schwarz-Weiß. Der Vater taucht nur für Sekunden auf einem alten Foto auf. Und von hinten aufgenommen, wie er mit dem Kind an der Hand einen Flur entlangläuft.
Wenn Mutti früh zur Arbeit geht. Ein Kinderlied. Jeder in der DDR kannte es:
Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, dann bleibe ich zu Haus. Ich binde eine Schürze um und feg ’ die Stube aus.
Die Regisseurin Amina Gusner ist selbst ein Wochenkind. Sie sagt in ihrem Grußwort zum Treffen: „Ich wusste immer, dass ich in einem Wochenheim war, hatte das aber nie zum Thema gemacht. In der Pandemie wurde mir bewusst: Es ist eines. Ich habe recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen. Sogar mein damaliger Freund und meine Schwester waren in Wochenheimen, was ich aber gar nicht wusste. Ich wollte wissen: Was hat das mit uns gemacht, das ist ja eine Form der Entwurzelung.“
Dann nennt jeder seine Lieblingsszene aus dem Film. Manche mit stockender Stimme und feuchten Augen. Ich sage: „Die zwei Sequenzen, in der sich die Tochter kurz in Nahaufnahme stumm selbst streichelt. Denn darum ging es: fehlender Körperkontakt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen