Should I stay or should I go

Nach ihrer Niederlage bei der Europawahl hadert die SPD mit sich selbst und der Ampel. Generalsekretär Kevin Kühnert verspricht, um Nichtwähler zu kämpfen. Juso-Chef Türmer fordert mehr Sichtbarkeit. Koalitionen seien kein Selbstzweck. Und Olaf Scholz?

Mobilisierung der politischen Mitte, das war wohl nichts. Kanzler Olaf Scholz beim Treffen des SPD-Vorstands am 10. Juni Foto: Markus Schreiber/ap

Aus Berlin Anna Lehmann

Feige ist Olaf Scholz jedenfalls nicht. Am Abend, an dem die SPD mit ihm als Frontrunner bei der Europawahl krachend gescheitert ist, spaziert er durch die schon merklich gelichtete Menge der GenossInnen in der Parteizentrale. Von Wahlparty kann keine Rede sein, es ist eher ein therapeutisches Beisammenstehen. Scholz wird fast scheu umringt, ein bisschen Händeschütteln, ein paar Selfies, kein Kommentar zum Ergebnis.

Die SPD hat am Sonntag mit 13,9 Prozent ihr historisch schlechtes Ergebnis von 2019 unterboten und landete noch hinter der AfD. Und das, obwohl Generalsekretär Kevin Kühnert alles in diese Kampagne gelegt hatte. Früh hatte er sich mit den beiden Parteivorsitzenden darauf verständigt, neben Spitzenkandidatin Katarina Barley den Kanzler zu plakatieren. Kaum eine Verkehrsinsel, von der beide in den letzten Wochen nicht zweidimensional für Frieden und Besonnenheit warben.

Funktioniert hat es nicht. Mag sein, dass der Friedenskanzler und der Kanzler, der Anfang Juni der Ukraine erlaubt hatte, westliche Waffen auch gegen Ziele in Russland einzusetzen, für viele nicht zusammenpassen. Aber auch der Kanzler, der einen Mindestlohn von 15 Euro forderte, der im Bundestag Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan angekündigt hatte, vermochte nicht die Stimmung zu drehen. Und das, obwohl die Themen Frieden, Soziales, Migration genau jene waren, die laut Umfragen für viele Wäh­le­r:in­nen wahlentscheidend waren.

Doch statt wie geplant dazuzugewinnen, verlor die SPD mehr als 5 Millionen Wähler:innen, die bei der Bundestagswahl 2021 noch sozialdemokratisch gestimmt hatten – die Hälfte davon an das Lager der Nichtwähler:innen.

In der Parteizentrale herrscht am Tag danach vor allem Ratlosigkeit. Warum klappte es nicht mit der Mobilisierung der politischen Mitte, obwohl Kandidaten wie Matthias Ecke für die Demokratie doch buchstäblich den Kopf hingehalten hatten? Ecke wurde beim Aufhängen von Plakaten von rechten Jugendlichen verprügelt. Weshalb büßte die SPD ausgerechnet beim Brot-und-Butter-Thema soziale Sicherheit dramatisch an Vertrauen ein? Und was heißt das für die künftige Zusammenarbeit in der Ampelkoalition? Was für den Kanzler?

Als Generalsekretär Kevin Kühnert am Montag vor die Presse tritt, entschuldigt er sich, dass er noch keine fertigen Antworten habe. Verständlich, außerdem sieht Kühnert selbst ziemlich fertig aus, dieser Wahlkampf, der sein Gesellenstück werden sollte, ging daneben. Nur ein paar Fragmente präsentiert er, neben sehr viel Selbstkasteiung. Es gebe offenbar Teile der Gesellschaft, „an die wir den Anschluss verloren haben“. Menschen mit kleinen Einkommen, Menschen im ländlichen Raum und in den ostdeutschen Bundesländern. Bei den gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen wurde die SPD im Osten marginalisiert und selbst in der Hochburg Brandenburg von der AfD überflügelt. Kein gutes Omen für die Landtagswahl im Herbst.

Die Nicht­wäh­le­r:in­nen zurückzugewinnen, das sieht Kühnert als die große Aufgabe der kommenden Monate an. Und hat schon eine Idee: „Die Leute wollen uns kämpfen sehen.“ Einen Sparhaushalt auf Kosten des sozialen Zusammenhalts werde es mit der SPD nicht geben. Das kann man als Kampfansage an die FDP und an Finanzminister Christian Lindner verstehen, der die Schuldenbremse wie einen Heiligen Gral verteidigt.

Bedeutet das, dass die SPD bereit ist, die Ampel platzen zu lassen, sollte Lindner auf harten Einsparungen im Sozialen bestehen? Kühnert nennt das eine hypothetische Frage.

Andere werden konkreter. „Koalitionen sind grundsätzlich kein Selbstzweck. Wir müssen als SPD sichtbarer werden und der FDP weniger durchgehen lassen“, so Juso-Chef Philipp Türmer zur taz. 30 bis 50 Milliarden im Haushalt einzusparen, sei ein Ding der Unmöglichkeit. „Wir brauchen Ausnahmen von der Schuldenbremse für Naturkatastrophen und die Hilfen für die Ukraine“, meint SPD-Urgestein Axel Schäfer zur taz. „Wenn die FDP da nicht mitmacht, muss man die Gretchenfrage stellen: wer soll überleben: Die Ukraine oder die Schuldenbremse?“ Oder die Ampel.

Der Frust über den Kanzler hält sich in Grenzen, die Frage „Wie hältst du’s mit Olaf?“ stellt kaum jemand öffentlich

Türmer und Schäfer kommen vom linken Flügel, sie repräsentieren nicht die Breite der Partei. Doch der Frust über den kleinsten Koalitionspartner ist groß in der SPD, das ist am Wahl­abend spürbar. Der Frust über den Kanzler hält sich in Grenzen, die Frage „Wie hältst du’s mit Olaf?“ stellt kaum jemand öffentlich. Kühnert beeilt sich kurz nach Verkündung der ersten Prognose, Diskussionen zu zerstreuen. Es sei zu einfach, das Ergebnis für das schlechte Abschneiden „einer einzelnen Person in die Schuhe zu schieben“. Man gewinne zusammen und man verliere zusammen.

Die Union hält die Frage genau für die richtige. Die Ampel müsse den Kurs wechseln oder Scholz die Vertrauensfrage stellen, forderte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann 15 Minuten nach Schließung der Wahllokale. Falls die Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag dem Kanzler das Vertrauen entzieht, wird neu gewählt. Zum jetzigen Zeitpunkt könnte die Union stärkste Partei werden. Kühnert kontert: Er sehe keinen Auftrag für Neuwahlen, die Regierung sei handlungsfähig.

Die SPD braucht jetzt vor allem eins: Zeit. „Beim letzten Mal lief es zur Europawahl auch nicht gut und trotzdem haben wir die Bundestagswahl gewonnen“, so ein Genosse in der Parteizentrale. Der einzige Trost ist momentan der Blick zurück.