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Kultusministerien verzweifeln an TikTokKomplett lost

Johannes Drosdowski
Kommentar von Johannes Drosdowski

Ein Aufruf zu einem „Tag der Vergewaltigung“ machte auf TikTok die Runde. Die Berliner Bildungssenatorin warnte Schulen. Gut, dass die EU mehr kann.

Tiktok hat eine große Sogwirkung durch Schnelligkeit, Emotionalität und ständige Verfügbarkeit Foto: Matt Cardy/Getty Images

E iner der sich wohl wirklich um die psychischen Auswirkungen von Tiktok sorgt, der dem Suchtpotential, das der Social-Media-Plattform nachgesagt wird, entgegenwirkt: Olaf Scholz. Seine Tiktoks sind trocken und langweilig, egal ob er gerade seine Aktentasche zeigt oder in China eine Schraube versenkt (wirklich!). Danke, Olaf! Die Plattform ist schon problematisch genug ohne einen plötzlich charmanten Social-Media-Kanzler. Das hat auch die EU-Kommission erkannt, also die Problematik für die Psyche.

Am Montag hat sie bekanntgegeben, dass sie ein Verfahren gegen Tiktok eingeleitet hat. Nicht wegen möglicher Datenabflüsse Richtung chinesische Regierung, die die USA gerade zu einem Ultimatum für Tiktok veranlasst haben. Sondern um zu klären, ob die App Tiktok Lite gegen EU-Regeln verstößt, indem sie die psychische Gesundheit von Minderjährigen gefährdet.

Das ergibt Sinn, denn in dieser App, die bisher innerhalb der EU nur in Frankreich und Spanien auf dem Markt ist, bekommen Use­r*in­nen, wenn sie Aufgaben erfüllen, digitale Coins, die sie gegen Gutscheine für echte Geschäfte eintauschen können. Dieser Mechanismus könnte junge Menschen noch mehr an Tiktok binden.

Tiktoks Sogwirkung ist durch seine Schnelligkeit, Emotionalität und ständige Verfügbarkeit groß genug auch ohne ein Coin-System. Seit Jahren schon sprechen Eltern, Politiker*innen, Päd­ago­g*in­nen immer wieder von Social-Media-Sucht. In manchen Fällen sicherlich zu Recht. Diese Fälle könnten jetzt womöglich steigen.

Gereizt, ängstlich oder antriebslos

Der Jugend geht es nicht gut. Das zeigt die repräsentative Studie Jugend in Deutschland, die diese Woche veröffentlicht wurde. 2.000 Menschen zwischen 14 und 29 Jahre wurden dafür befragt. Mehr als die Hälfte gab an, unter Stress zu stehen. Mehr als ein Drittel berichtet von Erschöpfung und Antriebslosigkeit. 17 Prozent fühlen sich hilflos. Junge Frauen mehr als junge Männer. Nahezu alle nutzen fleißig ihr Smartphone, auch schon ohne den monetären Anreiz von Tiktok Lite.

Diejenigen, die ihr Handy mehr als vier Stunden pro Tag nutzen, geben häufiger an, gereizt, ängstlich oder antriebslos zu sein. Das bedeutet nicht automatisch, dass Social Media sie in diesen psychischen Zustand versetzt. Vielleicht nutzen sie wegen ihres Zustands nur öfter das Smartphone.

Ein momentan besonders problematisches Social-Media-Phänomen ist die abscheuliche Lüge vom „International Rape Day“. Seit mindestens 2021 behaupten einzelne Personen immer wieder, am 24. April würden Männer Frauen vergewaltigen dürfen. Tiktok ist aktiv geworden, hat den Suchbegriff „National Rape Day“ geblockt. Als Ergebnis kommt eine Weiterleitung zu Hilfsangeboten. Aber man kann ja auch „Rap“ statt „Rape“ schreiben. Oder einfach nur „April24“ suchen. Menschen umgehen technologische Hürden. Es braucht also etwas anderes.

Deswegen sind Schulen und Kultusministerien verzweifelt. Am Dienstag warnte die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) in einem Brief an die Schulen vor Falschinformationen. Einige Schulleitungen schrieben wiederum den Eltern.

Mehr psychologische Betreuung und Medienbildung

Die Schulleitung einer weiterführenden Schule in Berlin bat die Eltern sogar, auf ihre „Töchter zu achten“. Nachrichten dieser Art gibt es auch von vielen anderen Schulen. Das Bildungssystem ist überfordert von Desinformation, sexualisierter Gewalt und den digitalen Medien. Schon seit Jahren.

Es ist gut, dass die EU sich den Digital Services Act (DSA) gebaut hat, mit dessen Hilfe sie Tiktok konfrontieren kann. Der DSA verbietet es Konzernen, sogenannte Dark Patterns einzusetzen, die Nut­ze­r*in­nen manipulieren. Und er verpflichtet sie, Risikomanagements einzurichten.

Deswegen konnte die EU-Kommission am Montag eine Antwort zur neuen App Tiktok Lite von dem Unternehmen verlangen. Und die Plattform hat sie innerhalb der Frist geliefert, weil sie sonst Strafzahlungen leisten müsste. Diese muss Brüssel jetzt überprüfen.

Was es ansonsten noch braucht: mehr psychologische Betreuung für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene. Mehr Medienbildung für Minderjährige und Erwachsene. Und eine klare Absage an jede sexualisierte Gewalt.

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Johannes Drosdowski
Redakteur Medien/Digitales
Redakteur für Medien und Digitales. Ansonsten freier Journalist und Teamer zum Thema Verschwörungserzählungen und Fake News. Steht auf Comics, Zombies und das Internet. Mastodon: @drosdowski@social.anoxinon.de
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20 Kommentare

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  • Alleine das offensichtlich große Interesse an einem "Rape Day" ist verstörend. Und das Prüfen auf Plausibilität scheint auch nicht gelernt worden zu sein.

  • China braucht keine Armee unter Waffen, um den Westen platt zu machen. Noch eine oder zwei Generationen Internetbildung mit TikTok als Hauptfach, und es hat den Westen in der Tasche, ohne selbst einen Schuss abzugeben.

    • @Erfahrungssammler:

      Als wenn andere soziale Medien da besser wären.

      • @Kaboom:

        Richtig, aber TikTok ist wieder eine weitere Steigerung der Gesellschaftsunverträglichkeit.

  • Gestern erzählte mir ein Junge davon. Ich ging davon aus er hätte Christi Himmelfahrt, also auch Herrentag, gemeint. Seine Äußerung lautete „ein Tag an dem Männer alles machen dürfen“. Um seine Aussage zu verdeutlichen ergänzte er „…na an Frauen“.



    Ich war total verwirrt und habe gleich aufgegriffen, was wir sonst in der Schule auch immer leben (Respekt, Meinungsfreiheit) und ich merkte den Jungen an, dass er nicht so recht wusste, was er da redet.



    Dieser ist jedoch 10 Jahre! Da frage ich mich doch welche Eindrücke sonst noch auf ihn prasseln, ohne sie dann zu besprechen. Er meinte es interessiere seine Eltern nicht, sie wissen auch nicht so genau, was sie App so kann.



    Vielleicht müsste es mal an der Zeit sein, eine scharfe Alterskontrolle für Apps einzusetzen mit verschlüsselten Identitätsnachweis.



    Das Zulassungsalter für TikTok sollte auch hochgesetzt werden. Dessen Probleme werden doch wöchentlich gemeldet. Wie sie auf die Kognition der Menschen wirkt ist auch empirisch, zumindest in Anfängen erforscht.

    Ärgerlich, dass es an genauen Vorstellungen fehlt, was gut für eine Gesellschaft sein kann und was schädlich. Als müsse man sich dauernd neuerdinden.

  • Es muss wirklich schlimm um Schulsystem, Bildungsniveau und sozialen Kompetenzen bei Jugend und "Erziehungsverpflichteten" stehen, wenn es wirklich einen nennenswerte Fraktion unter Jugendlichen gibt, die einen Schwachsinn wie die Geschichte über einen Vergewaltigungstag mit dazugehöriger "Straffreiheit" ernst nehmen....Was es offensichtlich gibt, ist eine Sicht auf die Altersgruppe, die mit dem Wort überhaupt etwas anfangen kann, die das für möglich hält...



    Krass. Ich gehe davon aus, dass die virale Verbreitung der Geschichte v.a. über achso "soziale" Medien eher aus der Motivation "schau mal was es für Schwachsinn gibt..." geschieht. Denn sonst haben wir echt ein Problem ....

  • TikTok ist halt 'ne Zeitbombe. Tiktok tiktok tiktok ...

    • @Hanno Homie:

      Und was ist mit YouTube, Facebook, Twitter, Telegram etc. ?

      • @Frank Ropen:

        Vermintes Gelände Internet ...?

  • "Das Bildungssystem ist überfordert von Desinformation, sexualisierter Gewalt und den digitalen Medien."

    Mag sein, doch ist das ein schlechtes Beispiel dafür:



    Sollten wirklich in erster Linie die Schulen verantwortlich dafür sein, die Jugendlichen niederträchtigen Schwachsinn auszureden, den diese anderswo (also auf TikTok) hören und auch noch glauben?

    Vor allem sind wohl Jugendliche, entgegen allem Anschein und vordergründiger Geschicklichkeit, mit digitalen Medien überfordert.



    Auch, weil viele ihrer Eltern keinerlei Problembewusstsein haben, bis solche Hämmer passieren.

    Ob ein weiterer Bericht nach Brüssel da mehr bringt als ein Elternbrief?



    Auch nach längerem Nachdenken: Erstmal gar nicht so klar ...

  • Wieso die ganze Aufregung, das regelt doch bestens der Markt.

    Auch an unsere Schule erging die Nachricht der Berliner Bildungsenatorin, heute doch etwas wachsamer das Schulgeschehen im Auge zu behalten.

    Die psychischen Probleme der Jugendlichen und den Schaden am sozialen Miteinander im Zusammenhang mit (a)sozialen Medien kann jeder, der länger im Schuldienst tätig ist, tagtäglich erleben. Die Folgen sind drastisch und werden zur Zeit noch unterschätzt.

    Es ist einfach nur unfassbar, dass von Seiten der Politik nicht mehr getan wird, um Kinder und Jugendliche zu schützen.

    • @cazzimma:

      An Privatschulen würde das tatsächlich der Markt regeln und die Leute würden in hohen Bogen rausgeworfen. Aber an staatliche Schulen gibt es keinen Markt und dazu noch eine Schulfpflicht.

    • @cazzimma:

      Ich kopiere hier ein Posting, dass ich gestern zu einem anderen Thema über Jugendliche geschrieben habe:



      "Die Jugend ist das Spiegelbild unserer Erziehung. Also sind in erster Linie die Eltern dafür verantwortlich. Nicht irgendwelche Rattenfänger oder ein falsches Umfeld."



      Das kann man noch erweitern um "Schule".



      Wir als Eltern schreiben nach Schule und/oder Politik, weil wir nicht in der Lage sind, unsere Kindern Werte vorzuleben, die selbstverständlich sein sollten? Geht's noch?

      • @Ahnungsloser:

        Tatsächlich sehe ich Eltern in der U-Bahn, deren Zweijährige mit dem Smartphone ruhiggestellt werden. Da frage ich mich auch immer, wie uninformiert man sein kann.

        Dennoch, in Anbetracht des Suchtpotentials von TicToc und Konsorten, kann es nicht alleinige Aufgabe der Eltern und der Schule sein, hier schützend einzugreifen. Jugendliche lassen sich richtigerweise nicht permanent kontrollieren.

        Es ist sehr wohl Aufgabe der Politik, sich Schutzmaßnahmen zu überlegen und den entsprechenden Plattformen Auflagen zu machen.

  • Kann es sein, dass die Kultusminister mit dem Thema überfordert sind, weil sie einer Generation entstammen, die schon seit Jahren zu wenig Wissen über digitale Medien hat? Daher auch seit Jahren, nicht erst seit Facebook, die Heranwachsenden in unserem Schulsystem mit dem Thema alleingelassen werden?

    • @Sonnenhaus:

      Wer Politiker werden will, muss möglicherweise andere Fähigkeiten ausbauen, Umgang mit digitalen Medien gehört wohl nicht dazu. Politiker müssen anderweitig viele Akten lesen, mit echten Menschen zumeist in Präsenz reden, an echten Demos auf der physischen Straße teilnehmen und haben deshalb nicht die Zeit, viel auf unsozialen Medien zu lesen.

    • @Sonnenhaus:

      Es gibt inzwischen genug wissenschaftliche Studien, die das Suchtpotenzial "sozialer" Medien nachweisen.



      Je nachdem, wie früh das Kind dem Internet ausgesetzt wird, hat dies Folgen für die Gehirnentwicklung insgesamt.



      Die Macht der Plattformen einzuschränken, dazu gehört natürlich politischer Wille. Wahrscheinlich würde auch eine FDP mit ihrem fragwürdigen Freiheitsbegriff dies nicht wollen.



      Wenn Sie in der Schule arbeiten, haben Sie es mit zunehmend mehr jungen Menschen zu tun, denen es psychisch nicht gut geht. Bei vielen lassen sich sprachliche Einschränkungen und mangelnde Sozialkompetenz feststellen. Hinzu kommt die inzwischen erkennbar höhere Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen.



      Aber man lässt es laufen und Parteien wollen einfach auch nur auf TicToc vertreten sein.



      Das ist hochgradig infantil und verantwortungslos.

  • Suchtverlagerung



    Die große Freude über weniger Alkoholexzesse



    bei Jugendlichen ist zwar schön, doch offenbar gibt es noch andere Probleme.

  • „International Rape Day“

    Wer im 21. Jahrhundert glaubt, dass es so etwas geben könnte, kann nur Watte im Kopf haben.

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      Naiver geht's kaum.