Launch der ePatientenakte: Für Forschung und Industrie
Die Bundesregierung treibt die Digitalisierung des Gesundheitssystems voran. Patient:innen dürften allenfalls in zweiter Linie profitieren.
B ei der Digitalisierung des Gesundheitssystems geben sich alle Beteiligten viel Mühe, zu betonen, um was es gehen soll: das Wohl der Patient:innen. Und tatsächlich ist nicht auszuschließen, dass insbesondere komplizierte Fälle davon profitieren, wenn das medizinische Personal einen umfassenderen Einblick in die Gesundheitsgeschichte hat. Wenn also von der Hausärztin bis zur Klinik, von der Psychotherapeutin bis zum Physiotherapeuten alle Beteiligten schnell die Übersicht der Medikation zur Hand haben, die Therapieansätze und die Ergebnisse bildgebender Verfahren. Dass sich aus der umfassenden Datenüber- und -einsicht tatsächlich ein Vorteil für die Betroffenen komplizierter Krankheiten ergibt, ist aber keineswegs gesetzt – ebenso wenig wie Vorteile für die unkomplizierten Fälle.
Das hat mit einer Reihe von Faktoren zu tun und auch damit, dass die Pläne zahlreiche Risiken bergen, die alle Versicherten kennen sollten. Schließlich werden sie voraussichtlich kommendes Jahr die Entscheidung treffen müssen, ob sie eine elektronische Patientenakte (ePA) wollen oder nicht. Und wer keine Entscheidung trifft, trifft auch eine: Nichthandeln heißt in diesem Fall Zustimmung.
Die Zustimmung gilt zum einen dafür, dass alle Ärzt:innen und medizinischen Behandler:innen Einblick in die Diagnosen, die Ergebnisse bildgebender Verfahren, Medikamente oder Behandlungshistorie bekommen. Ein Einblick, der insbesondere für von Diskriminierung betroffene Gruppen Nachteile bedeuten kann – etwa bei Menschen, die nach Körperformen, zugeschriebener Herkunft oder aufgrund einer Diagnose aus der Vergangenheit aus der Masse herausstechen. So zeigen Studien, dass Menschen mit Adipositas im Gesundheitssystem benachteiligt werden. Ihre Leiden werden weniger ernst genommen, auf das Gewicht geschoben, mitunter bleiben diagnostische Verfahren aus und Krankheiten werden übersehen. Ähnliches berichten Menschen, in deren Akte sich ein Diagnosecode für eine psychische Erkrankung befindet: Im Zweifelsfall wird ein körperliches Leiden, das sie in die Praxis gebracht hat, als psychosomatisch klassifiziert.
Doch neben dem Einblick für behandelndes Personal plant die Bundesregierung weitere und weitgehende Datenweitergaben: an Forscher:innen aus Wissenschaft und Industrie. Der gängige Argumentationsweg ist hier häufig die Coronapandemie: Deutschland sei in diesem Kontext auf Daten aus anderen Ländern angewiesen gewesen. Diese Argumentation vergisst allerdings ein Detail: Deutschland hat während der Pandemie auch in Bereichen, in denen das auch ohne digitale Patientenakte und einen Zugriff darauf für die Forschung möglich gewesen wäre, lieber nichts getan. So wurden etwa hierzulande deutlich weniger positive Proben sequenziert, also nach einem genommenen Abstrich der Virustyp bestimmt, als etwa in Großbritannien oder Dänemark. Das wäre eine Forschung ganz ohne persönliche Daten gewesen.
Adam und ePa
Dazu kommt: Die Daten, die Industrie und Wissenschaft bekommen, werden nicht anonym sein können. Das hängt zum einen damit zusammen, dass Gesundheitsdaten in der Regel derart individuell sind, dass schon mit einem Teil der Informationen eine Identifizierung möglich ist. Zusätzlich können durch Freitextfelder, wo also Ärzt:innen im Fließtext Informationen festhalten, weitere persönliche Daten an Dritte gelangen. So kommt etwa Sylvia Thun, die als Professorin an der Berliner Universitätsklinik Charité tätig ist, in einer Stellungnahme für den Gesundheitsausschuss des Bundestags zu dem Ergebnis: Die „vollautomatisierte Ausleitung ohne vorherige Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger [würde] zu einer Verletzung des Datenschutzrechts und des Arztgeheimnisses führen“. Sie fordert, dass Patient:innen der Nutzung ihrer Daten für die Forschung aktiv zustimmen müssen – und zwar differenziert nach Forschungsthemen und Dokumenten. Vorgesehen ist aktuell, dass auch bei der Weitergabe der Daten an die Forschung Schweigen Zustimmung bedeutet.
Nun müsste das alles nicht dagegen sprechen, sich eine ePA einrichten zu lassen – vor allem dann nicht, wenn man sich einen Nutzen davon verspricht. Allerdings: Dass Patient:innen darauf hoffen können, dank einer Berücksichtigung der Gesundheitshistorie besser behandelt zu werden, ist keineswegs sicher. Denn bei einer Anhörung im Gesundheitsausschuss wurde kürzlich ein entscheidendes Detail deutlich: Ob die Behandler:innen dazu verpflichtet werden, die Daten aus der elektronischen Patientenakte zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen, ist längst nicht ausgemacht. Realistisch betrachtet ist es extrem unwahrscheinlich, dass eine solche Pflicht kommen wird. Denn die Ärzt:innenschaft wird sich mit allen Mitteln dagegen wehren. Das ist nachvollziehbar: Schließlich haben die wenigsten von ihnen Extra-Zeit, um sorgfältig lange Datenreihen durchzugehen oder zurückliegende Diagnosen zu durchforsten. Ganz abgesehen von dem Haftungsrisiko, falls jemand etwas übersieht.
Ob der Datenschatz, der in der elektronischen Akte gespeichert wird, so man als Versicherte:r nicht widerspricht, individuell also überhaupt einen Vorteil bringen wird, ist unklar. Wobei die deutsche Gesetzgebung, die zumindest ein Widerspruchsrecht vorsieht, schon das kleinere Übel zu sein scheint: Die EU plant ein ähnliches Projekt der Digitalisierung von Patientendaten – ohne die Möglichkeit zum Widerspruch.
Klar ist, wer in jedem Fall profitiert: Akteure aus der wissenschaftlichen und industriellen Forschung. Die bekommen über das Forschungsdatenzentrum Zugriff auf die Daten. Damit wird klar, um was es bei den Digitalisierungsvorhaben im Gesundheitssystem eigentlich geht: Standortförderung. Wenn die Patient:innen nebenbei profitieren, ist das im Sinne der Erfinder:innen. Aber wenn nicht – dann wird niemand die elektronische Patientenakte wieder abwickeln.
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