Kinderärztin über Lage an Kliniken: „Muss erst ein Kind sterben?“

Kinderkliniken leiden unter Personalmangel und fürchten den kommenden Winter. Die Kinderärztin Songül Yürek hat einen Brandbrief an die Politik mitinitiiert.

Kinderzeichnung eines Menschen im Krankenhausbett

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen – ihre Gesundheit braucht mehr Personal Foto: Westend61/imago

taz: Frau Yürek, Sie sind Assistenzärztin in einer Berliner Kinderklinik. Warum betätigen Sie sich jetzt auch politisch?

Songül Yürek: Das Problem Personalmangel besteht schon seit Längeren, in der Pandemie hat sich das verschärft. Im letzten Herbst und Winter gab es in Berlin eine schlimme Infektwelle, die alle Kinderkliniken und Rettungsstellen sehr stark belastet hat. So stark, dass wir uns als Initiative zusammengetan und den ersten Brandbrief an die Politik verfasst haben. Wir konnten den Zustand nicht mehr hinnehmen, ohne etwas zu tun.

ist Assistenzärztin in einer Berliner Kinderklinik, sie engagiert sich in der Ini­tiative der Berliner Kinder­kliniken und ist deren stellvertretende Vorsitzende.

Und dann?

Bis zu dem zweiten Brandbrief, den wir jetzt veröffentlicht haben, ist absolut nichts passiert. Wir fürchten uns einfach vor dem kommenden Winter. Die Infektwelle hat schon wieder begonnen.

Aber Corona ist doch nicht so schlimm für Kinder, heißt es immer.

Wir reden hier nicht über Corona, zumindest nicht vordergründig. Bei Kindern sind klassische Viren wie RSV viel bedeutsamer. Wir merken seit Jahren, dass die ohnehin dünne Personalausstattung in den Infektzeiten nicht ausreicht. Jetzt überschreiten wir die Grenze.

Personalmangel herrscht in allen Bereichen des Gesundheitswesens, inwiefern ist es im Bereich Kinderheilkunde noch mal schlimmer?

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Beispiel Blutabnehmen: Einem Erwachsenen sage ich, halten Sie mal kurz den Arm still, und das dauert 10 Minuten. Einem Kind muss ich gut zureden, brauche manchmal mehrere Versuche oder eine zweite Person. Das dauert oft erheblich länger, manchmal das Vier- bis Fünffache an Zeit. Dazu kommt, dass Therapien und Untersuchungen auch den Eltern noch einmal extra erklärt werden müssen. Dieser erhöhte Zeit- und Personalaufwand bei Kindern spiegelt sich aber in den aktuellen Fallpauschalen überhaupt nicht wider. Es hieß jahrelang, dann müssten wir uns besser strukturieren. Aber wir sind an einem Punkt angekommen, da ist alles ausgereizt.

Die Fallpauschalen sind ein System, bei dem vor allem nach Diagnosen und nicht nach tatsächlichem Zeitaufwand vergütet wird. Es wurde 2004 für nahezu alle Krankenhausbehandlungen eingeführt und hat letztlich dazu geführt, dass massiv am Personal gespart wird.

Ja, und dadurch sind die Arbeitsbedingungen so schlecht geworden, dass immer mehr Fachärzte abwandern. Wir verlieren viele an andere Bereiche, an niedergelassene Praxen oder an die Pharmaindustrie. Inzwischen ist auch das Erfahrungslevel auf den Stationen stark gesunken. Aufgaben, die eigentlich einen Facharzt verlangen, werden von jungen, kaum erfahrenen Kollegen erledigt.

Mir haben Kol­le­g:in­nen von Ihnen berichtet, dass Kinder zu Schaden gekommen sind, weil sie nicht ausreichend versorgt worden konnten. Ist das auch Ihre Erfahrung?

Offenbar wollen die Leute immer hören, da ist schon ein Kind gestorben. Mir ist das noch nicht passiert, sonst würde ich den Job ganz bestimmt nicht mehr machen. Aber mein Gott, muss es denn echt erst so weit kommen? In der letzten RSV-Welle haben Kinder fünf Stunden in der Notaufnahme auf eine Behandlung gewartet. Die Sorge, dass sich in dieser Zeit ein zunächst gut behandelbarer Befund massiv verschlechtert, ist die ganze Zeit da. Viele Eltern gehen, ohne dass das Kind einen Arzt gesehen hat, weil sie nach Stunden Wartezeit nicht mehr konnten. Was mit denen passiert, weiß ich gar nicht. Ich kann nur hoffen, dass sie zurückkommen, wenn es noch schlimmer wird.

Wie sieht so ein typischer Dienst in der Kinderrettungsstelle aus?

Im Nachtdienst ist zum Beispiel oft nur ein Arzt oder eine Ärztin da. Dann kommen Eltern und sagen, mein Kind erbricht die ganze Zeit, machen Sie was! Es sind aber schon mehrere Kinder da, die noch dringender behandelt werden müssen. Jeden Tag diese Entscheidungen zu treffen, ist eine unheimliche moralische Belastung. Man ist die ganze Zeit am Limit und dann kommen Eltern und diskutieren, zum Teil aggressiv, warum sie immer noch warten. Manche fangen auch an zu filmen und drohen. Da mussten wir schon die Polizei rufen. Im Hintergrund weinen dann die Kinder. Solche Situationen machen auch etwas mit einem. Ich möchte meine Empathie behalten. Aber irgendwann kann man einfach nicht mehr. Ich gehe öfter mit einem schlechten als mit einem guten Gefühl aus dem Dienst.

Sie brauchen mehr Entlastung, so wie es zuletzt die Berliner Pflegekräfte mühsam ausgehandelt haben?

Es geht uns ja nicht um mehr Freizeit, es geht uns um die Versorgungssicherheit, darum, dass kranke Kinder nicht mehr stundenlang warten oder quer durch die Stadt ins Umland gefahren werden müssen, weil es in Berlin keine Klinik mehr gibt, die dieses Kind aufnimmt. Darum kümmere ich mich nachts um drei auch noch: Ich telefoniere Stationen ab, Krankenhäuser in Berlin und dann in Brandenburg.

Da gibt es kein System, bei dem Sie sofort sehen, dort und dort sind noch zwei Plätze frei?

Kein funktionierendes. Wir schicken auch noch Faxe zur Anmeldung in die Radiologie. So viel zur Digitalisierung.

Eigentlich gibt es Vorgaben, wie lange ein Patient mit bestimmten Symptomen auf eine ärztliche Behandlung maximal warten darf, oder?

Das Manchester-Triage-System, ja. Ein Säugling mit 40 Grad Fieber, Trinkschwäche und Schlappheit muss ganz schnell angeschaut werden, da gibt es eine klare Vorgabe und die wird regelmäßig überschritten. Oder ein Kind mit unspezifischen Bauchschmerzen, die sich dann als durchgebrochener Blinddarm herausstellen. Da fragt man sich auch, ob der Blinddarm erst in der zu langen Wartezeit durchgebrochen ist.

Gibt es einen Personalschlüssel, wie viele Pa­ti­en­t:in­nen ein:e Me­di­zi­ne­r:in maximal betreuen darf?

Für die Pflege wurde das jetzt in Berlin durchgesetzt. Für die Ärz­t:in­nen ist das eine unserer Forderungen. Wir haben ausgerechnet, dass ein Arzt maximal sechs Patienten versorgen kann. Auf manchen Stationen ist aber inzwischen schon ohne Krankheitsfälle nur noch ein Arzt eingeplant – für rund doppelt so viele Patienten. In der Medizin und vor allem in der Kinderheilkunde arbeiten ja Leute, die helfen wollen. Wir arbeiten dann länger, springen zusätzlich ein, wenn die Arbeit nicht geschafft ist oder jemand krank wird. Einige von uns haben so viele Überstunden, dass sie einen ganzen Monat freinehmen könnten. Aber wann wollen Sie die nehmen, wenn zu wenig Personal da ist, um einen vernünftigen Dienstplan zu schreiben?!

Hat sich die stationäre Versorgung von Kindern in den vergangenen Jahren nur verschlechtert?

Nein. Dank Fortschritten in der Behandlung überleben Kinder komplizierte Erkrankungen, bei denen sie früher kaum eine Chance hatten. Aber auch diese innovativen Behandlungen sind komplex, erfordern zusätzlich Zeit und Personal.

Kinder sind ein emotionales Thema, keiner will doch verantwortlich dafür sein, dass sie zu Schaden kommen. Gab es nach dem ersten Brandbrief gar keine Reaktionen?

Klar, Betroffenheit zeigen alle. Es gab Gespräche, aber es ist eben nichts Konkretes passiert. Bei unserem zweiten Brandbrief gab es bisher vonseiten der Politik nur die Rückmeldung, dass der Brief zur Kenntnis genommen wurde.

Aber Gesundheitsminister Lauterbach hat doch schon angekündigt, die Kinderkliniken aus dem System der Fallpauschalen rauszunehmen, sie nach Bedarf zu finanzieren. Damit wird doch alles besser oder nicht?

Das soll 2023 kommen, bis dahin müssen wir noch diese Infektwelle überstehen.

Das sind nur noch drei Monate.

Für uns ist das richtig viel. Wir erwarten eine Welle, die mindestens genauso schlimm ist wie im letzten Herbst/Winter. Mit einer Personalsituation, die sich eher noch zugespitzt hat. Das ist, als würde man aus dem Hochhaus springen, im freien Fall und sagen, bis jetzt ist doch noch nichts passiert.

Aber der Ausstieg aus den Fallpauschalen ist der richtige Weg?

Wir hoffen das sehr. Aber noch wissen wir nicht, was stattdessen kommt.

Was brauchen Sie, um wieder mit einem guten Gefühl den Dienst beenden zu können?

Man fühlt sich schon wie eine kaputte Schallplatte: Wir brauchen mehr Personal in allen Bereichen.

Aber das wird es doch sowieso nicht geben?

Wir sind vernetzt mit Kinderkliniken in anderen Städten und Regionen. Der Personalmangel ist überall ein Problem, aber die Gründe sind unterschiedlich. Gerade in ländlichen Regionen ist es auf jeden Fall so, dass die Be­wer­be­r:in­nen fehlen. Aber in der Berliner Kinderheilkunde, das kann ich ganz klar sagen, fehlen einfach die Stellen. Da könnte man sofort mehr Personal einstellen. Es mag meine simple Sicht sein, aber wenn von jetzt auf gleich Milliarden für die Rüstungsindustrie bereitgestellt werden, dann muss doch auch die Gesundheitsversorgung von Kindern so finanziert werden, dass sie über den Winter kommt.

Schon letzten Winter gab es einen dringenden Hilferuf der Berliner Kinderkliniken. Irgendwie hat es dann aber doch funktioniert, oder?

Ja und dann sagen die Verantwortlichen, dass es diesen Winter doch auch noch mal irgendwie gehen wird. Aber der Preis dieser Augenwischerei kann eben zu hoch sein.

Wenn Gesundheitsminister Lauterbach hier neben uns auf dem dritten Stuhl sitzen würde, was würden Sie ihm sagen?

Dass unser aktuelles Gesundheitssystem von Menschen gemacht wurde. Und Menschen können es auch ändern.

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