Wladimir Putins Mobilmachung: Tragik der russischen Gesellschaft
Der Krieg ist in Russland angekommen. Aber zu ernsthaften Protesten wird es nicht kommen, weil die Lage für die meisten zu ausweglos ist.
D er Krieg ist in Russland angekommen, in Form eines Papiers von einem Einberufungsamt. Mit Hinweisen, wo man sich wann vorzustellen habe, samt der sogenannten Militär-Karte. Hatte Russlands Präsident Wladimir Putin eine Mobilmachung in den vergangenen Monaten stets mit den Worten ausgeschlossen, in der Ukraine führe Russlands „professionelle Armee hochgerüsteter Berufssoldaten“ eine „militärische Spezialoperation“ aus, hat er ebendiese Mobilmachung nun voller Eile ausgerufen.
Es ist das Eingeständnis des Kremls, dass die russische Armee in der Ukraine in die Defensive geraten ist. Es bedeutet eine Eskalation, weil Moskau kaum mehr Mittel hat, als zu drohen – bis hin zum Äußersten: mit Atomwaffen, vor deren Einsatz es selbst Angst hat. Das System Putin zeigt seine Schwächen nach außen. Der Westen muss dabei nicht in Angst erstarren.
Viele Russinnen und Russen sind erst jetzt aufgewacht. Der Staat fordert nun offen das Schlimmste, was er von ihnen überhaupt einfordern kann: für diesen Staat zu sterben. Den eigenen Sascha, Wanja oder Kolja will da kaum einer in den Tod schicken. Folgt dem Erwachen ein Volksaufstand? Das Ende des Regimes Putin? Keineswegs.
Denn die Frage bleibt ja: Was muss geschehen, wenn Sascha, Wanja, Kolja am Leben bleiben sollen? Flucht? Eine Flucht braucht Geld, braucht Möglichkeiten, braucht die Zuversicht, irgendwo im Ausland, und sei es noch so nah, in Sicherheit zu sein. Eine Flucht braucht Mut. Widerstand? Widerstand braucht im repressiven Russland einen starken Willen, braucht die Kraft, sich gegen hochgerüstete Spezialpolizisten zu stellen, im Wissen darum, mit einem Schlagstock verprügelt zu werden und danach vieles zu verlieren: die Gesundheit, den Job, womöglich die Freiheit. Zehn Jahre Gefängnis wegen Fahnenflucht? Allein diese Vorstellung lässt in Russland durchaus viele Männer lieber an die Front ziehen.
Denn diese Optionen würden den Reservisten samt ihren Familien viel Furchtlosigkeit abverlangen. Menschen, die jahrzehntelang politisch demobilisiert worden sind, die mit dem Glaubenssatz „Steck deinen Kopf nicht raus“ aufgewachsen sind, werden sich nicht schnell gegen einen Staat auflehnen, der mit seinen repressiven Instrumenten bestens funktioniert.
Eine Wahl zu haben und eine Wahl treffen zu können, ist ein Privileg. In einem jakutischen oder nordkaukasischen Dorf gibt es wenig Privilegien. Der Weg in den Krieg, dieser Weg in den möglichen Tod, ist selbst für die, die ihn nicht gehen wollen, nahezu der einzige. Das ist die Tragik der russischen Gesellschaft.
Im Staats-TV dröhnen die Moderator*innen und Gäste indes von „Chancen“, sich als „echter russischer Mann zu beweisen“. Auch darauf setzt der russische Staat: auf das anerzogene Rollenverständnis von einem Mann als Verteidiger. Die ersten Busse mit Reservisten sind bereits zu Trainingscamps aufgebrochen. Die Männer geben sich gelassen, ihre Frauen und Kinder schluchzen.
Kein Interesse für die Referenden
Es ist eine Ausweglosigkeit, die derzeit jeder quer durchs Land auf seine eigene Weise erlebt, stets verknüpft mit der Hoffnung: „Es möge mich nicht treffen.“ Bis es einen doch trifft – und die Menschen den Schlag hinnehmen und viele ihn ertragen. Denn über Jahre hinweg haben sie gelernt, kein politisches Subjekt zu sein, dass Politik etwas Fernes ist. Dass Wahlen keine Bedeutung haben. Und Referenden noch weniger.
Deshalb interessiert sich auch kaum einer in Russland für die Scheinreferenden, die bis zum 27. September in den von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine abgehalten werden. Selbst nach russischem Recht sind diese nicht rechtens. Fragt jemand danach? Nein, weil diese „Referenden“ reine Akklamation sind, die Bestätigung dessen, was der Kreml bereits beschlossen hat. Aus Panik? Aus Kalkül? Das ist nicht wichtig.
Der „Volksentscheid“ ist einzig dem Nachweis geschuldet, Unterstützung für Putin zu generieren. Die Rolle des Volkes – wer auch immer dieses Volk spielen darf – liegt darin, zustimmend Beifall zu klatschen. Die Haltung vieler im Land: Der Kreml macht, was der Kreml will. Diesem Willen beugen sich die meisten Menschen in Russland. Europa aber darf sich dem nicht beugen.
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