Politologe über Krise von Scholz: „Die Ampel liefert bisher zu wenig“

Scheitert nach der Impfpflicht auch das Milliarden-Paket für die Bundeswehr? Dann stünde die Regierung am Abgrund, sagt Politologe Wolfgang Schroeder.

Olaf Scholz mit dem stellvertretenden Regierungssprecher Wolfgang Büchner während einer Kabinettssitzung

Hat einen schlechten Lauf: Kanzler Olaf Scholz Foto: John Macdougall/dpa

taz: Herr Schroeder, die Impfpflicht ist im Bundestag gescheitert. Das von Bundeskanzler Scholz angekündigte 100-Milliarden-Euro-Bundeswehr-Paket hatte bei einer Probeabstimmung im Bundesrat kürzlich keine Mehrheit. Wo hakt es bei der Ampel?

Wolfgang Schroeder: Die Regierungsaufstellung ist noch nicht gefunden. Eine Dreierkoalition braucht mehr Integrationsleistung, die sich offensichtlich nicht einfach über die Richtlinienkompetenz des Kanzlers herstellt. Es herrscht aber noch kein deliberativer Regierungsstil: Jeder scheint in zentralen Fragen auf seinen Positionen zu beharren. Das führt in den neuralgischen Punkten dazu, dass spät oder nicht im Sinne einer gemeinsamen Position entschieden wird. Die Impfpflicht ist dafür das dramatischste Beispiel.

Woran ist die Impfpflicht letztlich gescheitert?

Erst mal an der FDP. Die FDP-Minister haben im Bundestag alle gegen die Impfpflicht und damit gegen eine präventive Grundposition der Ampel gestimmt. Sie haben sich nicht getraut, ihre Oppositionsposition zu verlassen und sich zu einer verantwortlichen Regierungsposition zu bekennen. Das wäre die Minima Moralia der Schutzpolitik durch die Ampel gewesen.

Wolfgang Schroeder, 1960 in Mayen/Eifel geboren, ist Professor im Fachgebiet Poli­ti­sches System der Bundesrepublik Deutschland an der Uni Kassel. Er ist Mitglied der Grundwertekommission der SPD.

Ist die FDP das Problem der Ampel?

Die FDP hat mit ihrer Zugehörigkeit zu dieser Koalition bislang keinen Erfolg bei den Wählern. Für die eigene Klientel scheint nicht erkennbar zu sein, was die Regierungsbeteiligung bringt. Wenn sich die FDP in die Rolle des Vetoplayers eingraben sollte, ist kein deliberatives Regieren möglich.

Die Niederlage bei der Impfpflicht wird aber eher dem Kanzler als der FDP ankreidet. Zu Recht?

Scholz hat versucht, aus der Not, dass die FDP nicht mitmachen wollte, eine Tugend zu machen. Er hat die Abstimmung zur Gewissensentscheidung erklärt, aber ohne das Ende zu bedenken. Die Gewissensentscheidung macht nur Sinn, wenn sich alle Fraktionen daran halten. Die Union hat aber auf die Logik der Macht gesetzt. Damit wurde die Gewissensentscheidung zur Farce.

Scholz und die SPD-Fraktion haben also nicht zur Notbremse gegriffen, sondern den Zug in den Abgrund fahren lassen?

Es gab keinen Plan B für den Fall, dass der Plan Gewissensentscheidung nicht aufgeht. Scholz hat zu spät erkannt, dass dieser Weg zur Blamage führt. Auch die SPD-Fraktionsspitze hat nicht selbstbewusst dagegengehalten, als sich abzeichnete, dass die Union sich nicht bewegt. Damit ist ein gefährliches Bild entstanden: Der Kaiser hat keine Kleider an.

Fehlt der SPD ein strategisches Zentrum?

Man benötigt neben dem Steuerungszentrum Kanzleramt auch andere Akteure, die wie bei der Impfpflicht korrigierend hätten eingreifen können und fragen: Können wir noch aussteigen? Können wir den Prozess mit der Union neu auflegen? Die handelnden Personen sagen zwar: Das haben wir alles probiert. Warum hat die SPD die FDP in so einer entscheidenden Frage einfach machen lassen?

Der Kanzler hätte ein Machtwort sprechen können. Oder aus guten Gründen darauf verzichten und den taktischen Rückzug antreten können. Aber für solche Korrekturen fehlten wohl auch die konstruktiven Bezugspunkte.

Was heißt das?

Von der Fraktion und von der SPD in den Bundesländern müsste mehr kommen. Die SPD-Fraktion scheint sich eher als Befehlsempfänger des Kanzleramts zu verstehen. Sie sagt höchstens mal: „So wird das nicht gehen“, besitzt aber gegenüber dem Kanzleramt keine eigene Strategiefähigkeit. Die Fraktionsführung …

… also Rolf Mützenich …

… ist eklatant schwach. Ähnlich ist es auf der Länderebene. Es gibt viel negatives Geraune über das Kanzleramt, aber gegenwärtig keine starke SPD-Ministerpräsidentin, die/der dem Kanzleramt Paroli bietet. Was fehlt, ist ein Gegenpol mit einer eigenen Position. Nicht destruktiv, sondern konstruktiv und kooperativ.

Sind die normalen Startschwierigkeiten einer neuen Regierung? Oder ist das schon eine fundamentale Krise?

Diese Regierung hat den schwersten Start seit 1949. Und sie hat bisher keinen Griff gefunden, um diese asymmetrische Koalition zum Laufen zu bringen. Rechnerisch hat sie eine ausreichende Mehrheit – das Ergebnis war bei der Impfpflicht, dass die Mehrheit der Ampel scheiterte, obwohl es im Parlament eine überwältigende Mehrheit für eine Impfpflicht gibt. Auch in der Frage der Modernisierung der Bundeswehr gibt es eine überwältigende Mehrheit. Trotzdem ist unsicher, ob es die erforderliche Mehrheit geben wird.

Für das 100-Milliarden-Bundeswehr-Paket braucht Scholz die Union für die Zweidrittelmehrheit. Verkalkuliert sich der Bundeskanzler da genauso wie bei der Impfpflicht?

Es gibt in beiden Fällen zumindest die gleiche Logik – der Glaube an den breiten Konsens, und dass dieser Konsens sich selbst realisiert. Es ist der Glaube an die Vernunft, die zu sich selbst kommt.

Aber kann die Union es sich leisten, das Sondervermögen und damit die Finanzierung der Bundeswehr scheitern zu lassen?

Die Aussichten sind für die Ampel etwas besser als bei der Impfpflicht. Aber der Weg wird ähnlich schwierig und bucklig. Die Union reklamiert für sich einen machtpolitischen Oppositionsstatus. Sie wird deshalb die Dinge nicht einfach durchwinken. Sie wird kämpfen, Gegenpositionen aufbauen, um sichtbar zu sein und einen Preis zu erzielen.

Konkret fordert Unionsfraktionschef Merz, dass die Ampel alle Stimmen für das 100-Milliarden-Paket braucht. Also sollen nur so viele Unionsabgeordnete mit Ja stimmen, wie unbedingt für die Zweidrittelmehrheit erforderlich sind.

Es werden nicht alle Ampel-Abgeordneten mit Ja stimmen, das ist klar. Für kleinere Teile in den Fraktionen von Grünen und SPD sind diese 100 Milliarden eine Wertefrage, bei der sie nicht folgen können. Das wird aber eine überschaubare Größe sein.

Hat Merz machtpolitisch einen Hebel in der Hand?

Ja, denn es wird keine hundertprozentige Zustimmung der Ampelfraktionen geben. Aber es wird auch nicht die Zerrissenheit geben, die Merz sich wünscht.

Ist die Ampel am Ende, wenn das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr scheitert?

Sie wäre nicht mehr weit davon entfernt. Die 100 Milliarden Euro waren das Zentrum der Regierungserklärung vom 27. Februar. Sie sollte einen Befreiungsschlag gegenüber den Nato-Verbündeten und der öffentlichen Meinung im Hinblick auf die Ukraine darstellen und die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr sichern. Das wäre Makulatur. Damit wäre klar: Diese Regierung ist in substantiellen Fragen nicht handlungsfähig.

Die Regierung funktioniert nicht?

Das sogenannte Fortschrittsbündnis liefert bislang zu wenig. Es vermag es nicht, wirklich eine lagerübergreifende Koalitionsbildung einzulösen. Die Regierung agiert derzeit in wichtigen Fragen sogar unterhalb des Niveaus der Großen Koalition. Mit anderen Worten: Der Preis, um die Union fern von der Macht zu halten, ist hoch. Dieser Preis ist: Weniger politisch zu liefern, als es mit der Union in der Regierung möglich wäre.

Welchen Anteil hat Kanzler Scholz an dieser Stagnation?

Angesichts der gigantischen Herausforderungen macht Scholz einen guten Job. Er ist nicht sprunghaft und setzt eher die langen Linien.

Die Politik erklären aber eher die grünen Minister Robert Habeck und Annalena Baer­bock. Bundeskanzler Scholz wirkt im Vergleich wenig präsent. Warum?

Habeck und Baerbock wirken authentisch und einfühlsam. Sie versuchen, den Möglichkeitsraum des Regierens zu erweitern. Scholz wird hingegen eher als Moderator wahrgenommen, der zudem das Medium der symbolischen Politik kaum nutzt. Er besucht nicht das Flüchtlingszelt vor dem Berliner Hauptbahnhof. Er fährt nicht nach Kiew. Er verzichtet damit auf Symbole, die zeigen, dass er mehr als der routinierte, professionelle Problemlöser ist. Deshalb sind die Rollen vertauscht. Normalerweise ist der Kanzler der Good Guy, die Minister sind eher die Bad Guys. Hier ist es umgekehrt.

Also müsste Bundeskanzler Scholz öfter im Fernsehen auftreten?

Nein, er ist ja oft im TV. Und er könnte noch viel öfter im TV auftreten – das Publikum würde es trotzdem nicht bemerken, weil er das Medium nicht so nutzen will, um wirkliche öffentliche Akzente zu setzen. Er nutzt die Macht der Bilder nicht und erreicht deshalb die Herzen der Leute nicht.

Er ist eben kühl, zurückgenommen, sachlich.

Ja, das ist einerseits sehr gut. Er ist der Ernsthafte, der die Dinge vom Ende her bedenkt. Aber wir brauchen auch einen lernenden Kanzler, der sich zumindest fallweise der Macht der Symbole bedient, um seine Position zu festigen. Die kluge Moderation hinter verschlossenen Türen reicht nicht immer, um die Legitimation dieser Regierung abzusichern.

Ein Kanzler, der zu wenig auf die Öffentlichkeit zugeht, und zugleich Baerbock und Habeck, die als Minister und Ministerin der Herzen auf der Bühne agieren – das könnte zu einer Asymmetrie des Regierens führen, die den Zusammenhalt gefährdet. Die zentralen Probleme aber sind die SPD-Fraktionsführung, die unzureichende Führung durch das Kanzleramt und wenig korrekturwillige SPD-Ministerpräsidenten. Und die eher destruktive FDP, die nicht in der Lage ist, ihre Startposition zu verlassen.

Hat die Ampel keine Zukunft mehr?

Sie hat nach wie vor eine Zukunft. Vor allem, wenn sie sich stärker am Spirit der Koalitionsverhandlungen orientiert. Doch bislang erkennt man den Spirit des ambitionierten Projektes in den konkreten Handlungen zu wenig.

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