Prioritäten von SPD, Grünen und FDP: Das lässt sich nicht schönkiffen
Die angehenden Koalitionäre debattieren lieber über Cannabis als über die wirklich drängenden Probleme wie die Energiewende. Das darf nicht sein.
ber Cannabis zu diskutieren ist ein bisschen, wie mit Betrunkenen zu sprechen, die einem immer wieder das Gleiche erzählen: „Cannabis ist Gift“ (FAZ), „Recht auf Rausch“ (Spiegel) oder „Kommt die Kiffer-Koalition?“ (Bild.de). Umso erstaunlicher, dass die Menschen in Deutschland sich noch immer brennend für das Thema interessieren: Seit Jahren googeln sie „Cannabis“ häufiger als „Klimawandel“ oder „Hartz IV“.
Sich für die Legalisierung von Cannabis einzusetzen gehört zum Lifestyle vieler junger Menschen. Da kann jede:r die Argumente für die Legalisierung aufzählen, als wäre es das Vaterunser. Mitmachen geht auch, ohne Ahnung zu haben: Einfach einen Sticker mit „Legalize it“ an den Uni-Spind kleben, Hanf-Socken von H&M tragen und ein witziges Video von der Drogenbeauftragten Daniela Ludwig (CSU) teilen: Haha, „Cannabis ist kein Brokkoli“. In den vergangenen zwei Wochen allerdings drängelte sich das Thema in die vorderen Reihen des nationalen Diskurses. Die Agenturen veröffentlichten seit der Bundestagswahl Ende September stolze 81 Meldungen, in denen „Cannabis Legalisierung“ vorkam. Zum Vergleich: Zum „Bürgergeld“ waren es nur 58. Auf Twitter schaffte es das Legalisierungsthema seitdem fast jeden Tag in die Trends (#Legalisierung2022, #WirWollenCannabis).
Tatsächlich scheint die Legalisierung von Cannabis in Deutschland so greifbar wie nie. So schrieb die stellvertretende Grünen-Chefin Ricarda Lang vorletzte Woche Mittwoch bei Twitter: „Um die tausenden Mails in meinem Postfach zu befriedigen: Ich denke ganz fest an die Legalisierung von Cannabis, versprochen.“ Und da die SPD zumindest für Modellprojekte mit legalem Cannabis ist, sind derzeit über 60 Prozent des Bundestags für eine Legalisierung. Sogar die unter Cannabis-Fans so verhasste Drogenbeauftragte Daniela Ludwig sprach sich dafür aus, zumindest den Besitz weniger Gramm Cannabis nicht mehr strafrechtlich zu verfolgen.
Da die FDP und die Grünen bei den Bundestagswahlen vorn lagen bei den jungen Wähler:innen, präsentierten sie sich nun als „Agenten der Jugend“, das Thema Cannabis-Legalisierung kommt ihnen nun zupass. Sie suchten nach „Gemeinsamkeiten und Brücken über Trennendes“ – genau wie die Medien. Und die fanden das Legalisierungsthema.
Die Reichelt-Affäre, Springer und der „Boy-Club“: Warum man das ganze System feuern müsste – in der taz am wochenende vom 23./24. Oktober. Außerdem: Das immer salziger werdende Wasser im Südwesten Bangladeschs gefährdet die Gesundheit der Frauen, die im Flusswasser arbeiten müssen. Und: Gefühle steuern unser Handeln, sind jedoch keine Programme, die immer gleich ablaufen. Eine emotionale Sachkunde. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Bereits bevor das Sondierungspapier bekannt wurde, hatte die Neue Osnabrücker Zeitung die Debatte neu angefacht: Zuerst zitierte sie den Deutschen Hanfverband und – etwas überraschender – den Bauernverband, die sich beide für eine Legalisierung aussprechen. Zwei Tage später kamen dann die Gegenspieler zu Wort: Die Vorsitzenden der Polizeigewerkschaften Gewerkschaft der Polizei und Deutsche Polizeigewerkschaft warnten vor der Gefahr einer Legalisierung.
Als sich kurz danach der Arzt unseres Vertrauens im Bundestag – Karl Lauterbach (SPD) – plötzlich für eine Legalisierung aussprach, gab es kein Halten mehr. Sämtliche Zeitungen befragten nun alle, die halbwegs betroffen sind: den Weltärztebund, den Lehrerverband, den Bund Deutscher Kriminalbeamter, Politiker:innen, Aktivist:innen. Die Argumente sind altbekannt: Das Gesundheitsministerium unter der CDU dagegen: Droge! Lindner dafür: Eigenverantwortung! FAZ dagegen: Gift! Stern dafür: Steuereinnahmen!
Während der Koalitionsgespräche ist es aber Aufgabe der Medien, die wirklich wichtigen Themen im Blick zu behalten, bei diesen Fragen genug Druck aufzubauen – anstatt sich vom Cannabis-Nebel ablenken zu lassen. Nur als Erinnerung: Wir müssen die Energiewende so gestalten, dass auch in kalten Winternächten genug Ökostrom zur Verfügung steht. Wir haben mit Hartz IV ein System, das Menschen an das Existenzminimum zwingt und auf Dauer zermürbt. Der nicht existierende Nahverkehr auf dem Land zwingt die Menschen dazu, Auto zu fahren. Und es fehlen vielerorts Wohnungen.
Die Cannabis-Legalisierung ist vergleichsweise unwichtig
Im Sondierungspapier liegt der Fokus zwar durchaus auf dem Klimawandel oder der Digitalisierung – Cannabis kommt gar nicht vor. Doch wenn es darum geht, wann genau der Kohleausstieg kommen oder wie hoch das Bürgergeld eigentlich sein soll, wird es kompliziert. Da ist die Legalisierung von Cannabis gemütlicher: Sie ist einfach zu verstehen, niemand muss verzichten. Und sie bringt sogar Einnahmen. Die Regierung könnte sich als modern und progressiv zeigen, ohne wirklich etwas zu verändern.
Die Cannabis-Legalisierung ist im Vergleich zu den großen Problemen schlicht unwichtig: Für medizinische Zwecke ist Cannabis seit 2017 legalisiert, seit Juli wird dafür Cannabis auch in Deutschland angebaut. Es geht nur noch um die Legalisierung von Cannabis als Freizeitdroge.
Klar wäre es schön, wenn es in allen Bereichen Verbesserungen gäbe: effektiv den Klimawandel bekämpfen, ohne soziale Ungleichheiten zu verstärken. Schulen sanieren, Deutschlands Bahnnetz und Internet ausbauen. Die Europäische Union integrieren, Großkonzerne besteuern. Renten retten – und die Cannabis-Legalisierung. Das wird aber nicht so sein. Und es wäre falsch, wenn ausgerechnet der Cannabis-Legalisierung ein allzu großes Gewicht beigemessen würde in den anstehenden Koalitionsrunden.
Die Medien sollten nicht ablenken. Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit, mangelnde Infrastruktur: Die Probleme sind ohnehin viel zu groß, als dass wir sie uns schönkiffen könnten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren