Kritik an Netflix-Serie „Squid Game“: Gemetzel oder Gesellschaftskritik
Die Serie „Squid Game“ zeigt ein zynisches Spiel um Leben und Tod. Über den schmalen Grat zwischen Gewaltporno und Kapitalismuskritik.
In der pastellfarbenen Schlafhalle türmen sich schwindelerregend hohe Stockbetten bis unter die Decke. 456 Menschen finden darin Platz. Sie haben sich als Teilnehmer*innen für ein Spiel mit unglaublich hohem Preisgeld angemeldet.
Nachdem sie von einem Werber eine ominöse Visitenkarte überreicht bekommen haben, wurden sie von einem Van abgeholt, auf der Fahrt betäubt, auf eine Insel vor der Küste Südkoreas verbracht und in durchnummerierte, einheitliche Sportklamotten gekleidet.
Bevor es in die erste von sechs Runden geht, werden ihnen von maskierten Wächtern in roten Overalls die Regeln erklärt. Dann geht es zur Musik von Johann Strauss „An der schönen blauen Donau“ – ganz im Wortsinn – auf den Spielplatz. Vor kindlich anmutender Szenerie müssen sie „Rotes Licht, grünes Licht“, hierzulande bekannt als „Donner, Wetter, Blitz“, spielen.
Es gilt, binnen einer vorgegebenen Zeit auf die andere Seite des Feldes zu gelangen, und dabei von dem übergroßen, einem kleinen Mädchen nachempfundenen, Roboter, ungesehen zu bleiben. Wer sich noch bewegt, wenn sie sich umdreht oder es bei Ablauf der Frist noch nicht über die Ziellinie geschafft hat, wird disqualifiziert.
Es wird viel gestorben
Zweifelsohne hat der neueste Netflix-Hit, die neun Episoden umfassende Serie „Squid Game“ aus Südkorea, eine teuflische Freude daran, die selbst für die Spielenden unerwartete Wendung den Zuschauenden zu offenbaren – und sie effektvoll zu inszenieren. Wie sich herausstellt, ist „Disqualifikation“ als hämischer Euphemismus zu verstehen. Verliert ein*e Teilnehmer*in, scheidet sie nicht einfach aus, sondern wird hingerichtet. Der erste Schuss ist ein Dammbruch, danach ergießen sich mehrere Salven aus allen Himmelsrichtungen.
Wie Fliegen fallen die Menschen in Zeitlupe zu Boden – Blutfontänen vor watteweichen Wolken sind zu sehen, eine zarte Frauenstimme singt Sinatras „Fly me to the Moon“. Einige Kommentator*innen erkennen in dieser Schlüsselszene eine unnötige Ästhetisierung eines banalen Gemetzels. Man kann in der bissigen Kontrastierung aber auch eine zynische Grundhaltung erkennen, die für eine Parabel auf die nicht minder zynische Lebensrealität im Kapitalismus angemessen ist.
Auch in dieser prallen unerhörte Gegensätze aufeinander, existiert eine ungeheuerliche Gleichzeitigkeit. Es mag eine vereinfachte Weltsicht sein, aber wie viele Zwischentöne lässt die Tatsache zu, dass im gleichen Jahr, in dem sich Milliardäre wie Amazon-Gründer Jeff Bezos und Tesla-Chef Elon Musk mit kindischem Eifer einen Wettlauf um das All liefern und für Millionenbeträge regelmäßig Superreichen den dekadenten Traum vom Weltraumtourismus erfüllen wollen, laut Oxfam in jeder Minute durchschnittlich elf Menschen verhungern?
Die zynische Zurschaustellung von sozialer Ungerechtigkeit in „Squid Game“ ist keine Pose. Der südkoreanische Drehbuchautor und Regisseur Hwang Dong-hyuk hatte die Idee zur Serie während der Finanzkrise 2008. Die Wut ist seinem Werk anzumerken. Wahrscheinlich fällt die Kritik am Kapitalismus und der ihm inhärenten Wettbewerbslogik deswegen auch ähnlich formelhaft aus wie die von George Orwells „Farm der Tiere“ seinerzeit am Kommunismus.
Parabel auf das Leistungsprinzip
„Sie werden disqualifiziert, weil Sie sich nicht an die Spielregeln gehalten haben. Wir wollen Ihnen eine Chance geben.“, heißt es an einer Stelle in der Serie. Der Glaube der Veranstalter*innen, dass jede*r in diesem Spiel eine faire Erfolgschance hat, deckt sich mit der neoliberalen Überzeugung, dass jeder für sein Glück selbst verwantwortlich ist. Man muss nur hart genug arbeiten, es nur fest genug wollen, dann kann es jede*r schaffen. Wer scheitert, „disqualifiziert“ wird oder eben in die Armut abrutscht, hat sich schlicht nicht genug angestrengt.
Damit führt die Serie nicht nur pointiert vor Augen, wie sehr Konkurrenzdenken im Zeitgeist als Ordnungsprinzip unseres Handelns verankert ist, sondern auch die Widersprüchlichkeit des Leistungsprinzips. Fair wäre die Chance – im Spiel wie in der Realität – nur, wenn jede*r über die gleichen Startbedingungen verfügen würde.
Doch wie es beim Tauziehen einen Unterschied macht, mit welcher physischen Stärke ein*e Teilnehmer*in antritt oder über welche geistigen Fähigkeiten man verfügt, um seine Kontrahent*innen im Murmelspiel zu überlisten, entscheidet auch in der kapitalistischen Gesellschaft bereits die Geburt über das finanzielle, kognitive und körperliche Rüstzeug, mit dem wir uns in den Wettbewerb begeben.
Darüber zeigt „Squid Game“ unmissverständlich, dass das System gar nicht darauf ausgelegt ist, dass es ein*e jede*r an die Spitze schaffen kann. Ebenso wie das astronomische Preisgeld von 45 Milliarden Won (umgerechnet rund 33 Millionen Euro), das ähnlich einer Karotte für alle gut sichtbar in einem riesigen, von der Decke besagter Schlafhalle baumelnden Sparschwein platziert ist, letztlich nur für die*den eine*n Verbleibenden gedacht ist, ist auch unsere Gesellschaft nicht darauf ausgelegt, dass sich durch Leistung allein alles zum Besseren wendet.
Schulden treiben alle an
Wenn liberale Fürsprechende betonen, Armut ließe sich am besten durch eine bessere Bildung ausmerzen, weil man so in besser bezahlte Jobs gelange, wird beiläufig außer Acht gelassen, dass schlecht bezahlte Arbeit, auf die eine Gesellschaft für ihr Funktionieren dringend angewiesen ist – sei es in der Pflege, in der Reinigung oder an der Kasse – deswegen nicht verschwindet, sondern weiterhin erledigt werden muss.
Das Drama arbeitet sich auch an der Vorstellung ab, die Beteiligung am Turnier respektive dem kapitalistischen Wettstreit erfolge freiwillig. Stimmt die Überzahl der Spieler*innen dafür, dass der Ausscheidungskampf beendet wird, werden alle noch Lebenden zurückgebracht. Dies geschieht nach der ersten Runde tatsächlich. Doch der ökonomische Druck, der auf den allesamt aufgrund ihrer hohen Schuldenlast ausgewählten Teilnehmenden lastet, treibt die Mehrheit von ihnen bald zurück in die Arena.
Der Protagonist Seong Gi-hun (Lee Jung-jae) – ein arbeitsloser Chauffeur, der nach dem Verlust seines Jobs in die Spielsucht abrutschte – ist nicht nur auf das Preisgeld angewiesen, um das Sorgerecht für seine Tochter zu erlangen, sondern auch, um eine wichtige Operation für seine Mutter zu bezahlen. Vergleichbar frei fällt die Entscheidung vieler Menschen aus, jeden Morgen aufs Neue aufzustehen und einer Tätigkeit nachzugehen, die im Grunde nicht zufriedenstellen kann.
Das ist Kapitalismuskritik par excellence. Den Erfolg der Serie – in 90 Ländern landete sie auf Platz eins der Charts, 111 Millionen Haushalte sahen sie – erklärt das gleichsam nicht. Es handelt sich schließlich nach dem spanischen „Der Schacht“ und dem indischen „Der weiße Tiger“ nicht um die erste sehenswerte Produktion im Netflix-Programm, die sich in beißendem Ton mit sozialer Ungerechtigkeit auseinandersetzt.
Revolution wird nicht auf Netflix übertragen
Wahrscheinlich löste das facettenreiche Gesamtpaket die außerordentliche Euphorie um die Serie aus. Wie andere Serienhypes aus den letzten Jahren, etwa um „Breaking Bad“ und „Game of Thrones“, bietet sie verschiedene Zugänge: Die einnehmende Ästhetik, ihr prägnanter Erzählstil, das bestechende Gedankenexperiment, das zur Identifikation und der ständigen Frage, wie man sich selbst verhalten würde, einlädt – und, ja, wahrscheinlich auch die spektakuläre Gewalt im Zentrum – machen sie für unterschiedliche Zuschauende und Sehgewohnheiten so interessant.
Im Idealfall ist „Squid Game“ gerade „wegen“ oder zumindest „mitunter“ aufgrund seiner Abrechnung mit der neoliberalen Logik so erfolgreich – im schlimmsten Falle „trotz“. Dass das Schauen der Serie per se ein kapitalismuskritischer Akt sein könnte, ist hingegen mit der Tatsache, dass sie von einem globalen Riesenkonzern angeboten wird, nicht recht vereinbar.
Um es frei mit Gil Scott-Heron zu sagen: Die Revolution wird nicht auf Netflix übertragen werden. Dagegen spricht bereits, dass selbst besagter Jeff Bezos nur Lob für das Format übrig hat.
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