Transsexualität und Politik: Ihr langer Kampf um Akzeptanz

Im Herbst werden wohl erstmals transsexuelle Abgeordnete in den Bundestag ziehen. Eine von ihnen ist die Grüne Tessa Ganserer aus Nürnberg.

Tessa Ganserer mit Zeitschrift.

Für die Grünen in den Bundestag: Tessa Ganserer Foto: Andreas Gebert/reuters

NÜRNBERG taz | „Wie alt war Ihre Mutter, als sie mit Ihnen schwanger war? Hat sie vorher abgetrieben?“ Tessa Ganserer beugt sich nach vorne und schaut dem Gegenüber tief in die Augen. „Wann haben Sie sich zum ersten Mal selbst befriedigt? Ziehen Sie doch mal Ihren Pullover aus. Wie waren Sie denn in Deutsch? Und in Mathe? Stehen Sie auf Analsex?“ Tessa Ganserer lehnt sich wieder zurück. Das sei nur so ein kleiner Ausschnitt aus dem Standardrepertoire, sagt sie.

Sie meint das Standardrepertoire der Fragen, die Transsexuelle über sich ergehen lassen müssen, wenn sie amtlich in ihrem richtigen Geschlecht anerkannt werden möchten. Wer das in Geburtsurkunde und Ausweis eingetragene Geschlecht ändern lassen will, muss zwei psychologische Gutachten über sich anfertigen lassen – Kostenpunkt: bis zu 3.000 Euro – und einen Transsexuellen-Lebenslauf schreiben. „Und dann entscheidet ein Richter, ob der Staat Sie so akzeptiert, wie Sie sind.“

Das Transsexuellengesetz von 1980 will es so. Bis vor zehn Jahren mussten sich transsexuelle Menschen auch einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen und den Nachweis der eigenen Unfruchtbarkeit erbringen, ehe eine Personenstandsänderung möglich war. Diese Vorgaben hat das Bundesverfassungsgericht jedoch gekippt.

Natürlich möchte auch die Grünen-Politikerin Tessa Ganserer endlich den Namen Tessa auf ihrem Personalausweis lesen; aber sich dafür den psychologischen Gutachten zu unterziehen kommt für sie nicht in Frage. „Das mach’ ich nicht, und ich werd’ mich auch vor keinen Richter stellen – weil das einfach entwürdigend ist.“

Demütigungen im Alltag

Und so sind es diese anderen Erniedrigungen, die schon fast zu Ganserers Alltag gehören: Ob Coronaschnelltest, Impfung oder Einchecken im Hotel – „bei solchen Sachen mach' ich mir Tage vorher Gedanken, wie das wieder wird. Ich kann in dem Land nicht einmal einen Mietwagen mieten, ohne dass ich wildfremden Menschen, die das überhaupt nichts angeht, unter Umständen im Beisein von unbeteiligten Dritten, meine Transsexualität erklären muss. Das ist demütigend.“

Je emotionaler es wird, desto öfter verfällt Ganserer in den Dialekt. Nicht ins Fränkische ihrer langjährigen Wahlheimat Nürnberg, sondern ins Bairische. Geboren wurde sie 1977 in Zwiesel im Bayerischen Wald. Wieso kann es nicht einfach so laufen wie in Dänemark, Belgien, Malta oder Irland, fragt sich Ganserer. „Da geh' ich aufs Standesamt und erkläre: Tschuldigung, da ist ein Fehler passiert. Man hat mich halt bei der Geburt nicht gefragt, aber jetzt hätte ich das bitte gerne korrigiert. Bearbeitungsgebühr: 40 Euro. Stempel drauf, bitte, danke, auf Wiedersehen, alles gut. Wo ist das Problem?“

Das Transsexuellengesetz ist einer der Gründe, weshalb Ganserer im Alltag immer wieder Demütigungen über sich ergehen lassen muss. Und es ist einer der Gründe, weshalb die Nürnbergerin jetzt in den Bundestag will – und so wie es aussieht, ab Herbst dort auch eine neue Wirkungsstätte haben wird. Mit Ganserer und Nyke Slawik aus Nordrhein-Westfalen werden die Grünen aller Voraussicht nach erstmals zwei offen transgeschlechtliche Menschen in den nächsten Bundestag schicken, mit Victoria Broßart aus Oberbayern könnte vielleicht sogar noch eine dritte dazukommen.

Bisher ist Ganserer noch Abgeordnete im bayerischen Landtag. 2013 wurde die gelernte Försterin, die 1998 bei den Grünen eingetreten war, zum ersten Mal ins Parlament gewählt, 2018 wiedergewählt. Erst nach der letzten Landtagswahl outete sie sich öffentlich als transsexuell. „Der Schritt war damals nicht mutig“, sagt sie, „sondern ich war am Ende meiner Kräfte. Ich konnte einfach nicht mehr anders.“ Ganserer sitzt auf der Terrasse des Cafés im Nürnberger Literaturhaus. Ein regelmäßiger Gast, man kennt sie, begrüßt sie herzlich. Sie bestellt ein Wiener Schnitzel mit Spargel.

„Ich habe mich viele Jahre für das geschämt, was ich bin“

„Das letzte Jahr vor der Landtagswahl war das schlimmste meines Lebens“, sagt sie. Sie erzählt von einem jahrelangen Prozess eines inneren Coming-outs, einem Erweckungserlebnis, als sie irgendwann plötzlich einem Impuls gefolgt ist, sich Frauenkleider angezogen und sich geschminkt habe, aber auch von der eigenen erschrockenen Reaktion, von der Schwierigkeit, sich selbst zu akzeptieren. „Ich habe mich viele, viele Jahre so sehr für das geschämt, was ich bin.“

Lange Zeit kann sich Ganserer nicht einmal ihrer Partnerin anvertrauen. Sie heiraten, bekommen zwei Kinder. Irgendwann öffnet sich Ganserer ihr gegenüber. Ihre Frau akzeptiert, dass der Mensch, den sie geheiratet hat, nicht der Mann ist, für den sie ihn hielt. Die beiden Frauen bleiben zusammen, doch für die Umwelt bleibt Ganserer ein Mann. Zuletzt wagt sie sich das eine oder andere Mal im Frauenoutfit nach draußen, geht heimlich in Nürnberg shoppen. Lange blonde Haare statt Glatze, glatte Wangen statt Vollbart.

Ganserer fragt den Kellner nach einem Aschenbecher, dreht sich eine Zigarette.

Im November 2018 dann also – die Landtagswahl ist gerade mal drei Wochen her – das öffentliche Coming-out. Ganserer hat Angst. Sie weiß, dass jetzt etwas Großes auf sie zukommt. Sie weiß noch nicht, was. Der erste Schritt in die Öffentlichkeit ist zunächst noch ein zögerlicher. Ein Zugeständnis vielleicht an den vermuteten Erwartungsdruck der Gesellschaft, dem sie sich ohnehin schon so lange gebeugt hat. Tessa Ganserer kündigt an, ihrer Abgeordnetentätigkeit weiterhin als Mann nachgehen, in zwei Geschlechtern leben zu wollen.

Die Süddeutsche Zeitung, die sie für den Schritt in die Öffentlichkeit gewählt hat, schreibt damals noch: „Er ist gerne Mann, aber eben auch gerne Frau.“ Ein paar Wochen später, nach Weihnachten, räumt sie damit auf. Nein, sie ist Tessa. Nur Tessa.

„Andere haben schwule Söhne, und du bist halt a Frau“

Die Reaktionen sind positiv. Nicht nur bei den Grünen. „Auch andere Kollegen haben mir gesagt, wenn mir aus ihrer Fraktion irgendjemand blöd käme, solle ich mich bei ihnen melden, sie würden dann sofort intervenieren. Das hat mir sehr gut getan.“ Nur einzelne Abgeordnete der AfD fallen aus dem Rahmen. „Auf den Fluren grüßen die mich anständig, aber dann verbreiten sie im Netz Häme und Spott.“

Umso schöner etwa die entspannte Reaktion des eigenen Vaters: „Er meinte: Ja, das kommt vor. Andere haben schwule Söhne, und du bist halt a Frau.“ Das Coming-out war ein Befreiungsschlag für Tessa Ganserer, aber doch einer mit heftigen Begleiterscheinungen. Es sind vor allem die sogenannten Sozialen Medien, in denen ihr „wirklich enthemmter Hass“ entgegenschlägt, aber auch auf der Straße erfährt sie immer wieder Anfeindungen und Ausgrenzung. Leute, die mit dem Finger auf sie zeigen, über sie lachen, ihr „Scheiß-Transe“ hinterherrufen. Was sie besonders getroffen hat: Einmal hat sich eine Frau im Vorbeigehen bekreuzigt.

Daneben gibt es noch diese vermeintlichen Kleinigkeiten, die oft noch nicht einmal Absicht sind und doch verletzen: wenn jemand beispielsweise sagt, sie sei als Mann geboren oder dass sie sich entschieden habe, eine Frau zu werden. oder auch schlicht die Nennung ihres früheren Vornamens. „Ich habe so sehr unter dieser falschen Rolle gelitten, dass es mich aufwühlt ohne Ende, wenn ich ständig meinen Deadname hören muss.“

Politik und Biografie greifen stark ineinander

Und natürlich ist man dann ganz schnell bei der Frage: Wann ist eine Frau eine Frau? „Das Wissen, welches Geschlecht Sie oder ich haben, das finden Sie nicht in Ihrer Hose oder unter meinem Rock“, sagt Tessa Ganserer. Die Wissenschaft habe längst erkannt, dass sich Geschlechtlichkeit nicht allein an Körpermerkmalen festmachen lasse.

Natürlich verunsichere das viele Menschen, erschüttere ihr Weltbild. „Aber ein Penis ist nun mal nicht per se ein männliches Genital. Es gibt halt auch Frauen, die einen Penis haben. Und es gibt Männer, die können ein Kind gebären. Und das ist unser gutes Recht. Ein Recht, das uns die Politik jahrzehntelang verwehrt hat, das uns aber das höchste Gericht in diesem Land längst zugesprochen hat.“

Mit ihrer Erscheinung hat sich auch der politische Schwerpunkt Ganserers verändert. Sie ist inzwischen queerpolitische Sprecherin ihrer Fraktion, Politik und Biografie greifen stark ineinander – was die Sache nicht immer leichter macht. „Das ist emotionale Schwerstarbeit. Es gibt Tage, da hab’ ich einfach genug. Und dann möchte ich mich nicht mehr mit dem Thema beschäftigen.“

Schließlich hat sie privat schon genug mit ihrer Transition, also dem Übergang zum Leben als Frau, zu tun. Die Politikerin hadert mit ihrem Aussehen, ihrer Stimme. „Meinen transgeschlechtlichen Hintergrund schaut man mir an der Nasenspitze an. Ich mach’ mir da nichts vor“, sagt sie. „Aber das macht’s halt auch wahnsinnig schwer, weil die gesellschaftliche Akzeptanz so dermaßen vom Aussehen abhängig ist.“

Ein trans Mann mit einem Rauschebart oder das 23-jährige Model, das bei Heidi Klum abräumt, die hätten es da schon einfacher. „Dann fällt es der Gesellschaft leicht, diesen Menschen in seiner Geschlechtlichkeit anzunehmen. Wenn aber jemand wie ich 40 Jahre lang einen krankhaft hohen Testosteronwert hatte, so dass auch eine gegengeschlechtliche Hormontherapie den angerichteten Schaden nicht mehr beheben kann, ist man ständig irgendwelchen irritierten, gaffenden Blicken ausgesetzt.“

„Wir werden um Platz eins streiten“

Ganserer trägt ein dunkelgemustertes Sommerkleid, das reichlich Bein zeigt, darüber eine dünne Lederjacke, und Sneakers von Converse. Die Fingernägel sind hellblau lackiert. Und immer wieder fragt sie sich: Für wen mach’ ich das? Der Haarersatz, die Bartepilation, eine eventuelle Stimmband-Operation oder mögliche „gesichtsfeminisierende Maßnahmen“?

Ganserer ist bei vielen Entscheidungen noch immer hin- und hergerissen, hat wenig Lust, sich auf den OP-Tisch zu legen. „Ich wäge da tausendmal ab. Brauch’ ich das für mich? Oder nur, um es dieser Gesellschaft leichter zu machen?“ Sehr private Fragen. Und doch im Falle von Tessa Ganserer immer auch gleich die große Politik. Der „transgeschlechtliche Hintergrund“ ist längst in den Vordergrund getreten, Ganserer ist zu einer Galionsfigur des Kampfs der transsexuellen Menschen in Deutschland geworden. Eines Kampfs um gleiche Rechte, aber auch um gesellschaftliche Akzeptanz.

Da aber über Themen wie das Transsexuellengesetz nicht der Landtag, sondern der Bundestag entscheidet, steht relativ bald nach dem Coming-out die Frage im Raum, ob in Berlin nicht der geeignetere Arbeitsplatz für Ganserer wäre. Erst sind es andere, die sie an Ganserer herantragen, irgendwann findet sie selbst Gefallen an der Idee. 2020, im ersten Lockdown, schließlich fällt die Entscheidung.

Jetzt will Ganserer die erste Grüne seit Petra Kelly werden, die aus Nürnberg in den Bundestag zieht. Und dass sie es wird, daran besteht kaum ein Zweifel, die bayerischen Grünen haben sie auf Platz 13 aufgestellt. Aber das genügt Ganserer nicht, sie will dem CSU-Abgeordneten Sebastian Brehm das Direktmandat abluchsen: „Wir werden um Platz eins streiten, nicht nur um Zweitstimmen kämpfen.“

Dass auch dieses Unterfangen nicht aussichtslos ist, verdankt sie nicht zuletzt Armin Laschet. Hätte der in der K-Frage klein beigegeben, hätte sie in ihrem Wahlkreis vermutlich einen ungleich stärkeren Gegner gehabt: CSU-Chef Markus Söder.

So hofft sie nun, dass genügend Nürnberger ihr Kreuz bei ihrem Namen machen. Ob der allerdings in korrekter Form auf dem Stimmzettel stehen darf, darüber muss die Kandidatin gerade noch mit dem Landeswahlleiter verhandeln.

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