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Neues Buch von Politologe Max CzollekIm Ring mit der Leitkultur

In „Gegenwartsbewältigung“ rechnet Max Czollek mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung ab. Er demontiert das hiesige Nationalverständnis.

Schluss mit dem Integrationstheater, in der Realität ist Deutschland schon längst divers Foto: Dominik Butzmann/laif

Halle, Hanau, NSU und Nazis im KSK. Max Czollek hat genug von politischen Kampfbegriffen wie „Heimat“ oder „Leitkultur“. Deshalb begnügt sich der Autor, Publizist und Politologe nicht mehr damit, die Debatte darüber, wer zu Deutschland gehört, zu kritisieren. Er möchte die Idee einer Gesellschaft, in die man hineingeboren werden muss, um sie mitprägen zu dürfen, am Boden liegen sehen – vom Ringrichter unter tobenden Jubelschreien angezählt.

Und weil das bisher noch nicht geschehen ist, lädt Czollek in seinem neuen Essay „Gegenwartsbewältigung“ zum Ringkampf gegen das, was er „deutsche Dominanzgesellschaft“ nennt. „Die Leitkultur hängt in den Seilen, der Trainer massiert ihr die Schultern und legt ihr ein frisches weißes Handtuch um den Nacken.“

Wer nach Sätzen wie diesem meint, „Gegenwartsbewältigung“ gehe mehr um Klamauk als um Inhalt, liegt falsch. Spätestens seit Veröffentlichung seiner Streitschrift „Desinte­griert euch!“ sollte klar sein, dass Czollek beides kann: Lärm machen und Debatten mit Inhalt füllen. In seinem ersten Buch deckte Czollek die eindimen­sio­nale Rolle auf, die Jüd:innen und Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen „Integrationstheater“ zugeschrieben wird.

In „Gegenwartsbewältigung“ verhandelt der 33-Jährige Strategien, mit der sich gesellschaftliche Teilhabe und Solidarität für Gruppen erkämpfen lässt, die abseits der deutschen Mehrheitsgesellschaft leben. Und das nicht mehr im „Integrations­thea­ter, sondern im Ring. Bei diesem Match ist er nicht allein.

Adorno im „schwarzen Mankini“

Denn in „Gegenwartsbewältigung“ holt sich Czollek die Unterstützung unterschiedlicher Auto­r:innen und Denker:innen wie Naika Foroutan, Aladin El-Mafaalani, Hannah Arendt oder Theodor W. Adorno, der „knapp bekleidet“ im „schwarzen Mankini“ in den Ring steigt und auf dessen Rücken die ersten Takte von Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ prangen.

Der Ausgangspunkt für eine Debatte darüber, warum manche Menschen in dieser Gesellschaft Solidarität und Teilhabe erfahren und andere nicht, beginnt im Jahr 2020, wie könnte es anders sein, mit dem Corona-Lockdown. Corona, das sei in Merkels geschichtsträchtigen Worten die größte Herausforderung „seit der deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg“. Czollek macht dieser Satz stutzig, und er nutzt ihn als Ausgangspunkt für sein knapp 200-seitiges Essay.

Das Buch

Max Czollek: „Gegenwartsbewältigung“. Carl Hanser Verlag, Berlin 2020, 208 Seiten, 20 Euro

Denn eigentlich erinnern ihn die Worte, mit der die Bundeskanzlerin an die deutsche Bevölkerung herantrat, nicht an die Zeit nach dem Zweiten, sondern an die Generalmobil­machung vor dem Ersten Weltkrieg. Damals schwor Kaiser Wilhelm II. ein vielfach gespaltenes Deutschland mit der Formel „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ darauf ein, an einem Strang zu ziehen.

Und damals wie heute zogen alle mit, auch jene Gruppen, denen sonst keine Solidarität zuteil wurde, im Gegenteil. Damals waren es Sozialdemokrat:innen, Jüd:innen, die davor wie danach diskriminiert, verfolgt und ausgelöscht wurden. Heute sind es (Post-)Mi­gran­t:in­nen und einmal mehr Jüd:innen, auf die nur wenige Wochen vor dem Lockdown in Hanau und in Halle geschossen wurde.

Produktive Bewältigung der eigenen Geschichte

Den Schlüssel, um zu verstehen, wieso „wir in einer Gesellschaft leben, die manche verrecken lässt und manche nicht“, sucht Czollek in der Geschichte. Genauer: dem, was wir zur deutschen Geschichte erheben. Dabei ist „Gegenwartsbewältigung“ durchaus als Antwort auf das Konzept der Vergangenheitsbewältigung zu sehen, also der produktiven Bewältigung der eigenen Geschichte.

Eindrucksvoll deckt Czollek auf, dass Deutschland es mit dieser Aufarbeitung doch nicht so genau genommen hat, wie viele glauben möchten. Dass die Schicksalsjahre 1945 und 1989/90 keine Brüche in der deutschen Geschichte markieren, sondern vielmehr die Fortsetzung eines knapp 200 Jahre alten, nationalistischen Gesellschafts- und Kulturverständnis darstellen, nur eben unter anderen Vorzeichen.

Dafür findet Czollek Argumente zuhauf. Etwa wenn er den Geschichtsrevisionismus anklagt, mit dem man hierzulande Stadtschlösser wiederaufbaut, um darin „kleptomanische Humanisten“ wie Alexander von Humboldt zu verehren oder mit dem sich ein Alexander Gauland wünscht, „von großen Gestalten der Vergangenheit“ wie Otto von Bismarck lernen zu dürfen, von denen man sich allenfalls „Strategien zum Verhökern eines ganzen Kontinents“ abschauen könne.

Und nicht zuletzt, wenn er die Kontinuität aufdeckt, mit welcher der Antisemit Richard Wagner und zeitgenössische Kul­tur­theo­re­ti­ke­r:innen wie Andreas Reckwitz oder Thea Dorn gleichermaßen argumentieren, „erst nationale Verwurzelung ermögliche gute Kunst“.

Von Wagner über Grass bis zu Samy Deluxe

Dass all das „gequirlter Quatsch“ ist, zeigt ein kurzer Rea­li­täts­check, den „Gegenwartsbewältigung“ dankenswerterweise mitliefert. Deutsche Kultur, das seien eben schon lange nicht mehr nur Männer wie der Antisemit Richard Wagner, der SS-Mann Günter Grass oder der Wehrmachtssoldat Heinrich Böll, sondern ebenso die afrodeutsche Dichterin May Ayim, der jüdische Lyriker Paul Celan oder der deutsch-sudanesische Rapper Samy Deluxe.

Wie aber geht man mit einer Gesellschaft um, in der Selbstverständnis und Realität schon lange nicht mehr zusammenpassen? Auch dafür hält Czollek eine Antwort parat: Gesellschaftlicher Zusammenhalt durch radikale Vielfalt. Das bedeutet: „Die Realität der postmigrantischen Gesellschaft anerkennen“, in dem man ihr Potenzial nutzt, „historische und kulturelle Bezugspunkte jenseits der deutschen Tradition“ herzustellen.

Konkret heißt das, das Narrativ um die deutsche Nachkriegsgesellschaft um eben die Perspektiven zu erweitern, die zwar schon immer da waren, aber nie erzählt wurden. Denn Nachkriegsdeutschland ist eben nicht nur Wiederaufbau, Wiedervereinigung und Willkommenskultur.

Sondern eben auch anhaltender Naziterror, die Treuhandanstalt sowie die Integrationsleistung von knapp einem Viertel unserer Gesellschaft. „Die Leitkultur klopft vor Schmerz auf den Boden, die Kommentatoren johlen in ihrem Kabuff.“

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19 Kommentare

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  • "Deutsche Kultur, das seien eben schon lange nicht mehr nur Männer wie der Antisemit Richard Wagner, der SS-Mann Günter Grass oder der Wehrmachtssoldat Heinrich Böll, sondern ebenso die afrodeutsche Dichterin May Ayim, der jüdische Lyriker Paul Celan oder der deutsch-sudanesische Rapper Samy Deluxe."



    Warum ist May Amin eine Afrodeutsche aber Samy Deluxe ein Deutschsudanese? Die sind beide komplett hier in D aufgewachsen, da kammer sich auch den Bezug auf den jeweiligen Erzeuger schlicht und einfach klemmen oder wenns der Dramatik dient, beide als "afrodeutsch" bzw. "deutsch-~" bezeichnen. Der Rumäne Paul Celan gehört zeitlich eher zu Böll und Grass, Letztgenannte würden sich wohl beschweren, wegen ihrer WM/SS-Dienste (beide einberufen; Wehrdienstverweigerung war seinerzeit ned nur mit Knast bestraft) in einem gedanklichen Zusammenhang mit Richard Wagner gestellt zu werden, zu dem zeittechnisch eher Felix Mendelssohn-Bartholdy oder Heinrich Heine als Antipoden gepaßt hätten.



    Und wemmer die (Pop-)Kulturbeiträge nach dem 2. WK in den Ring schmeißt, würden z.B. Udo Jürgens und Peter Handke (Österreicher), Helene Fischer (Spätaussiedlerin) oder Feridun Zaimoglu ("Deutschtürke") da auch noch mit reingehören.



    Und wemmer bei zeitgenössischer weltweiter Relevanz ist, kommt mensch z.B. an Rammstein (alles Biodeutsche, sogar Ossis) ned vorbei, die ja, ohne Faschos zu sein, sowas von typisch deutsch sind...

  • Wenn die strukturimmanente Diskriminierung z.B. nach Hautfarbe vor allem durch die Kontinuität der deutschen faschistischen Vergangenheit erklärt werden kann, warum gibt es exakt dieselben Probleme in Dänemark, GB, Frankreich, den Niederlanden, Indien, .. ?

    • @Ignaz Wrobel:

      Das ist eine gute Frage. Aber sie wird vermutlich zumindest teilweise dadurch geklärt, statt der spezifischen Eigenheiten des deutschen Faschismus die grausame britische, niederländische, etc... Kolonialgeschichte zu betrachten.



      Wie auch bei Czollek dargelegt: Der Faschismus nicht als Geschichtsbruch, sondern als Fortsetzung betrachtet.

  • Irgendwie finde ich es ein wenig traurig, dass sich ausschließlich „die Rechten“ über eine „Leitkultur“ Gedanken zu machen scheinen. Deren Ideen gefallen mir nämlich nicht. Sie sind total unkreativ und haben nicht einmal gut funktioniert, als sie vor (einigen) hundert Jahren noch funkelnagelneu waren.

    Wären „die Linken nicht so fixiert auf den Kampf gegen die Gespenster, die im Auftrag der (Erz-)Konservativen umgehen in Europa und anderswo, hätten sie womöglich Zeit und Muße, sich eigene Konzepte zu überlegen. Aber schon klar: Wer unter der Knute reaktionärer Lehrer und Erzieher aufgewachsen ist und seinen Platz im System gefunden hat, der verfügt nicht mehr unbedingt über eigene Ideen. Schon gar nicht über neue, attraktive. Der hat sich vielleicht irgendwann einfach abgefunden mit derm Gedanken, lebenslang die Rolle des überwiegend passiven, quartalsaufmüpfig-destruktiven Teenagers auszufüllen (oder gleich wie seine Vormünder zu werden).

    Schade eigentlich. Denn im Grunde steht doch nirgendwo in Stein gemeißelt, dass Kultur bleiben muss, was sie mal war, wenn sich rundum alles ständig verändert. Und die Idee universeller Menschenrechte ist auch nicht erst seit gestern in der Welt. Ließe sich daraus nicht was machen? Kultur, schließlich, ist zwar systemrelevant, aber nicht gottgegeben. Und LEITKultur schreibt man auch nicht unbedingt nicht mit zwei D.

  • Naja, für jemanden, der sich als Hammer betrachtet, sieht alles andere eben aus wie ein Nagel.

    • @Thomas Schöffel:

      Das wird dann wohl auch auf Kommentare zu beziehen sein.

      • @Volker Maerz:

        Klar - Jacke wie Hose doch.

        • @Lowandorder:

          Nullprollwoll.

          • @Thomas Schöffel:

            Ach was! Westfälisch Sibirien? Nö nich.

            “Es wurden keine mit deiner Suchanfrage - Nullprollwoll - übereinstimmenden Dokumente gefunden.

            Vorschläge:

            Achte darauf, dass alle Wörter richtig geschrieben sind.



            Probiere es mit anderen Suchbegriffen.



            Probiere es mit allgemeineren Suchbegriffen.“ echtn HammerWollnich

            • @Lowandorder:

              Da mähste nix. Kerr. Jau. Ab dafür & Danke. Na - Si'cher dat. Nomahl. Gellewelle. Dat blifft ook so.



              Liggers. Newahr. No. Dess paschd schonn. Njorp. Wollnichwoll. Gern&Dannichfür.



              Always at your service. Normal. Kerr.



              .... ist auch schlecht auffindbar, gellewelle?

  • Der Trick ist aber, die Leitkultur nicht zu eliminieren, sondern zu TRANSFORMIEREN!!!!

    Der abrupte Elliminationsversuch ist exklusion und führt hptsl zu erbittertem Widerstand und Spaltung und zu mehr oberflächlichem desORIENTIERTEM halbherzigem Liberalismus!

    Die Leitkultur muss neu geschaffen werden und zwar zu einer aufgeklärten kosmopolitischen Kultur!

    Damit die Leute endlich mal kapieren, warum wir überhaupt der FDGO folgen! Warum es so notwendig und gewinnbringend ist, umfangreicher, relativistischer und progressiver zu denken!



    Was fast keiner kann, weil fast alle keine Ahnung von Philosophie und Wissenschaft haben!

    Wir brauchen einen progressiven Konservativismus (den die grünen momentan am besten verkörpern, was nur zwanghaft logisch ist weil sie die jüngste stärkste kraft sind), der den alten unfreien unkreativen religiös und neoliberal durchzogenen transfomiert, damit der endlich die Leitkultur aus seinen Fängen frei gibt und freies und konseuqent soziales denken zulässt!

    Etwas, worin die Aufklärungsbewegung schon lange versagt!



    Was allein der Name "die linke" permanent unter beweis stellt, die damit nur weiter die Spaltung der Gesellschaft und geister füttert, anstatt die Spaltung endlich überwinden zu wollen!

    • @Christian Will:

      WOW - Warum allein - fällt mir dieses Lied nur ein? Ok - Will mal nicht so sein

      m.youtube.com/watc...lB-tImQgNo&index=1

      kurz - Hoffe - progressiv konservativ genug. Newahr.



      Normal Schonn - 🥳 -

      unterm—— kleine eine eine Frage -



      Was von Ihrem Sermon - glaubens denn selber schon? - 🤣 -

  • Es ist vielsagend, dass einen Begriff, den ein aus Syrien stammender Politologe - Bassam Tibi - als Man of Colour eingeführt hat, sich ein biodeutscher Politologer als Feindbild auserkoren hat.

    • @rero:

      Was sagt das denn viel?



      Leitkultur gibt es schon: das Grundgesetz.

      Der Begriff wird aber vor allem von Konservativen benutzt, um Fremdes oder von ihnen Unerwünschtes auszuschließen. Und danach riecht der Begriff leider sehr stark...

      • @Vodka Satana:

        Das Grundgesetz ist keine Leitkultur. Es lebt von Voraussetzungen, die es nicht selbst generieren kann.

        Der Begriff wird vor allem von Konservativen benutzt, weil Tibi ihn als Gegenentwurf zum "Multiculti-Anything-goes" (Zitat Tibi) vorgestellt hat.

        Letzteres war aber gerade die Mainstream-Position der linken Parteien.

    • @rero:

      Tibi hat eine deutsche Leitkultur aber immer abgelehnt und stattdessen von einer europäischen Leitkultur gesprochen. Also gemeint, dass alle (weiße und nicht-weiße) vom Status-Quo gemeinsam zu dieser Leitkultur gehen. Das ist aber nicht was heute als Leitkultur verkauft wird und auch nicht das wogegen Czollek schreibt.

      • @LesMankov:

        Tibi kritisiert "Multiculti-Anything-goes" wegen seiner "Wertebeliebigkeit" und seinem "Kulturrelativismus".

        Czollek formuliert "Desintegriert Euch!" und "radikale Vielfalt".

        Tibi bezeichnet seine "Leitkultur" als "Integrationskonzept".

        Czollek kritisiert das Integrationsparadigma.

        Mir drängt sich da der Eindruck auf, Czollek schreibt implizit sehr wohl gegen Tibi an.

  • Öh. Ja. Etwas ratlos blätter ich zurück:

    “ Desintegriert euch!“ ist eine gut recherchierte und stringent argumentierende, manchmal sogar lustige Streitschrift, die zur rechten Zeit kommt – auch wenn Czollek nicht an jeder Stelle nachvollziehbar argumentiert und es beim polemischen Überspitzen von gegnerischen Positionen mit den Zitatbezügen manchmal nicht so genau nimmt.“ Ach was.



    &



    Wenn das Ulrich Gutmair aufs Papier hustet. Newahr.



    Sorry. Aber dann überleg ich denn doch.



    Ob ich’s nicht lieber mal selber lese. Gellewelle.



    Normal.

    unterm——- Ulrich Gutmair



    taz.de/Buch-ueber-...tschland/!5525542/