Flüchtlinge an der griechischen Grenze: Kind ertrinkt, Polizisten schießen

Der „Schutz“ der EU-Grenze fordert ein Leben. Maskierte „Bürgerwehren“ in Griechenland greifen Flüchtlinge, NGOs und Journalisten an.

Flüchtlinge verlassen nach ihrer Ankunft am Montag in Skala Sikaminas auf Lesbos ein Boot Foto: picture alliance/Marios Lolos/XinHua/dpa

BERLIN taz | An der türkisch-griechischen Landgrenze haben am Montag erneut tausende Menschen versucht, in die EU zu gelangen. Teils bewegten sich die Menschen in größeren Gruppen auf die Grenzlinie zu und schwenkten weiße Fahnen. Berichten zufolge waren weniger Menschen vor Ort als am Wochenende. Die griechische Polizei setzte Tränengas ein, um sie zurückzudrängen. Bauern parkten Traktoren in langen Reihen parallel zur Grenze, um Flüchtlinge abzuwehren. Nach Angaben der griechischen Regierung gelang es lediglich einigen Dutzend Menschen, durch die Grenzzäune zu kommen oder durch den Grenzfluss Evros zu waten.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sagte am Montag, er werde die Grenzen weiter offen halten. Es sei nun an der EU, ihren „Teil der Last“ zu tragen. „Hunderttausende“ Flüchtlinge hätten sich seit der Grenzöffnung auf den Weg Richtung Europa gemacht, „bald werden es Millionen sein“, so Erdoğan. Diese Zahlen scheinen stark übertrieben zu sein.

Verschiedene Medien, darunter die BBC, berichteten, dass am Montag der aus Aleppo stammende 24-jährige Ahmed Abu Emad von griechischen Grenzpolizisten in den Hals geschossen und getötet wurde. Im Netz kursieren Fotos und Videos, die seine Leiche zeigen sollen. Eine offizielle Bestätigung gibt es für den Vorfall aber nicht. Die griechische Regierung sprach von „türkischer Propaganda“.

Offiziell bestätigt hingegen ist der Tod eines Kindes in der Ägäis. Es starb, als ein Boot mit 48 Menschen auf dem Weg von der türkischen Küste zur griechischen Insel Lesbos kenterte.

Mindestens ein Toter

Zuvor war türkischen Medien ein am Montag aufgenommenes Video zugespielt worden, auf dem zu sehen ist, dass die griechische Küstenwache ein Flüchtlingsboot erst bedrängt und dann in die unmittelbare Nähe des Bootes ins Wasser schießt.

Gleichzeitig berichtete das griechische Staatsfernsehen, dass Einheiten der griechischen Armee am Montag auf den Inseln im Osten der Ägäis und am Evros Schießübungen durchführten. Diese sollen dem Bericht zufolge der Abschreckung dienen.

Auch auf den Inseln war die Lage am Montag höchst angespannt. Flüchtlinge im Lager Moria auf Lesbos protestierten mit Bannern mit Aufschriften wie „Wir sind keine Häftlinge“. Die Polizei beschoss sie mit Tränengas.

Ärzte und andere Helfer von NGOs hatten sich Berichten zufolge wegen Angriffen durch rechte Bürgerwehren am Wochenende zurückgezogen. Die Bürgerwehren blockierten am Montag weiter die Zufahrtsstraße zum Lager, damit keine neuen MigrantInnen dorthin gebracht werden können.

Journalisten und NGOs atackiert

Deutsche Journalisten berichteten, am Montag auf Lesbos von Maskierten mit Stöckern und Steinen beworfen worden zu sein.

Auch das Berliner NGO-Schiff „Mare Liberum“, das in der Ägäis die Menschenrechtssituation für Geflüchtete beobachtet, wurde nach eigenen Angaben von Rechtsextremen attackiert: „Unsere Besatzung wurde von einem Mob von Faschisten angegriffen, während die #MARELIBERUM in Skala Loutron, #Lesvos, angedockt war. Sie schrien, bedrohten uns und schütteten Benzin auf unser Deck! Unsere Besatzung sah sich gezwungen, das Schiff zu verlassen, und liegt nun vor der Küste vor Anker. Wir bleiben und überwachen weiter!“

Am Sonntag hatte die griechische Regierung angekündigt, bis auf weiteres keine Asylanträge mehr anzunehmen. Am Montag hieß es, die Maßnahmen werde beendet, sobald „Normalität und Ordnung“ zurückkehren. Bis dahin werde jeder, der illegal ins Land komme, verhaftet und in Abschiebelagern interniert.

Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR hatte am Montag erklärt, dass zwar jedes Land das Recht habe, seine Grenzen zu sichern. Doch weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch das EU-Flüchtlingsrecht „bieten eine rechtliche Grundlage für die Aussetzung der Aufnahme von Asylanträgen“, hieß es in einer Erklärung.

Der deutsche Völkerrechtler Daniel Thym sagte, „kein Land ist verpflichtet, die Grenzen generell zu öffnen“. Die griechische Regierung handele „nicht per se rechtswidrig, wenn sie die Einreise verhindert“, so Thym. Anders sei die Lage, „sobald jemand faktisch eingereist ist“.

Frontex schickt Grenzschützer

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist unterdessen offiziell von Griechenland um Hilfe gebeten worden. Frontex-Direktor Fabrice Leggeri sagte am Montag in Warschau, er habe eine „rasche Intervention auf den Weg gebracht“. Für solche Fälle habe Frontex einen Reservepool von bis zu 1.500 Grenzschützern, die von den Mitgliedstaaten gestellt werden. Sie sollen binnen fünf Tagen vor Ort sein. Einsatzmaterial wie Fahrzeuge, Schiffe sowie Überwachungstechnik soll binnen zehn Tagen vor Ort sein.

Die Frontex-Beamten würden dann grundsätzlich unter dem Kommando Griechenlands stehen und „unter den Anweisungen und in Anwesenheit von Grenzschutzbeamten des um Hilfe ersuchenden Mitgliedstaats“ eingesetzt. Ein Koordinierungsbeamter von Frontex überwache die „korrekte Umsetzung des Einsatzplans“, der auch die „Bedingungen für den Einsatz von Waffengewalt regelt“, so Frontex. Das Mandat erstreckt sich auf die Landgrenze zur Türkei und die griechischen Inseln.

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will am Dienstag als „Zeichen der Solidarität“ mit dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis an die Grenze zur Türkei reisen. Die „Herausforderung“, der Griechenland derzeit gegenüberstehe, sei eine europäische, sagte von der Leyen.

Wegen der Lage an der griechischen Grenze zur Türkei kommen die EU-Innenminister am Mittwoch zu einem Sondertreffen in Brüssel zusammen. Das Treffen sei eine Möglichkeit, „um Unterstützungsmaßnahmen für Griechenland zu beschließen“, sagte der für Migration zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas.

Wohlfahrtsverbände protestieren

Deutsche Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen protestieren gegen das gewaltsame Vorgehen griechischer Behörden gegen Flüchtlinge. „Wir fordern Griechenland und die EU auf, den Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern gegenüber Menschen, die Schutz suchen, sofort zu beenden“, verlangte der Präsident der evangelischen Hilfsorganisation Diakonie, Ulrich Lilie, am Montag in Berlin.

Ähnlich äußerte sich der Paritätische Gesamtverband. “Eine quasimilitärische Sicherung der EU-Außengrenzen gegenüber Flüchtlingen verträgt sich nicht mit unseren europäischen Werten“, hob Lilie weiter hervor. Insbesondere das Abhalten von Militärmanövern mit scharfer Munition in der Ägäis als Drohkulisse sei „angesichts teilweise traumatisierter Personen unverantwortlich“. 13.000 schutzsuchende Menschen seien auch „kein Grund, einen Notstand auszurufen und Asylanträge auszusetzen“.

Grüne schreiben Brief

Die Berliner Grünen haben einen Brief an Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) geschrieben. Darin bitten sie ihn, dass Berlin Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern aufnehmen darf. „Grundlage dafür ist Paragraf 23 des Aufenthaltsgesetzes“, sagte die grüne Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus Silke Gebel am Montag. Der Paragraf ermöglicht, eine Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen zu erteilen.

Die Grünen setzen sich dafür ein, dies für unbegleitete Kinder aus dem Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos zu nutzen, das immer wieder wegen unzumutbarer Zustände im Blick auf Hygiene und Gesundheitsversorgung in der Kritik steht. Allerdings müsse das Innenministerium dem Anliegen zustimmen, erklärte Gebel. „Wir bitten Sie inständig, lassen Sie uns als Bundesland zumindest diesen kleinen Beitrag für Humanität und Menschenwürde leisten“, heißt es weiter.

Die innenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion Ute Vogt fordert eine Umverteilung Geflüchteter aus Griechenland auf die übrigen EU-Staaten. „Aktuell ist das Wichtigste, sehr schnell dafür Sorge zu tragen, dass UNHCR vor Ort die Versorgung der Geflüchteten übernimmt“, sagte Vogt gegenüber dpa. Dem müssten insbesondere die Türkei, Bulgarien und Griechenland zustimmen.

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