Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger: Leben unter dem Existenzminimum

Darf man die Ärmsten sanktionieren und den Regelsatz für das Sozialgeld kürzen? Darüber entscheidet am Dienstag das Bundesverfassungsgericht.

Teller mit Käsebrot und Gurke

Frühstückstafel in einer Berliner Grundschule Foto: Ingo Kjer/imago images

BERLIN taz | Manchmal fühlt sich Dorit W. wie ein Spielball, nicht wie ein Mensch. „Es ist so, als wäre ich ein Tennisball, der in irgendeine Ecke geschleudert wird. Dort hebt ihn dann jemand auf und schleudert ihn in eine andere Ecke. So ähnlich fühlt man sich im Jobcenter, wenn man in eine Maßnahme gedrängt wird und dann wieder in die nächste und das Gefühl bekommt, dass man ausgeliefert ist“, erzählt die 48-jährige Berlinerin. Die gelernte Grafikdesignerin lebt von Hartz IV. Anfang dieses Jahres wurde ihr vom Jobcenter der Regelsatz für drei Monate um 30 Prozent gekürzt.

Die Kürzung, immerhin 141 Euro weniger im Monat, war eine Sanktion, weil sie eine Maßnahme in Berlin-Blankenburg nach nur einem Tag abbrach. Ihr hatte man zuvor gesagt, das Bildungsinstitut, eine GmbH, würde den Langzeitarbeitslosen Praktika zur Orientierung vermitteln. Doch bei dem Träger zeigte sich rasch, dass bestenfalls wieder nur Kurse ohne jede Perspektive zu erwarten waren.

„Mir war klar, dass diese Maßnahme nichts bringt und ich da nur rumsitzen werde. Also bin ich schon am ersten Tag gegangen“, erzählt W., die im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg wohnt, alleinerziehend ist und seit der Geburt des Sohnes vor 17 Jahren zuerst von Sozialhilfe, dann von Hartz IV lebt. Mehrere 1-Euro-Jobs hat W. in all den Jahren absolviert, diverse Bewerbungstrainings, Coachings und Bildungsmaßnahmen hinter sich – nichts führte zu einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Mit dem Angebot in Blankenburg war das Maß voll. „Oft sind das nur ‚Absitzmaßnahmen‘, in die die Leute geschickt werden“, sagt sie, „viele Menschen gehen in diese Maßnahmen nur, weil sie befürchten, sonst sanktioniert zu werden“.

Linkspartei lehnt Sanktionen ab

Unter 25-Jährigen kann die ganze Regelleistung gekürzt werden

Über einen ähnlichen Fall wie den von W. urteilt am Dienstag, dem 5. November, das Bundesverfassungsgericht (AZ: 1BvL 7/16) in einem Grundsatzurteil. Entschieden wird die Frage, ob mögliche Leistungskürzungen bei Hartz-IV-BezieherInnen, wie sie im Sozialgesetzbuch vorgesehen sind, mit dem sich aus dem Grundgesetz ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sind oder nicht.

Ein Hartz-IV-Empfänger hatte vor dem Sozialgericht Gotha geklagt, das diese Klage an das Bundesverfassungsgericht verwies (AZ: S 15 AS 5157/14). Der Hartz-IV-Empfänger hatte ein Arbeitsangebot als Lagerarbeiter beim Versandunternehmen Zalando abgelehnt, weil er lieber im Verkauf arbeiten wollte. Dem Mann wurden vom Jobcenter Erfurt zunächst 30 Prozent, dann noch mal für drei weitere Monate 60 Prozent vom Regelsatz weggekürzt.

Das Urteil in Karlsruhe wird auch in der Politik mit Spannung erwartet. Die Linke lehnt Sanktionen für Hartz-IV-EmpfängerInnen als „Angriff auf die Menschenwürde“ ab. Für SPD-Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hingegen ist die Möglichkeit für Sanktionen etwa bei Ablehnung eines zumutbaren Jobs oder einer Beschäftigungsmaßnahme notwendig. „Zur Menschenwürde gehört auch, dass Menschen sich anstrengen. Sonst wäre das ein Bedingungsloses Grundeinkommen“, sagt Heil.

Das Sozialgesetzbuch gestattet, beim Nichterscheinen zu einem Termin Hartz-IV-EmpfängerInnen 10 Prozent vom Regelsatz für drei Monate zu kürzen. Derzeit liegt der Regelsatz für Alleinstehende monatlich bei 424 Euro. Bei Ablehnung einer zumutbaren Arbeit oder Maßnahme können 30 Prozent für drei Monate gestrichen werden, bei nochmaliger Ablehnung 60 Prozent der Leistung. Bei wiederholten Verstößen können der Regelsatz ganz und als letzte Maßnahme sogar die Mietkosten vom Jobcenter gestrichen werden. Für unter 25-Jährige sind die Sanktionen noch schärfer. Bei ihnen kann bereits beim ersten Pflichtverstoß die Regelleistung vollständig gekürzt werden.

Zahlen

Derzeit beziehen knapp 5,4 Millionen Erwachsene und Kinder Hartz-IV-Leistungen. Von Juli 2018 bis Juni 2019 sprachen die Jobcenter rund 878.000 Sanktionen aus, insgesamt waren 392.000 Hartz-IV-EmpfängerInnen betroffen. Im Durchschnitt wurde der Hartz-VI-Satz um 19 Prozent gekürzt, was 98 Euro entspricht – also fast einem Viertel bei einem Regelsatz von 424 Euro.

2017 verhängte das Jobcenter insgesamt 1 Million Sanktionen. Meldeversäumnisse sind seit Jahren der häufigste Grund (77,7 Prozent), warum gekürzt wird, gefolgt von der Weigerung, einen missliebigen Job anzutreten (10,7 Prozent), sowie Nichterfüllung der Eingliederungsvereinbarung (8,7 Prozent) und für 3,3 Prozent „Sonstige“. Überdurchschnittlich häufig treffen Sanktionen unter 25-Jährige, für diese Gruppe fällt die Bestrafung weit härter hart aus.

Reform

Bereits vor der Bundestagswahl 2017 hatten sich die Arbeits- und Sozialminister der Länder mit der Bundesagentur auf Anpassungen verständigt. Sie sahen vor, die Sonderregelungen für unter 25-Jährige abzuschaffen, die prozentualen Kürzungen durch pauschale Beträge zu ersetzen sowie Miet- und Heizkosten nicht mehr zu sanktionieren, um Wohnungsverluste zu vermeiden. In der damaligen Großen Koalition griff Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) die Vorschläge auf, aber die Union zog nicht mit. In der jetzigen Bundesregierung drängen SPD und Arbeitsminister Hubertus Heil auf Anpassungen. Die SPD will die strengeren Sanktionen für unter 25-Jährige abschaffen, Miet- und Heizkosten nicht mehr kürzen und eine vollständige Leistungsstreichung verhindern. Einen konkreten Vorstoß hat Heil im Regierungsbündnis mit Blick auf das ausstehende Urteil bislang nicht unternommen.

Nach der Statistik des Jobcenters wurden von Juli 2018 bis zum Juni 2019 rund 878.000 Sanktionen ausgesprochen, insgesamt waren 392.000 Hartz-IV-EmpfängerInnen betroffen, manche mehrfach. Drei Viertel der Sanktionen betrafen allerdings „nur“ das Nichterscheinen bei einem Termin.

Depressionen bei Langzeitarbeitslosen

Bei Helena Steinhaus, Gründerin des Vereins Sanktionsfrei in Berlin, melden sich viele sanktionierte Hartz-IV-EmpfängerInnen. Der Verein gleicht mithilfe von Spendengeldern gekürzte Regelleistungen aus, soweit das finanziell möglich ist, und stellt einen Kontakt zu Rechtsanwälten her. Auch Dorit W. bekam die Kürzung zum Teil aus Mitteln des Vereins ersetzt.

„Hartz-IV-Empfänger ­haben ja kein Geld, da sind schon 40 Euro weniger im Monat ein Problem“, sagt Steinhaus. Sie erzählt von einem 35-jährigen Hartz-IV-Empfänger, der unter schweren Depressionen leidet und schon mehrfach Kürzungen hinnehmen musste, weil er es nicht schafft, zu Terminen beim Jobcenter zu erscheinen. Ein 50-jähriger Akademiker, ehemals Sprachlehrer an einer Volkshochschule, lehnte einen Hilfsjob in einem Callcenter ab, daraufhin wurde die Leistung gekürzt. Einem 62-Jährigen wurde die Regelleistung komplett gestrichen, weil er eine als sinnlos betrachtete Weiterbildungsmaßnahme nicht antreten wollte.

„Oft ist das Verhältnis zum Sachbearbeiter oder zur Sachbearbeiterin im Jobcenter dann schon verkeilt und zerrüttet“, sagt Steinhaus. Auch Dorit W. drohte die Sachbearbeiterin einmal: „Ich kann Sie auch zum Putzen schicken“.

Wer Jahre von Hartz IV lebt, vielleicht krank ist oder aus sonstigen Gründen nicht mehr in den Arbeitsmarkt zurückfindet, für den erscheint es mitunter nur noch als Schikane, wenn das Jobcenter die x-te perspektivlose Maßnahme anordnet oder auf einen schlecht bezahlten Zeitarbeitsjob verweist und mit Kürzung droht, falls man ablehnt.

Abschwächung oder Abschaffung?

Die Bundesagentur für Arbeit sieht in den Sanktionsmöglichkeiten hingegen „ein wichtiges Lenkungsinstrument“, wie aus einer Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht hervorgeht. SachbearbeiterInnen bei der Bundesagentur warnen, dass in Fällen, in denen Hartz-IV-Empfänger dauerhaft Leistung beziehen und dauerhaft gleichzeitig einer Schwarzarbeit nachgehen, keinerlei Einwirkungsmöglichkeit der Behörde mehr bestünde, würden alle Sanktionen wegfallen.

Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur, wünscht sich allerdings Abschwächungen der Sanktionsregeln. Er sprach sich gegen die härtere Behandlung junger Hartz-IV-BezieherInnen aus. Auch dass im schlimmsten Fall die Wohnkosten gestrichen würden, sei „nicht zielführend“.

Steinhaus erwartet nicht, dass das Urteil des Verfassungsgerichts am Dienstag zu einer kompletten Abschaffung der Sanktionen führt. „Aber bei den jungen Hartz-IV-Empfängern und bei der Sanktionierung der Mietkosten verbessert sich womöglich etwas“, meint sie. Dorit W. jedenfalls hat derzeit Ruhe. Sie wurde im Jobcenter einer neuen Abteilung für Alleinerziehende zugeordnet. „Hier werde ich erst mal zu nichts gedrängt“, sagt W.

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