Kriminalisierung der Seenotrettung: „Dass Menschen ertrinken, ist Kalkül“

Warum Demos für Seenotrettung mehr sind als nur Symbolpolitik, erklären Verena Papke von SOS Méditerranée und die Rapperin Sookee.

Auf einem Rettungsboot sitzen in Decken gehüllte Flüchtlinge

Eine Gruppe aus dem Mittelmeer geretteter Flüchtlinge nahe der Küste vor Malaga Foto: dpa

taz: Sookee, Frau Papke, eine liberale Zeitung diskutierte zuletzt dar­über, ob man das mit der privaten Seenotrettung nicht lieber lassen sollte. Was hilft es da, sich mit Rettungswesten fotografieren zu lassen?

Sookee: Nichts zu tun ist keine Alternative. Selbst wenn es um Symbolpolitik geht, um Menschenketten und Lichterketten, auch wenn das ein bisschen hippiesker Scheiß aus den 80er Jahren ist, oder ob man anders Öffentlichkeitsarbeit unterstützt: Alle sollten tun, was nach ihren Ressourcen möglich ist. Zu sagen: „Das bringt ja eh nichts“, ist großer Unfug. Damit macht man es sich sehr leicht. Ich finde, dass Menschen, die öffentlich sind, hier in der Pflicht stehen zu unterstützen, weil eine Öffentlichkeit ja auch sie unterstützt. Das ist ein Geben und Nehmen.

Verena Papke: Wir sehen ja, dass es sehr viele Menschen gibt, die für Seenotrettung stehen. Es gibt viele, die nicht dagegen sind, sondern dafür. Wenn sie eine Rettungsweste anziehen und sich solidarisch erklären, ist das eine Art und Weise, sich zu solidarisieren, die alle anderen verstehen.

Erreicht man so auch Menschen, die sich gegen die Seenotrettung positionieren? Kommt man mit ihnen ins Gespräch?

Papke: Ich glaube nicht, dass ein Seehofer eine Einladung annehmen würde, um mit uns über unsere Arbeit zu diskutieren. Wir würden das machen. Wir stellen uns dem und auch den Vorwürfen, die man uns macht, weil sie schlichtweg haltlos sind. Man wirft uns vor, wir würden Recht brechen. Das Gegenteil ist der Fall.

Sookee: Bestimmte Leute wird man nicht ohne weiteres überzeugen können. Mein Foto mit einer Rettungsweste wird Seehofer nicht umstimmen. Aber es geht ja auch darum, diesen Leuten klarzumachen, dass sie nicht die Hegemonie bilden. Dass sie nicht diejenigen sind, die einfach schalten und walten können. Wir lassen uns nicht verarschen.

heißt mit bürgerlichem Namen Nora Hantzsch. Sie ist Rapperin, Queerfemi­nistin und Aktivistin.

Die „Festung Europa“ ist heute viel manifester als noch vor fünf Jahren. Wie erklären Sie sich das?

Sookee: Europa ist keine Festung. So wie sich die Mitgliedstaaten zueinander verhalten, sind es mehrere Festungen. Wenn man schaut, wie viele Flüchtlinge im Nahen Osten und auch in diversen afrikanischen Ländern aufgenommen werden, dann ist das ein Witz. Wieso sagt Europa nicht: „Wir und die sind jetzt alle da. Können wir jetzt bitte alle überlegen, wie wir uns denen gegenüber solidarisch verhalten, indem wir untereinander solidarisch sind?“

Papke: Heute verstehen alle besser, was mit „Festung Europa“ gemeint ist. Italien, das zivilen Seenotrettungsschiffen gerade nicht erlaubt, in seinen Häfen anzulegen, ist lange Zeit seinen humanitären Verpflichtungen nachgekommen. Die Italiener haben in den letzten Jahren Hunderttausende Geflüchtete aufgenommen. Viele Menschen in Italien sind immer noch positiv eingestellt gegenüber Flüchtlingen. Es gibt immer auch die anderen. Es ist wichtig, das zu sehen. Es gibt viele, die sich solidarisieren mit Seenotrettern. Und ja, die Mehrheit wählt zumindest nicht links. Das sind politische Realitäten, gegen die man angehen muss. Und gegen die man angehen kann.

Und wer geht dagegen an?

ist Geschäftsführerin von SOS Medi­terranée Deutschland. Die NGO hat mit dem Schiff „Aquarius“ seit 2016 Tausen­de Schiffbrüchige gerettet.

Papke: Auch in Deutschland gibt es Leute, die jetzt denken: Ich kann mit so einem Innenminister nichts anfangen. Das ist eine Chance. Auch vielen Menschen, die eigentlich nicht sehr politisch sind, geht das zu weit. Das sieht man daran, dass sie auf die Straße gehen wegen dem, was Seehofer da losgelassen hat, und weil Seenotretter kriminalisiert werden. Das ist das Gute an dieser Debatte. Die spaltet zwar, gleichzeitig bewegt sich aber etwas.

Sookee: Menschen wählen auch aus anderen Gründen CDU und CSU als dem dringenden Wunsch, eine Obergrenze einzuführen. Wahlprogramme sind vielfältig, keine Wählerschaft ist einheitlich und somit auch die Gesellschaft nicht. Ich finde es wichtig, immer an die Menschen zu erinnern, die diese Scheiße nicht mitmachen. Es ist wichtiger, die Leute zu supporten, die einen wieder aus der Situation herausmanövrieren, als Ursachen zu betrauern. Spannender ist die Frage: Wie geht es wieder raus?

Auf dem Mittelmeer sehen Seenotretter derzeit aber nicht wirklich einen Ausweg, oder?

Papke: Im Juni sind so viele Menschen auf dem Mittelmeer gestorben wie schon lange nicht mehr. Sie sind ertrunken, weil keine zivilen Seenot­organisationen da waren. „Jugend rettet“, „Seawatch“, „Lifeline“ können aus fadenscheinigen Gründen nicht auslaufen. Die „Moonbird“ kann als Aufklärungsflugzeug nicht fliegen. Und die „Aquarius“ von SOS Méditerranée liegt seit vier Wochen in Marseille im Hafen. Dass Menschen ertrunken sind, ist politisches Kalkül. Es geht darum, dass man nicht nur Menschen nicht retten will, sondern auch nicht will, dass da Leute sind, die sehen, dass Menschen ertrinken. Wollen europäische Regierungen ernsthaft, dass der Tod vor den Toren Europas noch nicht mal mehr bezeugt wird?

Was können Menschen konkret tun, damit Seenotretter ihre Arbeit wieder aufnehmen können?

Den Auftakt machten am 7. Juli Tausende Menschen, die in mehr als zehn deutschen Städten unter dem Motto „Seebrücke statt Seehofer“ gegen das Sterben im Mittelmeer und die Kriminalisierung von Seenotrettung protestierten.

Die Bewegung, die daraus entstanden ist, organisiert seither zahlreiche Aktionen überall in Deutschland, von Berlin bis Lörrach. Allein am Samstag gab es Demos in 19 Städten, am Sonntag in weiteren 7.

Das Symbol der Bewegung ist die Farbe Orange: „Bekenne Farbe“ lautet der Aufruf zum Tragen von Rettungswesten, Fahnen oder Halstüchern.

Den Überblick über die kommenden Aktionen und die über 60 engagierten Organisationen gibt es auf seebruecke.org. Am 4. August soll mit dem „Day Orange“ in vielen deutschen und europäischen Städten der nächste große Aktionstag stattfinden.

Papke: Sie können sich solidarisieren. Damit politischer Druck auf die EU-Staaten, insbesondere die Mittelmeerstaaten ausgeübt wird, nicht nur NGO-Schiffe, sondern jedes Schiff mit Geretteten an Land gehen zu lassen oder zumindest die Menschen von Bord gehen und sie an einen sicheren Ort bringen zu lassen. Und Druck ausüben, damit Europa eine solidarische Lösung findet. Die Dublin-Regelung ist nicht solidarisch.

Sookee: Es geht darum, zu sagen: Wir tragen das nicht mit! Und dass die Strategie nicht aufgeht, Dinge unsichtbar zu machen. Zu sagen: Wir sehen das, und wir nehmen das nicht hin. Und öffentliche Leute, die davon leben, dass sie öffentlich sind, müssten alle die entsprechenden Hashtags mit sich rumtragen und ein „Seebrücken statt Seehofer“-Shirt, einfach DIY mit einem Edding draufgeschrieben. Sie müssten damit das Internet vollspülen und sagen: Hier stehen wir als Gesellschaft, losgelöst von dem, was irgendeine Regierung gerade durchsetzt.

Papke: Bevor sich die Debatte dar­über so polarisiert hat, wurde Seenotrettung gar nicht thematisiert. Ab dem Moment, an dem sie wahrgenommen wurde, wurde sie kriminalisiert. Wenn man zurückgeht und schaut, wie die zivilen Seenotrettungsorganisationen entstanden sind, sieht man, dass sie nur deswegen existieren, weil bis dato kein europäisches Seenotrettungsprogramm eingeführt wurde. Deswegen haben zivile Organisationen gesagt: Wir sorgen dafür, dass Menschen nicht sterben. Eine Forderung von SOS Méditerranée ist von Anfang an ein europäisches Seenotrettungsprogramm gewesen. Wir würden uns ja gerne überflüssig machen.

Glauben Sie an eine baldige europäische Lösung?

Papke: Wir tun zumindest alles dafür. Wir zeigen auf, dass Europa nicht solidarisch handelt. Und wir sind auch ein Symptom europäischer Uneinigkeit und jahrzehntelanger Nichtsolidarität. Diese hat sich nun so zugespitzt, dass selbst wir kriminalisiert werden. Ob es am Ende eine Lösung geben und wie auch immer sie aussehen wird, weiß ich nicht. Aber unsere Aufgabe ist es, aufzuzeigen, dass genug Menschen eine solche einfordern.

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