Wahl zur Verfassungsrichterin: Wie konnte das passieren?
Frauke Brosius-Gersdorf ist eine qualifizierte Rechtswissenschaftlerin. Sie sollte zur Bundesverfassungsrichterin gewählt werden. Kein großes Ding. Eigentlich.

Frauke Brosius-Gersdorf haben die vergangenen Wochen zugesetzt. Das ist deutlich zu erkennen, als die Rechtsprofessorin am Dienstagabend im Fernsehstudio von Moderator Markus Lanz sitzt. Sie erzählt von Diffamierungen, von Falschbehauptungen und von Drohungen, die sie und ihre Familie erhalten. Per E-Mail, per Post. „Ich musste vorsorglich meine Mitarbeitenden bitten, nicht mehr am Lehrstuhl zu arbeiten“, erzählt die Verfassungsrechtlerin der Universität Potsdam.
Wie konnte es so weit kommen? Wie kann es sein, dass eine hoch angesehene Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht in einer Talkshow beteuern muss, sie sei keineswegs „linksradikal“, sondern vertrete „absolut gemäßigte Positionen aus der Mitte unserer Gesellschaft“?
Es begann als Routinevorgang: Um drei Posten am Bundesverfassungsgericht nachzubesetzen, schlug die Union turnusgemäß einen Kandidaten, die SPD zwei Kandidatinnen vor – den Vorsitzenden Richter des Bundesarbeitsgerichts Jürgen Spinner und die Rechtsprofessorinnen Ann-Katrin Kaufhold und Frauke Brosius-Gersdorf. In der Koalitionsspitze einigte man sich auf das Paket, auch im Wahlausschuss des Bundestags bekamen alle drei die nötige Zweidrittelmehrheit. Die Wahl am vorvergangenen Freitag im Parlament schien eine Formalie.
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Dann aber rebellierte die Unions-Fraktion: 50 bis 60 Abgeordnete sollen nicht bereit gewesen sein, Brosius-Gersdorf zu wählen. Just am Wahltag wurden außerdem – inhaltlich kaum haltbare – Plagiatsvorwürfe gegen die Rechtswissenschaftlerin bekannt. Für Unions-Fraktionschef Jens Spahn ein willkommener Vorwand, um die Wahl von der Tagesordnung zu streichen. Entscheidender Motor dieser Eskalation: eine konzertierte Verleumdungskampagne.
Tausende E-Mails, Petitionen, Schmähungen
Eine Allianz aus rechten bis extrem rechten Medien, der AfD und radikalen Abtreibungsgegner*innen hatte in Tausenden E-Mails an Abgeordnete, mit Petitionen und mit Schmähungen bereits tagelang Stimmung gegen Brosius-Gersdorf gemacht. Der Juristin wurde vorgeworfen, Abtreibungen bis kurz vor der Geburt legalisieren und dem Fötus kein Lebensrecht zugestehen zu wollen.
Der Bamberger Erzbischof Herwig Gössl nannte die Nominierung von Brosius-Gersdorf einen „innenpolitischen Skandal“ und sprach von einem „Abgrund der Intoleranz und Menschenverachtung“. – „Das finde ich infam“, sagte die Juristin dazu bei „Markus Lanz“. Das Gegenteil sei wahr. Sie habe auf Dilemmata in der aktuellen Rechtslage hingewiesen und Lösungsvorschläge gemacht. Und: Ihre Positionen dazu seien seit Langem für jeden öffentlich einsehbar.
Das ist nicht zu bestreiten. Die Ampelkoalition hatte die Verfassungsrechtlerin als eine von 18 Expert*innen in eine „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ berufen. Konservative und Kirchen bemängelten damals, die Kommission sei „einseitig“ besetzt, die Ampel mache sich „ihre eigene Ethik“. Das wiesen die Expert*innen stets von sich. Ein Jahr lang prüften sie die Positionen, Forderungen und Bedenken zahlreicher zivilgesellschaftlicher und politischer Akteure – auch der Union.
Seit April 2024 ist der Abschlussbericht öffentlich: Die grundsätzliche Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen sei „nicht haltbar“. Die Kommission plädierte aber keineswegs für legale Abbrüche bis kurz vor der Geburt, sondern nur in den ersten zwölf Wochen. Späte Abbrüche sollten verboten bleiben, dazwischen habe der Gesetzgeber „Handlungsspielräume“.
Keine linke Aktivistin
„Das Grundgesetz schützt das Recht auf Leben nicht erst für den Menschen nach der Geburt, sondern auch für Embryonen im Mutterleib“, sagte Brosius-Gersdorf damals. Das Lebensrecht habe aber vor der Geburt nicht das gleiche Gewicht wie danach. Ginge man von einem „gleichen Lebensrecht des geborenen und des ungeborenen Lebens“ aus, so die Verfassungsrechtlerin, dann wären „Konflikte ‚Leben gegen Leben‘ gar nicht lösbar“. Selbst ein Abbruch bei Lebensgefahr für die Schwangere wäre rechtswidrig.
All das referiert Brosius-Gersdorf nun wieder. Sie erklärt gegenüber Lanz ihre ebenfalls in der Kritik stehenden Positionen zur Corona-Impfpflicht oder zur Prüfung eines AfD-Verbots. Und sie verweist auf ihre Arbeit in anderen Bereichen, mit der sie der Union mitunter näher stehen dürfte als linken Positionen – wenn sie etwa vorschlägt, die Rente mit 63 abzuschaffen oder die Sanktionen beim Bürgergeld zu verschärfen.
Wer einen kurzen Blick auf ihre wissenschaftliche Vita wirft, dem dürfte klar sein, dass Brosius-Gersdorf keine linke Aktivistin ist. 2017 schrieb sie für die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung ein Gutachten über Privatschulen. 2018 lud die Union Schleswig-Holstein sie als Sachverständige in den Rechtsausschuss ein. 2023 erstellte sie für den Katholischen Krankenhausverband ein Gutachten zur Krankenhausfinanzierung. Von 2015 bis 2024 war sie stellvertretende Richterin am Verfassungsgericht in Sachsen, gewählt mit breiter Mehrheit – auch von der CDU. Von Berührungsängsten damals keine Spur.
Rebellen auf dem Baum
Das Ringen um die Deutungshoheit geht nun weiter. Die SPD hält an der Kandidatin fest, hat ihr die Unterstützung zugesichert. In einem offenen Brief kritisierten mehr als 300 Rechtswissenschaftler*innen, darunter ehemalige Verfassungsrichter*innen, den Umgang mit ihr scharf. „Frauke Brosius-Gersdorf gehört ins Verfassungsgericht“, fordert eine Petition. „Wer Brosius-Gersdorf angreift, stellt sich nicht nur gegen eine erfahrene Juristin, sondern auch gegen den Grundsatz der unabhängigen Justiz.“ Binnen eines Tages unterschrieben mehr als 100.000 Menschen.
Mittlerweile hat sich der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, zu Wort gemeldet und Brosius-Gersdorf in Schutz genommen. „Die Frau hat es nicht verdient, so beschädigt zu werden“, sagte er gegenüber der Augsburger Allgemeinen. Auch Erzbischof Gössl aus Bamberg hat nach einem Telefonat mit der Juristin eingeräumt, „falsch informiert“ gewesen zu sein.
Die rebellierenden Abgeordneten der CSU und der CDU machen indes noch keine Anstalten, von ihrem Baum herunterzukommen. Und auch die begleitende Medienkampagne läuft weiter. Stimmung wird nun auch gegen die zweite SPD-Kandidatin für das Amt der Bundesverfassungsrichterin, Ann-Katrin Kaufhold, gemacht.
Die profilierte Juraprofessorin von der Universität München, die insbesondere zu Verwaltungs- und Klimarecht arbeitet, wird von rechten Onlinemedien und AfD-Politikern als „grüne Klimaaktivistin“ mit „ideologischer Agenda“ bezeichnet, ihre Nominierung als „gefährlich für die Demokratie“. Ihr wird vorgeworfen, sie wolle den Klimaschutz mithilfe von Gerichten durchsetzen und sei eine Enteignungsbefürworterin. Dass beide Juristinnen die Prüfung eines AfD-Verbotsverfahrens befürworteten, wird von dem AfD-nahen Juristen Ulrich Vosgerau gar als „Staatsstreich“ bezeichnet.
Was macht das mit uns?
Es gehe längst nicht mehr nur um sie, sagte Brosius-Gersdorf bei „Markus Lanz“. Sondern darum, was passiere, wenn solche Kampagnen sich durchsetzten, „was das mit uns macht, mit dem Land macht, mit unserer Demokratie“. Sobald aber ein Schaden für das Bundesverfassungsgericht drohe oder eine Regierungskrise, werde sie an ihrer Kandidatur nicht festhalten, sagte sie. Und räumte damit jene Option ein, auf die die Union seit Tagen drängt.
Zeitgleich zu dem öffentlichen Auftritt von Brosius-Gersdorf im ZDF ist Bundesforschungsministerin Dorothee Bär (CSU) bei „Maischberger“ zu Gast. Dort sagt sie, sie respektiere es, wenn Abgeordnete der Union die Wahl der Juristin nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten, und „erwarte aber auch von der Kandidatin, dass sie mal für sich selbst überlegt, ob sie die Richtige ist“. Während Brosius-Gersdorf von den Drohungen berichtet, die sie erhält, sagt Bär, sie erwarte „ein bisschen Resilienz“, nämlich dass man „auch kritikfähig“ sein müsse, wenn man sich ins höchste deutsche Gericht wählen lassen wolle.
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