piwik no script img

Wahl von Kai Wegner in BerlinBerlin liegt nicht in Thüringen

Kai Wegner ist neuer Regierender Bürgermeister. Die AfD behauptet, für ihn gestimmt zu haben. Aber war es wirklich ein Dammbruch?

Kai Wegner hat sich sicherlich selbst gewählt. Aber woher kamen die anderen Stimmen? Foto: Hannes P. Albert/dpa

Berlin taz | Kaum hatte die Berliner AfD-Fraktion am Donnerstagnachmittag verkündet, man habe den CDU-Kandidaten Kai Wegner zum Regierenden Bürgermeister gewählt, war die Aufregung groß – ganz besonders auf dem Empörungskurznachrichtendienst Twitter. „Ein Tag der Schande“, postete der Fraktionschef der Linken im Abgeordnetenhaus, Carsten Schatz. „Wenn Wegner diese Wahl annimmt, stürzen CDU und SPD in Berlin die deutsche Demokratie in eine schwere Krise“, schrieb Jan-Philipp Al­brecht, der Vorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung.

„Wegner lässt sich ohne Skrupel vereidigen, trotz des Verdachts, Regierender Bürgermeister von Gnaden der AfD-Faschos zu sein“, twitterte Jan Korte von der Linkspartei. Und fügte hinzu: „Der CDU macht das nichts aus, das wissen wir seit Kemmerich.“

Korte war nicht der Einzige, der eine Parallele zum 5. Februar 2020 in Erfurt zog – als Thomas Kemmerich, der Landeschef der FDP, mit den Stimmen seiner Fraktion und von CDU und AfD zum Kurzzeitministerpräsidenten von Thüringen gewählt wurde. Aber trägt der Vergleich?

Kai Wegner ist am Donnerstag in Berlin im dritten Wahlgang gewählt worden. In diesem Wahlgang reicht die einfache Mehrheit, Wegner brauchte also mehr Ja- als Nein-Stimmen. Im konkreten Fall waren das 71, denn 70 der Abgeordneten stimmten gegen ihn. Der CDU-Kandidat erhielt 86 Stimmen. Und damit genauso viele, wie die Koalition aus CDU und SPD Abgeordnete hat.

Die AfD ist Propagandapartei

Es ist nicht besonders gewagt zu vermuten: Hätte die AfD nicht ihr Gift verspritzt, wäre die weitverbreitete Einschätzung anders gewesen. Nämlich so: Am Ende haben über das Bündnis entsetzte So­zi­al­de­mo­kra­t*in­nen ihren Unmut hinten angestellt und sich der staatspolitischen Verantwortung und dem Votum ihrer Parteibasis gebeugt. Zumal Wegner die 71 Stimmen, die im dritten Wahlgang von Nöten waren, im ersten bereits bekommen hatte; im zweiten waren es sogar 79. Es spricht also wirklich nicht viel dafür, dass Wegners Wahl von den Stimmen der AfD abhängig war.

Hinzu kommt: Die AfD ist eine Propagandapartei, wie es der Kommunikationsexperte Johannes Hillje nennt: „Halbwahrheiten sind ihr Hauptgeschäft.“ Man könnte auch sagen: Auf die Aussagen der AfD sollte man besser nichts geben. Das gilt auch für die zehn Namen, die jetzt als vermeintliche Un­ter­stüt­ze­r*in­nen Wegners genannt werden.

Doch die AfD hat nun einmal in Berlin ihr Gift verspritzt – und weil die Wahl eine geheime ist, wird niemand sagen können, wie es nun zu der Mehrheit für Wegner kam. Eine Restunsicherheit bleibt. Und die Berliner AfD kann sich über einen Coup freuen. Das zumindest hat sie mit ihren Thüringer Parteifreunden 2020 gemein.

Aber sonst? Gibt es vor allem Unterschiede. Der wichtigste: In Erfurt hat sich der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow am 5. Februar 2020 der Wiederwahl gestellt, ohne eine eigene Mehrheit zu haben.

Wird Wegner und Giffey das nachhängen?

Ramelow wollte eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung anführen, der im Landtag vier Stimmen fehlen. Wegner dagegen hat ein Bündnis mit einem ausverhandelten Koalitionsvertrag hinter sich, das im Abgeordnetenhaus über eine satte Mehrheit verfügt – das gilt trotz zahlreicher frustrierter Sozialdemokrat*innen. Immerhin hat die Basis, wenn auch knapp, den Koalitionsvertrag angenommen.

Wegner hatte zudem keinen Gegenkandidaten. Und: Wer in Thüringen für Kemmerich stimmte, wusste, dass dieser nur mit den Stimmen der AfD erfolgreich sein kann. Warnungen vor einem taktischen Move der AfD gab es damals durchaus, CDU und FDP schlugen sie in den Wind. Und so wählte die AfD am 5. Februar 2020 im dritten Wahlgang nicht den eigenen Kandidaten, sondern mit FDP und CDU Kemmerich – und damit den ersten Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD. Das war ein Dammbruch. Und nicht vergleichbar mit dem, was am Donnerstag im Berliner Abgeordnetenhaus geschehen ist.

Ganz grundlos aber ist die Empörung über CDU und SPD in Berlin aber auch nicht. „Das schwere Versäumnis von SPD und CDU ist es, dass sie den fruchtbaren Boden für die Halbwahrheiten der AfD geschaffen haben“, meint Kommu­ni­ka­tions­berater Johannes Hillje. „Darauf wachsen und gedeihen sie jetzt.“

Ob Wegner und seiner SPD-Verbündeten Franziska Giffey das nachhängen wird? Vermutlich nur, wenn ihre Politik dazu Anlass bietet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

18 Kommentare

 / 
  • Klare Analyse.

  • Wegner wird einstimmen in den alten Spruch "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!" und ihm eine völlig neue Note geben.

  • Geheime, gleiche und freie Wahlen !



    Wir sind vom Glück begünstigt!

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    "Berlin liegt nicht in Thüringen" Stimmt, aber die Kai-Gass' liegt jetzt in Berlin.



    www.youtube.com/watch?v=BZQA_mEzVxs

  • Die Ausführungen zu der einfachen Mehrheit überzeugen nicht, denn im zweiten Wahlgang hatte Wegner auch keine einfache Mehrheit, es gab 79 Stimmen für und 79 gegen ihn, bei einer Enthaltung.







    Natürlich ist denkbar, dass alle SPD-Abgeordneten für Wegner gestimmt haben. Allerdings ist ebenso klar, dass es rein von den bisherigen Äußerungen her eine größere Nähe zwischen Wegner und Teilen der AfD gibt als zwischen Wegner und den Linken in der SPD. Das ist normal, so ist die CDU. Aber auf die Bedenken der eigenen Leute nicht gehörig Rücksicht genommen zu haben: Das hat die SPD-"Führung" um Giffey zu verantworten! Sie sollten endlich ihren Hut nehmen und ihrer Partei die Zeit gönnen, sich zu erholen und neu aufzustellen.

  • Die AfD tut alles, um die Demokratie zu unterhöhlen. Die Presse hilft dabei und springt über jedes Stöckchen, das ihr hingehalten wird. Auch die TAZ. Wahlen sind in einer Demokratie aus gutem Grund geheim. Spekulationen, wer hier wen aus welchem Grund gewählt hat oder nicht, sind überflüssig. Es zählt das Ergebnis!

  • Man sollte das Spiel der AFD nicht mitspielen. Das ist reine Trittbrettfahrerei. Es kann auch nicht ernsthaft Wegners Problem sein, wie hätte er denn die Situation vermeiden sollen? Ich vermute jedenfalls, dass die Wahl des Regierenden Bürgermeisters geheim erfolgen muss, dass also die Regierungsmehrheit gar nicht verifizierbar sein kann. Falls es wirklich keine Mehrheit gibt, dann wird man das demnächst schnell merken. Das eigentliche Problem ist Giffey, die der SPD die Koalition aufgezwungen hat.

  • "„Wenn Wegner diese Wahl annimmt, stürzen CDU und SPD in Berlin die deutsche Demokratie in eine schwere Krise“, schrieb Jan-Philipp Al­brecht, der Vorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung."

    Mein Gott. "Die Kirche im Dorf zu lassen" ist anscheinend keine Kunst in der Berliner Politik. Erst soll Berlin die "Ehre der Klimabewegung" retten, dann den "großen Stillstand" erleben, und jetzt auch im Alleingang die Demokratie in Deutschland bewahren, die CDU und SPD so leichtfertig wegschmeißen.

    Der "Coup" der AfD ist herbeigeschrieben. Verantwortlich dafür sind die Grünen, die Linke, sonstige AfD-Neurotiker und die Presse. Die AfD ist eine widerliche Fascho-Partei, das steht völlig außer Frage. Wer aber ernsthaft davon spricht, Wegner sei Bürgermeister aufgrund der AfD-Stimmen, der spielt doch genau das Spiel mit, die Bedeutung dieses Haufens künstlich hochzujazzen. Denkt man das zu Ende, hätte z.B. auch ein Bodo Ramelow seine Wahl nicht annehmen dürfen, denn auch dort bestand bei einer geheimen Wahl theoretisch die Möglichkeit, dass er heimlich von einem AfDler gewählt wurde. Wie wäre es damit, diese Partei an ihren ekelhaften Positionen und ihrem knalltütigen Personal zu messen und nicht dauernd an ihren Taschenspielertricks?

    • @Agarack:

      So sieht's aus!

    • @Agarack:

      Genau!

  • Moment mal: Logik ist nicht die Domäne der Schreibenden: 1. Der Linke spricht von einem Verdacht, was völlig korrekt ist. 2. Aus den Zahlen kann nicht auf die Abstimmenden geschlossen werden, selbst wenn 86 die Summe bei Schwarzrot ist. 3. Schlimm genug, dass Wegner nicht von Anfang an gewählt wurde. Das liegt u. A. daran, dass er das Charisma einer Büroklammer hat, Berlin ihn also nicht wirklich verdient hat. Andernfalls wäre er auf Anhieb gewählt worden. Giffey wurde auch auf Anhieb gewählt und lag in Prognosen weit vor dem Mann ohne Charisma.

  • Vielen Dank für diese Darstellung, etwas spät aber besser als nie !

  • Es ist ganz einfach. CDU und SPD haben alle für Wegner gestimmt. Das legen sie Zahlen nahe. Die AFD nutzt nur die Sensationsgeilheit der Verlierer und die Klickgeilheit der Presse, um im Gespräch zu bleiben. Und die angeblichen Gegner der AFD, die Linke und die Grünen mischen kräftig mit. OMG.

  • 1) Die Union als latent rechte Partei heuchelt die differnz zur AFD nur vor. In ein paar Jahren WIRD sie der Macht wegen mit der AFD koaliernen.

    2)Das prozedere scheint Rechtskonform zu sein.

    3)Die Union als inbegriff der korruption, der Seilschaften, des Siffes, der Plutokratie - das selbst die Amis und die Italiener erblassen würden ist für DE denkbar schlecht.



    Wer mit der KPCH, äh, JEM, ähm..... ER ins Bett geht hatte JEDE legitimition verlorenen.

    Otto-normal-Germane muss mal realisieren das er(respektive die Regierung, die Konzerne) nix besser ist als Russland, als Angola, als, China, als Kambotscha usw...

    • @Westfale:

      Es gibt aber einen Unterschied zu den von dir aufgezählten Ländern. Wir wählen uns freiwillig immer wieder die selben Parteien und hoffen jedesmal, dass sich dadurch irgendwas zum Bessern ändern.

      • @Herr Schnitzlmann:

        Dieses Mal ist es ja gerade nicht so.

        Das dürfte der Punkt sein, der ihn wurmt.

  • Die FAZ schreibt: 》Nur dank der AfD sei Kai Wegner jetzt Regierender Bürgermeister Berlins, behaupten Grüne und Linke. Wie geht diese Rechnung auf? [...]

    Die neue Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg, die im Bundesamt für Verfassungsschutz maßgeblich die Einstufung der AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall durchgesetzt hatte, sagte am Freitag dazu: „Es gehört zu den bekannten Methoden der AfD, Desinformationen zu verbreiten und Verschwörungstheorien zu bedienen. Wer auf diese eingeht, bestellt das Feld der AfD.“《

    Es war doch neulich, anlässlich von Friedensdemos bzw. Offenen Briefen, soviel von "Querfront" die Rede - was ist es denn, wenn Grüne und Linke eine, diese Behauptung der AfD übernehmen, um diese Wahl, den gewählten Bürgermeister zu delegitimieren?

    Wenn es auch sein kann, dass Wegner von allen Abgeordneten der CDU und der SPD gewählt worden ist (die ihm in den ersten beiden Wahlgängen einen Denkzettel verpasst hatten)?

    • @ke1ner:

      Kann sein - aber Wegner steht dem "moderaten" Teil der AfD nun mal politisch erheblich näher als dem linken Teil der SPD. Und die Berliner AfD weiß ja ganz genau, dass sie die Berliner CDU braucht, um R2G zu beenden - und letzteres war ihr erstrangiges Etappenziel.

      Insofern kann man spekulieren wie man will, aber dass Wegner von Teilen der AfD als "ihr Mann" gesehen wird (zumindest im Vergleich zum Rest der demokratischen Parteien), ist ganz einfach eine Tatsache.