Vor Referendum über neue Verfassung: Aufbruchstimmung in Chile
Chile stimmt über eine neue Verfassung ab. Das Land gilt als Labor des Neoliberalismus – und könnte bald zum Labor von dessen Überwindung werden.
I n Chile hat eine soziale Revolte geschafft, woran linke Parteien jahrzehntelang gescheitert sind: einen grundlegenden politischen Wandel anzustoßen. Eine demokratisch gewählte Versammlung hat eine neue Verfassung ausgearbeitet, über die am 4. September bei einem Referendum abgestimmt wird. Es lohnt sich, einen Blick nach Chile zu werfen: Das Land, das als Labor des Neoliberalismus gilt, könnte bald zum Labor von dessen Überwindung werden.
Alles fing an mit dem Aufstand, der im Oktober 2019 das gesamte Land erfasste. Proteste gegen eine Erhöhung der Fahrpreise der U-Bahn in der Hauptstadt Santiago waren der Auslöser, aber schnell war klar, dass es um viel mehr ging: una vida digna – ein würdevolles Leben. Niedrige Löhne und Renten, prekäre Arbeitsbedingungen, hohe Studiengebühren trieben Millionen von Menschen auf die Straße – es waren die größten Proteste seit dem Ende der Pinochet-Diktatur. Sie hatten keine Anführer*innen, wurden von keinen politischen Parteien gelenkt.
Die Unzufriedenheit über die soziale Ungleichheit vereinte Millionen von Menschen, die monatelang demonstrierten und sich in basisdemokratischen Nachbarschaftsversammlungen organisierten. Dort begann der verfassungsgebende Prozess.
Während der Militärdiktatur privatisierte Pinochet zu großen Teilen das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie das Rentensystem und das Wasser, baute Arbeiter*innenrechte ab und zerschlug Gewerkschaften. 1980 verabschiedete er eine Verfassung, die den neoliberalen Weg zementieren sollte. Zehn Jahre später kehrte Chile zwar zur Demokratie zurück, aber die Verfassung blieb in Kraft. Während der Revolte war deshalb schnell klar, dass nur eine verfassungsgebende Versammlung einen Ausweg aus der Krise finden könnte.
Im Oktober 2020 stimmten bei einem Referendum fast 80 Prozent für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Im Mai 2021 wählten die Menschen Feminist*innen, Umweltschützer*innen und soziale Aktivist*innen mit in die Versammlung, die die neue Verfassung ausarbeiten sollte. Sie bestand zur Hälfte aus Frauen und hatte Sitze für die zehn indigenen Völker reserviert. Noch nie repräsentierte ein politisches Organ so stark die chilenische Gesellschaft. Es war ein klares Zeichen: Nicht mehr die oligarchische Elite sollte die Zukunft des Landes bestimmen, sondern diejenigen, die bisher von den politischen Entscheidungen ausgeschlossen worden waren.
Nicht einmal ein Drittel der Sitze erhielten die Rechten, wodurch sie nicht in der Lage waren, Entscheidungen zu blockieren. Das Ergebnis: Veränderungen, für die sozialen Bewegungen seit Jahrzehnten kämpfen, verabschiedete der Verfassungskonvent mit einer Zweidrittelmehrheit: das Recht auf menschenwürdigen Wohnraum, auf Bildung und Gesundheit, Landrechte von Indigenen, die Entprivatisierung des Wassers, Umweltschutz, Rechte von Frauen und LGBTIQ+.
Die neue Verfassung, wenn sie in Kraft tritt, wird eine der fortschrittlichsten der Welt sein: Sie verpflichtet den Staat zum Klimaschutz, erkennt Pflege- und Sorgearbeit an und garantiert Geschlechterparität in staatlichen Institutionen.
Die neue Verfassung dürfte nicht von heute auf morgen alle Probleme Chiles lösen. Aber sie würde die Möglichkeit eröffnen, strukturelle Veränderungen umzusetzen und die politische Richtung der nächsten Jahrzehnte vorzugeben. Die wirtschaftliche Elite Chiles, die sich seit der Diktatur auf Grundlage der aktuellen Verfassung bereichert hat, setzt alles darauf, ihre Privilegien zu schützen. Sie investiert viel Geld in eine Kampagne gegen eine neue Verfassung und verbreitet Falschmeldungen und Verschwörungstheorien, um Angst und Verunsicherung zu erzeugen.
Rechte schüren Ängste
Einer der Sprecher der Kampagne sagte, die neue Verfassung würde einer „kommunistischen Diktatur“ die Türen öffnen. Auf sozialen Netzwerken kursieren Videos, die davor warnen, dass Häuser und Wohnungen enteignet und in Staatseigentum übergehen würden. Ein rechter Politiker warnte davor, Abtreibungen würden bis zum neunten Monat erlaubt werden. All diese Vorwürfe entbehren jeglicher Grundlage im Verfassungstext.
Um diejenigen zu überzeugen, denen die neue Verfassung zu weit geht, hat die Regierung des linken Präsidenten Gabriel Boric ein Abkommen mit Parteien der Regierungskoalition abgeschlossen, um den Text im Parlament zu reformieren, wenn er angenommen wird. Die Reformpläne betreffen umstrittene Aspekte wie Plurinationalität (also die Anerkennung mehrerer Ethnien im Land), die Rechte der Indigenen und die Beteiligung von Privaten in der öffentlichen Daseinsvorsorge. Im Senat und in der Abgeordnetenkammer haben rechte Parteien außerdem die Hälfte der Sitze, weshalb dort vermutlich Reformen vorgenommen werden, wenn die neue Verfassung angenommen wird.
Veränderungen verursachen immer Unsicherheiten. Auf Grundlage dieser Gefühle manipulieren die Rechten mit ihrer Kampagne. Basisorganisationen versuchen, gegen die Desinformationskampagne anzukämpfen und die Menschen von den Vorteilen der neuen Verfassung zu überzeugen. Da die Veränderungen, die das neue Grundgesetz anstoßen würde, erst in Jahren spürbar sein werden, ist das keine einfache Aufgabe.
Verfassung als Bestseller
Auf den Straßen von Santiago spürt man aber Hoffnung und Aufbruchstimmung. Künstler*innen und Musiker*innen unterstützen die neue Verfassung. Mehr als 7.000 Personen kamen bei einer Zusammenkunft für die neue Verfassung am Stadtrand Santiagos zusammen. In der U-Bahn lesen die Menschen die neue Verfassung, jeden Tag stehen Hunderte vor dem Regierungsgebäude Schlange, um sich ein Exemplar abzuholen, das die Regierung kostenlos verteilt. Der Verfassungsentwurf ist außerdem das meistverkaufte Sachbuch.
Wir können vor allem eins von Chile lernen: dass mit kollektiver gesellschaftlicher Kraft tiefgreifende Veränderungen angestoßen werden können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin