Volksbegehren Deutsche Wohnen & Co enteignen: Demokratie wagen
Die Enteignung wird als revolutionär abgestempelt, dabei ist sie eine Reform. Das vergisst die SPD beim Volksbegehren.
Am Freitag startet das Berliner Volksbegehren Deutsche Wohnen & Co enteignen in die nächste Phase. 175.000 Unterschriften müssen in vier Monaten gesammelt werden, um die Vergesellschaftung jener Wohnungsunternehmen weiter voranzutreiben, die mehr als 3.000 Wohnungen in der Stadt besitzen. 243.000 Wohnungen würden so – gegen Entschädigung! – in kommunale Verwaltung übergehen und den für Menschen mit Gering- oder Normaleinkommen existenziell bedrohlich gewordenen Wohnungsmarkt in der Hauptstadt entlasten.
Beständig versuchen stolze Neoliberale dieses Volksbegehren zu delegitimieren. Das Schreckgespenst Kommunismus wird wieder aufgerufen und sogar vor Vergleichen zur „Arisierungspolitik“ der Nazis schreckte Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt in diesem Kontext nicht zurück. Er reproduzierte das antisemitische Bild der „reichen Juden“, die besonders von der Berliner Enteignung betroffen wären.
Auch Sozialdemokrat*innen tun sich schwer mit der Initiative. Die Verhandlungen von DW & Co enteignen mit der rot-rot-grünen Landesregierung scheiterten vor allem an der SPD. Das ist unverständlich, denn entgegen seinem Image ist das Volksbegehren keine Revolution – die mit der SPD ja tatsächlich nicht mehr zu machen wäre –, sondern eine Reform.
Innerhalb des Grundgesetzes soll die in Artikel 15 angelegte Enteignungsmöglichkeit aktualisiert werden, die etwa für Autobahnen längst Anwendung findet. Und der erste Teil des 28. Artikels der Berliner Landesverfassung soll endlich ernst genommen werden: „Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenen Wohnraum. Das Land fördert die Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum, insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen, sowie die Bildung von Wohnungseigentum.“
Zentrales Projekt der SPD
Um dieses Recht besser zu verwirklichen, ergriff die Enteignungsinitiative das ebenfalls verfassungsmäßige Mittel eines Volksbegehrens. DW & Co enteignen zeigt damit auch, wie viel politische Teilhabe und direkte Demokratie in der bestehenden Ordnung möglich sind. Allein dafür sollten die Staatsorgane dankbar sein, denn sie sind auf den Glauben in das Problemlösungspotenzial der Demokratie angewiesen. Die rot-roten Privatisierungen der Vergangenheit haben in Berlin zu solchem Glauben nicht gerade beigetragen.
Im späten 19. Jahrhundert hingegen war mehr Demokratie noch das zentrale Projekt der SPD. Es überlagerte sogar die besonders in Berlin dramatische „Arbeiterwohnungsfrage“. Stimmen, die mit einer Erweiterung des Enteignungsrechts und kommunalem Wohnungsbau eine Antwort auf überfüllte Mietskasernen und auf die Massenobdachlosigkeit geben wollten, konnten sich zunächst in der Arbeiterpartei nicht durchsetzen. Praktische Reformvorschläge würden das „Volk von Berlin“ dazu verleiten, von den „aus dem Dreiklassenwahlsystem zusammengesetzten städtischen Behörden Almosen“ zu erbetteln, hieß es 1872 auf einer „Volksversammlung“.
Doch nicht nur das Wahlsystem nach Steuerklasse und Bismarcks „Sozialistengesetze“ verhinderten im Kaiserreich die politische Teilhabe der Arbeiter*innenschaft. In Berlin, wie in fast allen Teilen Deutschlands galt das „Hausbesitzerprivileg“. Demnach sollten die Hälfte aller Stadtverordneten über Grund- und Hausbesitz verfügen. Eine Mehrheit von „Sozen“, die größtenteils zur Miete wohnten, konnte so von vornherein verhindert werden.
Keine neuen Ideen
Hugo Heimann, ein jüdischer SPD-Abgeordneter und engagiert im sozialliberalen Asylverein für Obdachlose, baute deshalb im Berliner Wedding die „Roten Häuser“. Heimann übertrug SPD-Kandidaten den Besitz daran und ermöglichte damit ihre Wahl ins Stadtparlament. Trotz ihres bürgerlichen Hintergrunds und der Beziehungen zu liberalen Sozialreformern lehnten Heimann und sein Freund, der damalige Fraktionsvorsitzende Paul Singer, Kompromisse mit dem monarchischen Klassenstaat und den bürgerlichen Parteien ab.
Die Reformen, die sie praktisch umsetzten, waren ihnen kein Ersatz für die Revolution. Der Revisionismus aber, der sich nach Singers Tod in der SPD durchsetzte, ermöglichte den Ersten Weltkrieg mit. Die dem Krieg folgende Revolution, die nicht nur das allgemeine und gleiche Wahlrecht brachte, sondern auch der Wohnraumversorgung Verfassungsrang gab und sozialen Wohnungsbau zum zentralen Projekt der Berliner SPD machte, war teuer erkauft. Die Nazis wiederum hatten keine neuen Ideen, um die Wohnungsfrage zu lösen, außer eben die rassistische „Arisierung“. Hugo Heimann musste ins Exil fliehen, seine Tochter wurde ermordet.
Heute entdecken auch die Neonazis vom III. Weg die Wohnraumfrage für sich. DW & Co enteignen hingegen bietet eine direktdemokratische und nichtrassistische Antwort auf die so drängende Wohnungsfrage. Leider ist die Abstimmung darüber an die deutsche Staatsbürgerschaft gebunden und lässt damit viele von denen außen vor, die in Berlin besonders von Verdrängung betroffen sind. Eine Revolution wäre es, die Verfassung insoweit zu ändern, dass auch Nachbar*innen ohne deutschen Pass eine Mitsprache bei dieser existenziellen Frage hätten.
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