Völkerrechtler zum Krieg im Nahen Osten: „Müssen Rechtsverstöße benennen“
Der Terror der Hamas erlaubt es Israel nicht, mit gleichsam illegalen Mitteln zu antworten, sagt der Völkerrechtler Wolff Heintschel von Heinegg.
taz: Herr von Heinegg, nach dem furchtbaren Angriff der Hamas auf israelische Zivilisten am 7. Oktober hat Israel erklärt, nunmehr die Struktur der Hamas insgesamt zerstören zu wollen. Ist das durch das völkerrechtlich verbriefte Recht auf Selbstverteidigung gedeckt?
Wolff Heintschel von Heinegg: Da muss man sehr vorsichtig sein, denn die Hamas ist eine sehr heterogene Organisation. Wenn wir darüber reden, meinen wir den militärischen Flügel der Hamas – und den zu zerstören, wäre nicht nur legitim, sondern auch legal.
Der 66-Jährige ist Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Völker- und Europarecht, an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
Nun gibt es das vieldiskutierte Problem, dass die Hamas ihre militärischen Einrichtungen in zivilen Gegenden und Gebäuden im ohnehin dicht besiedelten Gazastreifen unterbringt. Insofern erscheint es doch ausgeschlossen, die militärischen Strukturen der Hamas zu bekämpfen, ohne zivile Menschenleben zu gefährden. Wie kann Israel aus diesem Dilemma herauskommen?
Ich räume ein, dass das ein Dilemma ist. Aber um jedem Missverständnis vorzubeugen: Es ist nach dem humanitären Völkerrecht nicht verboten, bei Angriffen gegen zulässige militärische Ziele auch Zivilpersonen oder zivile Objekte in Mitleidenschaft zu ziehen. Das wird leider allzu häufig missverstanden. Die Regel, die im Übrigen für Israel als Nichtvertragsmitglied der Genfer Zusatzprotokolle gar nicht verbindlich ist, besagt nur, dass bei einem Angriff auf ein zulässiges militärisches Ziel, bei dem zu erwarten ist, dass Zivilpersonen oder zivile Objekte in Mitleidenschaft gezogen werden, diese sogenannten Kollateralschäden nicht in einem exzessiven Missverhältnis zum angestrebten militärischen Erfolg stehen dürfen. Selbst hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung müssen also nicht per se rechtswidrig sein.
Kann denn in der Situation des dicht besiedelten Gazastreifens eine solche Verhältnismäßigkeit überhaupt gewahrt bleiben?
Wie gesagt, es ist ein Exzessverbot, es geht nicht um Verhältnismäßigkeit im allgemeinen Sinne. Aber Sie haben völlig recht: In so einem Gebiet mit der Größe von Bremen, aber einem Vielfachen von Einwohnern ist das natürlich unglaublich schwierig. Allerdings muss man auch sehen, dass die Zivilbevölkerung in Gaza ja nicht nur von den Israelis in Mitleidenschaft gezogen wird, sondern die Hamas ja auch einiges dafür tut, um die Zahl der zivilen Opfer möglichst weit nach oben zu treiben.
Inwiefern?
Die Leute werden daran gehindert, in den Süden auszuweichen, was ja heute auch in den Medien berichtet worden ist. Und aus vorherigen Konflikten gibt es Videos, in denen man sehen kann, wie Zivilpersonen in Gaza unter physischer Gewalt gezwungen wurden, sich in Häuser zu begeben, bei denen die israelische Armee angekündigt hatte, sie anzugreifen. Auch das ist nichts Neues.
Amnesty International hat in der vergangenen Woche die Evakuierungsanordnung des nördlichen Gazastreifens durch Israel als völkerrechtswidrig kritisiert, weil sie einer Zwangsvertreibung der Zivilbevölkerung gleichkommen könne. Teilen Sie diese Auffassung?
Im Völkerrecht geht es um Deportationen oder zwangsweise Umsiedlungen. Die sind einer Besatzungsmacht in der Tat verboten. Jetzt kann man lange darüber streiten, ob der Gazastreifen besetztes Gebiet ist oder nicht, aber nehmen wir das einfach einmal an. Man kann auch darüber diskutieren, ob hier überhaupt eine Deportation oder Zwangsverlegung vorliegt, denn Israel hat der Bevölkerung ja nur gesagt, dass sie lieber in den Süden gehen sollte. Aber da die Ankündigung von Gewalt implizit mitschwingt, kann man da Zwang sehen. Aber selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sagt, dass dieses Verbot nicht mehr gilt, wenn es der Sicherheit der betroffenen Zivilpersonen dient oder überragende militärische Gründe dies fordern. Und hier haben die Israelis gute Argumente auf ihrer Seite. Denn sie wollen ja gerade diese Zivilpersonen nicht in Mitleidenschaft ziehen, wenn sie im Norden des Gazastreifens militärische Operationen durchführen.
Schon kurz nach den Angriffen am 7. Oktober hat Israel den Gazastreifen komplett abgeriegelt, die Wasser- und Lebensmittelversorgung eingestellt und die Grenzübergänge vollständig geschlossen. Es gab diejenigen, die das in Verbindung mit den einsetzenden Bombardements für eine völkerrechtswidrige Kollektivbestrafung erklärt haben.
Schon das Konzept ist fehl am Platze. Dieser Begriff der Kollektivstrafe wird immer wieder gerne benutzt, aber das ist ein völlig anderer Rechtsbereich. Wir müssen über das humanitäre Völkerrecht reden, wie es in bewaffneten Konflikten Anwendung findet. Und da besteht große Einigkeit darüber, dass es verboten ist, der Bevölkerung vorsätzlich lebensnotwendige Güter vorzuenthalten. Soviel ich weiß, hat Israel das auch revidiert und die Wasserlieferungen wieder aufgenommen …
… aber nur für den Süden des Gazastreifens, um einen Anreiz zu schaffen, den Norden zu verlassen.
Klar, aber Sie müssen die Gesamtsituation betrachten. Allein, dass in einem Teil des kleinen Gazastreifens die Wasserversorgung gestoppt wird, bedeutet nicht, dass der Bevölkerung insgesamt lebensnotwendige Güter vorenthalten werden. Ich kann das von hier aus allerdings nicht wirklich beurteilen – ich weiß nicht, ob die Abhängigkeit von den Wasserlieferungen so groß ist, dass die Bevölkerung im Norden des Gazastreifens nach einigen Tagen des Wasserentzugs krank wird oder gar stirbt.
Es gibt ja auch ein komplettes Verbot der Treibstoffeinfuhr. Die Krankenhäuser im Gazastreifen, die ob der vielen Verletzten ohnehin überfüllt sind, berichten, dass sie bald ihre Generatoren nicht mehr betreiben können und sprechen von einer humanitären Katastrophe. Die Krankenhäuser im Norden sagen, dass sie gar nicht Richtung Süden evakuieren können angesichts der Vielzahl von Patienten. Ist diese Belastung von Zivilisten noch im völkerrechtlichen Rahmen?
Wir kennen die Situation am Boden nicht hinreichend. Aber grundsätzlich ist sicherzustellen, dass Krankenhäuser, egal wen sie behandeln, weiterhin funktionieren. Und wenn sie nur mit Generatoren funktionieren, dann besteht nicht nur eine Verpflichtung, sie nicht anzugreifen, sondern auch ihre Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Das würde zum Beispiel Treibstofflieferungen einschließen.
In politischen Debatten wird oft argumentiert, man könne einen Gegner wie die Hamas, der sich erkennbar an kein Völkerrecht hält, nicht unter Einhaltung aller Regeln bekämpfen. Was sagen Sie dazu?
Vor diesem Argument kann ich nur warnen. Ich habe das im Übrigen von israelischer Seite aus auch noch nie gehört. Das Argument ist an den Haaren herbeigezogen und widerspricht nicht nur dem Recht, sondern auch der Staatenpraxis. Das humanitäre Völkerrecht findet gleichmäßig auf alle Konfliktparteien Anwendung. Es kann nicht eine Konfliktpartei erklären, sich darum nicht mehr zu scheren, weil es der Gegner auch nicht tue. Die gleichmäßige Anwendung des humanitären Völkerrechts ist die Grundvoraussetzung dafür, dass es überhaupt seine Notfunktion erfüllen kann. Das Völkerrecht hält ja Regeln für eine Situation vor, die es eigentlich gar nicht geben sollte, nämlich bewaffnete Konflikte. Wenn man diese Regeln jetzt noch mal in Frage stellt, ist das das Ende des humanitären Völkerrechts.
Vom US-Angriff auf den Irak bis zum russischen Angriff auf die Ukraine: Ist das Völkerrecht in den vergangenen Jahrzehnten nicht schon so oft verletzt worden, dass es ohnehin sehr zahnlos geworden ist? Zumal es zwar eine Gerichtsbarkeit gibt, die aber keine Durchsetzungsmöglichkeiten hat.
Und die Gerichtsbarkeit, der Internationale Gerichtshof in Den Haag gilt auch nur für diejenigen Staaten, die sich ihm unterworfen haben. Im Übrigen: Ja, das Völkerrecht wird immer mal wieder außer Acht gelassen oder sogar vorsätzlich verletzt. Aber das ist kein Zeichen dafür, dass das ganze Recht obsolet geworden oder hinfällig sei. Auch im nationalen Recht gibt es immer Rechtsverstöße – okay, wir können sie mithilfe der Polizei auch verfolgen, was international so nicht ist. Aber vor allem: Das humanitäre Völkerrecht wird von Staaten gemacht. Und die Staaten können auch durch eine Änderung ihrer Praxis und ihrer Vertragsanwendung zu einer Änderung und Weiterentwicklung – oder Rückentwicklung – des Völkerrechts beitragen. Im Völkerrecht ist nichts in Stein gemeißelt.
Aber ist denn dann der Verweis auf eine Völkerrechtsverletzung oder der Appell, sich an das Völkerrecht zu halten, in Konflikten wie jetzt zwischen Israel und Gaza überhaupt noch etwas wert?
Natürlich! Das ist sogar unsere verdammte Pflicht! Nicht nur als Völkerrechtler, sondern auch als Regierungen. Da aus politischer Rücksichtnahme oder schlichter Feigheit zurückzuscheuen, sollten wir tunlichst unterlassen! Wir müssen Rechtsverstöße benennen, und zwar ausdrücklich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus