Verquerer Protestmix in Stuttgart: Deutschlands größte Corona-Party
An zahlreichen Orten protestierten Menschen am Samstag gegen den Corona-Lockdown. Der Schwerpunkt der Demonstrationen lag in Stuttgart.
Schwerpunkt der Proteste war Stuttgart. Dort hatten Demonstranten sogar die Wahl gehabt zwischen zwei Veranstaltungen – wenn auch mit höchst unterschiedlicher Intention. Wer gegen Ungerechtigkeiten bei der Lastenverteilung in der Coronakrise demonstrieren wollte, konnte zu einer eilends von der Gewerkschaft Verdi, den Fridays for Future, der Linkspartei und antifaschistischen Gruppen organisierten Kundgebung vor dem Cannstatter Kurhaus gehen – und damit gleichzeitig ein Statement gegen Rechts und gegen Verschwörungsideologen abgeben.
Man konnte sich aber auch einer wilden Mischung aus besorgten Bürgern und Verschwörungsideologen fast aller politischen Schattierungen anschließen. Zu deren Veranstaltung hatte keine Partei oder Gewerkschaft, sondern der Unternehmer Michael Ballweg aufgerufen.
Schon am frühen Nachmittag ist klar, die weitaus höhere Anziehungskraft hat die digitale Graswurzelbewegung von Ballweg. Gegen 15.30 Uhr ist das Stuttgarter Festgelände auf dem Cannstatter Wasen voll mit Menschen. Manche von ihnen tragen das Grundgesetz um den Hals, Deutschlandfahnen flattern neben Pace-Fahnen im Wind.
Andere kommen mit selbstgebastelten Transparenten, mit Aufschriften wie: „Wegen 137 Toten zerstört die Politik die Psyche der Menschen“, „Wir sind nicht die Sklaven der Diktatur Angela“. Vor allem fallen viele T-Shirts auf deren Träger Bill Gates und seine Stiftung hinter dem Corona-Lockdown vermuten: „Gib Gates keine Chance“, oder noch geschmackloser „Kill Bill“ ist da zu lesen.
Mehr als 10.000 Teilnehmer
Auf 10.000 Teilnehmer hatte die Stadt Stuttgart die Zahl der Demonstranten wegen des Infektionsschutz begrenzt. Aber man muss kein Freund der Bewegung sein, um die Zahl der Teilnehmer auf wesentlich mehr zu schätzen. Auch aus der Region sind Leute angereist. In den kommenden Wochen könnte sich die Demo als größte Corona-Party Deutschlands herausstellen.
Zwar haben die Organisatoren weiße Kreuze im Abstand von zwei Metern auf den Boden gesprayt, doch vor allem vor der Bühne wird es trotzdem eng. Und unter den einzelnen Gruppen, die angeben, zum gleichen Haushalt zu gehören, werden gern demonstrativ Hände geschüttelt und umarmt. Familien mit Kindern haben sich mit Klappstühlen und Decken niedergelassen, eine Frau markiert den Corona-Sicherheitsabstand mit einem Hulahup-Reifen.
Die Menge, die sich bei Sonnenschein versammelt hat, sieht aus, als hätte jemand Pegida-Klientel mit linken Protestbewegungen verquirlt. Am Rande wird meditiert und zum Frieden aufgerufen; Impfgegner und Tierfreunde treffen auf Leute, die sagen, es sei ihre erste Demonstration. Darunter viele Kleinunternehmer, Gastronomen, Friseure, die stolz ihr Firmenlogo auf Mütze oder Poloshirt gedruckt haben. Leute, die die Krise in ihrer Existenz trifft.
Aber man erkennt auch geübte Demonstrationsgänger. Darunter Rechtsextreme, die etwa Jürgen Elsässers Compact-Magazin verteilen. Die Rechten stehen etwas unentschlossen herum, während von der Bühne „We shall overcome“ gesungen wird, die Hymne der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Die Mischung könnte altgediente Grüne entfernt an ihren Gründungsparteitag 1980 in Karlsruhe erinnern, wo ebenfalls Bürgerliche und Esoteriker auf Linke und Ganzrechte trafen.
Doch um so eine solch amorphe Menge zu einer echten Protestbewegung zu formen, braucht es politische Köpfe, wie sie die Grünen damals hatten. Der Initiator der „Querdenken“-Bewegung, der Digital-Unternehmer Ballweg, ist das erkennbar nicht. Auch der Sinzheimer Internist Bodo Schiffmann und der Leipziger Rechtsanwalt Ralf Ludwig, die Ballweg unterstützen und im Netz angeblich eine Corona-Protestpartei gegründet haben, machen nicht diesen Eindruck.
Wissenschaftler „weitgehend korrumpiert“
Was auch immer die Versammelten ansonsten trennen mag, sie alle verbindet ihre bisweilen fanatische Gegnerschaft zum Lockdown. So beschimpft der Hannoveraner Professor Stefan Homburg von der Bühne herab unter Jubel, Wissenschaftler, die die Regierung in der Corona-Krise beraten, als „weitgehend korrumpiert“. Homburg, der als Ökonom im Staatsdienst gerne mal Rentenkürzungen fordert, schreckt auch vor Nazi-Vergleichen nicht zurück. Seit Corona verstehe er besser, was 1933 bei der Machtergreifung passiert sei.
Zweifelhafter Höhepunkt des Nachmittags ist Ken Jebsen, ein digitaler Wanderprediger, der auf seinem Youtube-Kanal immer wieder Verschwörungstheorien verbreitet. Ein Lob auf das Grundgesetz verbindet er mühelos mit der Behauptung, dass Deutschland seit 1949 nur eine „Demokratiesimulation“ sei.
Jebsen, der sich mit der rätselhaften Formel „Ich bin Ken Jebsen, meine Zielgruppe bleibt der Mensch“ vorstellt, ist dabei selbst so etwas wie eine Politiksimulation. Er verschwindet nach wenigen Minuten von der Bühne, weil er, wie er sagt, mit den Menschen „auf Augenhöhe sprechen“ wolle.
Der nun unsichtbare Jebsen warnt dann vor einer angeblichen Impfpflicht. Sie nutze angeblich nur einem, dem amerikanischen Milliardär Bill Gates, der das alles von langer Hand eingefädelt habe.
Michael Ballweg sagte vorab, er wisse, dass Jebsen umstritten sei. Dann nennt er den ebenso schlichten wie populistischen Grund, warum er ihn dennoch Reden lässt: „Jemand, der mit einem Youtube-Video 2,7 Millionen Menschen erreicht, ist qualifiziert, seine Meinung zu sagen.“
Richtigstellung: In einer früheren Version haben wir geschrieben, dass der Hannoveraner Professor Stefan Homburg von der Bühne herab unter Jubel Wissenschaftler, die die Regierung in der Corona-Krise beraten, als „allesamt korrumpiert“ beschimpfte. Diese Darstellung war falsch. Er sagte „weitgehend korrumpiert“.
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