Entscheid des Verfassungsgerichtshofs: Volksbegehren „Berlin autofrei“ ist zulässig
Schlappe für den Senat: Das Volksbegehren „Berlin autofrei“ ist laut Verfassungsgericht zulässig. Nun ist das Abgeordnetenhaus am Zug.

„Das Verfassungsgericht hat nicht entschieden, ob Berlin autofrei wird“, stellt Selting klar. „Sondern ob das Verfahren dazu eingeleitet werden kann.“ Und das haben die Richter*innen mit einer deutlichen Mehrheit von acht zu einer Stimme bejaht. Als Nächstes muss sich nun das Abgeordnetenhaus mit dem Gesetzentwurf beschäftigen.
Vier Monate haben die Abgeordneten dafür Zeit. Lehnen sie ihn ab, startet eine zweite Unterschriften-Sammelphase, bei der die Initiative innerhalb von vier Monaten Unterschriften von 7 Prozent der Berliner Wahlberechtigten sammeln muss, also rund 175.000. Sind sie damit erfolgreich, könnte es 2026 zum Volksentscheid kommen.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass nach einer Übergangszeit von vier Jahren innerhalb des S-Bahn-Rings Privatleute nur noch zwölf Fahrten pro Kopf und Jahr unternehmen dürfen – später dann nur noch sechs. Dabei soll es zahlreiche Sondergenehmigungen für Wirtschaftsverkehr und besondere Bedarfe geben, auch Taxis bleiben erlaubt. 50.000 Unterschriften hatte die Initiative im August 2021 für eine autoreduzierte Innenstadt gesammelt.
Die Innenverwaltung hält den Gesetzentwurf für grundgesetzwidrig und hatte ihn 2022 dem höchsten Gericht Berlins zur Prüfung vorgelegt. Und jetzt eine herbe Schlappe erlitten.
Gesetzentwurf „angemessen und verhältnismäßig“
In allen Punkten widersprach das Gericht der Argumentation des Senats. Demnach ist das Vorhaben der Initiative kein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit und sowohl angemessen als auch verhältnismäßig. Auch falle es durchaus in die Gesetzgebungskompetenz des Landes Berlin, da es um das Ob und nicht das Wie gehe, so Gerichtspräsidentin Selting. „Es wird neu bestimmt, welche Nutzungen zulässig sind.“ Und das falle unter das Straßenrecht des Landes – und nicht das Straßenverkehrsrecht des Bundes.
Die Vertreter*innen des Senats wollten sich nicht zu dem Urteil äußern. Der Anwalt der Initiative zeigte sich hingegen zufrieden: „Es gibt nach der Verfassung natürlich kein Grundrecht auf hemmungsloses Autofahren. Jetzt kommt der Verkehrsentscheid endlich wieder ins Rollen“, so Philipp Schulte.
„Wir haben gewonnen, und zwar auf ganzer Linie: Die Zukunft Berlins gehört der Sicherheit, dem Klimaschutz und der Gesundheit aller Berlinerinnen und Berliner – und nicht dem hemmungslosen Autoverkehr“, so die Sprecherin von Berlin autofrei, Marie Wagner. Sie ist vor allem froh, dass die Initiative endlich weitermachen kann. Angesichts der vielen Verkehrstoten und der Klimakrise sei es höchste Zeit: „Jetzt müssen wir die Berliner Verkehrspolitik aus dem Rückwärtsgang herausholen und endlich mit der Verkehrswende vorankommen“, so Wagner.
Die Initiative stellt sich auf eine weitere Unterschriftensammlung ein. „Wir gehen nicht davon aus, dass das Abgeordnetenhaus das Gesetz annehmen wird.“
Alle Parteien zeigen sich skeptisch
Danach sieht es auch tatsächlich nicht aus. Neben SPD und CDU zeigen sich auch die Berliner Grünen skeptisch. Sie fürchten, „dass Menschen, die derzeit noch ein Auto besitzen, sich überrumpelt fühlen“, so die Landesvorsitzenden Nina Stahr und Philmon Ghirmai am Mittwoch. „Wir teilen einerseits das Ziel, Berlin lebenswerter zu machen, sehen aber andererseits den Weg der Initiative kritisch“, hieß es weiter.
Ein weitreichendes Verbot von Autos im Innenstadtbereich könne zu einer Polarisierung zwischen Innen- und Außenstadt führen. Die Grünen sprechen sich stattdessen für eine Verkehrswende aus, „die alle mitnimmt“: „Der Volksentscheid bietet eine Chance, nun einen Prozess zu starten, bei dem gemeinsam über die Parteigrenzen hinweg und mit der Initiative zusammen ein Konsens in der Verkehrspolitik erarbeitet wird.“
Auch von der Berliner Linken sind kritische Stimmen zu hören. Zwar teile man das übergeordnete Ziel, den Autoverkehr zu reduzieren und damit Verkehrssicherheit, Luft- und Lärmbelastung zu verbessern sowie Emissionen zu reduzieren, so der verkehrspolitische Sprecher Kristian Ronneburg. Man wolle jetzt mit der Initiative das Gespräch suchen, wie und mit welchen Mitteln dieses Ziel erreicht werden kann. „Dabei gilt es auch kritische Punkte wie zum Beispiel den enormen bürokratischen Aufwand der Maßnahmen des Gesetzentwurfs zu diskutieren“, so Ronneburg am Mittwoch.
Der Chef des Fußgängervereins Fuss, Roland Stimpel, hält den Gesetzentwurf für eine autoreduzierte Innenstadt hingegen für den richtigen Weg. Die Idee, Zwang gegen das Auto statt Zwang durchs Auto sei verständlich: „Nur eine Minderheit in der Innenstadt fährt Auto, aber sehr viele Menschen erleben den Autoverkehr selbst als Zwang. Sie fühlen sich gefährdet, beengt, von Lärm und Abgasen gequält, an der Mobilität zu Fuß, in Bus und Tram oder auf dem Rad behindert“, so Stimpel. Senat, Parteien und Volksbegehren sollten einen Konsens suchen. „Das ist möglich – mit einem Maß an Autoverkehr, das für die Mehrheit der Menschen verträglich ist.“
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