Veränderung in der Landwirtschaft: Bauer sucht Zukunft
Es gibt immer weniger Bauern, und sie werden älter. Die Gesellschaft aber wünscht sich bessere und gesündere Produkte. Brauchen wir neue Bauern?
Huhu, guckt mal, meine neuen Gummistiefel!“, ruft Paula und hüpft in hohen Sätzen über das matschige Feld, dass die Erde quietscht. Ihr Lachen übertönt für einen kurzen Moment die Reggaemusik aus der Boombox, die einige Meter entfernt aus einer Plastiktüte herauslugt.
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Ein dunkler, wolkenverhangener Januartag auf einem Feld kurz vor Frankfurt/Oder: Schnee bedeckt die langen Reihen von Hackschnitzeln, an denen sieben Menschen Erde ausheben und junge Bäume pflanzen. Es ist so ein Tag und ein Wetter, dass man glücklich ist, drinnen und in der Nähe eines Sofas zu sein, selbst bei Corona. Nicht so diese jungen Leute auf dem Feld.
Schaut man in die Gesichter über den schlammverkrusteten Jacken und Overalls, dann spiegelt das Lächeln einen sonnigen Junitag wider. Und Paula Schwartau, 23, Pflanzhelferin, strahlt besonders. Jemand hat ihr mit Neopren gefütterte warme und wasserdichte Stiefel aufs Feld gebracht. Sie streift die dicken Gummihandschuhe über, greift in die klamme Erde und drückt die nächsten Jungbäume fest, eine Walnuss, einen Meter weiter eine junge Elsbeere, dann einen Speierling, Sanddorn, auch Hasel und Rose.
Was hier entstehen soll, ist der Gegenentwurf zu vielen umliegenden Äckern – bis zum Horizont dehnt sich die Monotonie der aufgebrochenen, weiß verkrusteten Erde. Ein „Habitat“ nennt es Renke de Vries, der der Planer dieses Feldversuchs ist. Das Feld hier soll einmal Kühe, Hühner und vielleicht auch Ziegen ernähren und dabei auch etwas für den Menschen abwerfen: Früchte und Holz. Gleichzeitig soll das Feld CO2 im Boden binden und den Folgen der Klimakatastrophe trotzen, die hier schon seit Jahren spürbar sind. Ostbrandenburg gehört zu den trockensten Regionen Deutschlands.
Das Feld ist Teil des Schlossguts Alt Madlitz. Hier findet ein besonderes Experiment statt, „das einzige in Europa, das ich kenne“, sagt de Vries. Der 27-Jährige mit Rastafrisur spricht über eine Landwirtschaft, die in ein sich selbst regenerierendes System eingebunden ist, das auf Vielfalt setzt und ohne Dünger, Bewässerung und große Maschinen auskommt.
Der Kopf dahinter heißt Benedikt Bösel, der Geschäftsführer des Hofs. „Es ist Zeit“, sagt er, „dass wir uns von dem exploitativen Verständnis von Landwirtschaft verabschieden. Dass das klappt, will ich hier beweisen.“ Er sagt das auch, weil er ein Bauernsohn ist, der lange nicht Bauer sein wollte. Trotz seiner 36 Jahre ist er ein Spätberufener.
Bösel gehört zu einer neuen Generation von Landwirten, die ihren Beruf lieben, aber mit dem Ansehen ihres Berufsstandes hadern. Die sich um das Wohl ihres Betriebes, ihrer Mitarbeiter und ihrer Tiere sorgen, aber auch um Umwelt- und Klimaschutz. Die ihrem Metier wieder eine Zukunft geben wollen.
Und das ist dringend nötig. Es sind zwei Zahlen, die besonders deutlich machen, wie die Aussichten der deutschen Landwirtschaft abseits der jährlichen Ernteerträge, Schlachtzahlen und Exportleistungen sind: die Zahl der Höfe, die Jahr um Jahr abnimmt, und das Durchschnittsalter derer, die die Höfe noch betreiben. In den letzten zehn Jahren hat jeder zehnte Bauer aufgegeben, derzeit gibt es noch 267.000 Höfe in Deutschland. Und die Betriebsinhaber werden immer älter, Mitte 50 sind sie heute im Durchschnitt, nur ein Viertel ist jünger als 45 Jahre.
Benedikt Bösel, Alt Madlitz
Kein Sektor in Deutschland ist so überaltert wie die Landwirtschaft. Und gleichzeitig wollen immer mehr Menschen anders und gesünder essen und mit ihren Konsumentscheidungen eine nachhaltige Zukunft beeinflussen. Die traditionelle Landwirtschaft, einer der großen CO2-Verursacher und Insektenkiller, passt nicht mehr in dieses Bild. Gleichzeitig müssen sich Bauern die Frage stellen, wie sie in Zukunft – angesichts der durch Klimaveränderung und Krankheiten sinkenden Erträge – wettbewerbsfähig bleiben wollen.
Das bleibt die Ausgangssituation für die Landwirtschaftspolitik nach einem selten turbulenten Jahr, das nächste Woche mit der Grünen Woche in Berlin einen Stichtag bekommt, dessen Probleme dann aber nicht beendet sein werden. Teilweise im Wochentakt sind Landwirte, darunter auch viele junge, 2020 auf ihre Traktoren gestiegen und haben demonstriert anlässlich der Düngeverordnung, der Verhandlungen über Agrarsubventionen in der EU, der Dumpingpreise des Lebensmittelhandels oder der Debatte über Ernte- und Schlachthelfer.
Nicht von ungefähr stellt auch die wichtigste Landwirtschaftsmesse der Welt, die in diesem Jahr auf zwei Tage verkürzt und sehr virtuell stattfindet, die Zukunftsfrage. „Rooting for tomorrow“ – Wurzeln für das Morgen – heißt das Motto.
„Bauer“, sagt Benedikt Bösel, „ist so eine Art Schimpfwort geworden. Es ist nicht hip, es ist nicht cool.“ Aber wenn jemand wie ein cooler Bauer aussieht, dann Bösel selbst. Schlank, groß gewachsen, Vollbart, die Basecap umgedreht auf dem Kopf, die Hosen stecken in abgewetzten Chelsea-Boots.
Bösel hat einen weitreichenden Ansatz. „Beyond Farming“ nennt er diese Vision. „Unsere beste Chance, nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen, ist bei der Produktion von Lebensmitteln“, sagt er. „Aber in Zeiten, in denen die Herstellung von Lebensmitteln durch Einsatz von synthetischen Düngern, Pflanzenschutz und Monokulturen stark auf Kosten der Umwelt geht, leiden die Natur und die Qualität der Nahrungsmittel immer mehr unter den Eingriffen des Menschen.“
Und er fügt hinzu: „Die Verödung von überlebenswichtigem Ackerland, Wasserknappheit, der Verlust von Esskultur, die Entwicklung ländlicher Regionen – alles hängt unmittelbar damit zusammen, wie wir Landwirtschaft betreiben.“
Das Klima wird zum Schlüsselbegriff, wenn man mit Bösel spricht. Die Vorhersagen, dass hier, eben in einer der trockensten Gegenden Deutschlands, in 30 Jahren keine Landwirtschaft mehr möglich sein wird, bewegt ihn. Sie ist mit ein Grund, warum der Investmentbanker vor vier Jahren seinen Beruf an den Nagel hängte, auf das Gut seiner Familie zurückkehrte und damit begann, ein für diese Region passgenaues Modell von „regenerativer Landwirtschaft“ zu suchen. Denn er ist überzeugt: „Wir können die Probleme nur vor Ort lösen.“ Nicht in Berlin, nicht in Brüssel, vielleicht sogar nicht einmal so sehr im Supermarkt.
Alt Madlitz ist seit fast 300 Jahren im Besitz seiner Familie. Schon seit beinahe 20 Jahren wird es von den Eltern ökologisch bewirtschaftet, hauptsächlich mit Getreideanbau. Und früh stand fest, dass der Sohn einmal den Hof bewirtschaften sollte. Aber Biobauer war für Benedikt Bösel lange nicht das Ziel seiner Träume. Ihn zog es hinaus in die Welt, in die Metropolen, nach Großbritannien. Er wurde Banker. „Während der Finanzkrise sah ich, wie Menschen, die wochenlang vor Charts saßen, auf einmal an ihren Schreibtischen zu weinen anfingen.“
Das war für ihn der Moment, sich etwas Neues zu suchen, etwas Sinnstiftendes. Es war das erste Mal, dass er sich auf die Familiengeschichte besann. „Ich wollte mein Finanz-Know-how mit Landwirtschaft verbinden.“
Bösel studierte an der Berliner Humboldt-Universität Agrarökonomie, anschließend arbeitete er als Berater für Venture-Kapitalgeber bei Investitionen in Agrar-Start-ups. 2016 dann sei er spontan wandern gegangen, das erste Mal seit Jahren habe er freigehabt. Auf dem Jakobsweg habe er gespürt, es reiche ihm noch immer nicht, er müsse nach Hause.
Lange hat er sich mit der Frage beschäftigt, wie Landwirtschaft den Boden nicht nur ausbeutet, sondern auch wieder urbarer machen kann, eine Zeit lang hat er auf dem Gut auch Start-ups Platz gegeben. Für das Gut Alt Madlitz hat er die Antwort bei Ernst Götsch gefunden, einem Pionier der regenerativen Landwirtschaft. Der Schweizer Landwirt übernahm Anfang der 80er Jahre in Brasilien eine ausgedörrte Kakaofarm, die als unbrauchbar galt. Heute baut er die Frucht wieder genauso ertragreich an wie seine Nachbarn und hat in Brasilien schon Tausende Nachahmer gefunden.
Die Methode, die Götsch nutzte, nennt sich Syntropie. Vieles daran erinnert an die Permakultur, die darauf setzt, dass die Natur Systeme organisiert, die sich selbst stützen. Syntropie bezeichnet die vergesellschaftete Lebensweise verschiedener Organismen. Es ist eine Mischung aus Wald und Feld. Pflanzen und Bäume werden mit Tieren kombiniert.
Solch eine Fläche soll dort entstehen, wo Paula Schwartau und Renke de Vries Bäume eingraben. „Es ist eigentlich ein Dschungel, den wir hier pflanzen“, sagt Rosanna Gahler, 24, die die Jungbäume im Meterabstand auf dem Feld verteilt. Man kann sich das wie eine große Kuhweide vorstellen, die mit Zäunen aus wildem Bewuchs in Flure unterteilt ist. Ganzjährig stehen dort Tiere, wechselweise Kühe, Ziegen, Hühner.
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Tatsächlich experimentiert Bösel auch bei den Kühen: „Mob Grazing“ beziehungsweise holistisches Weidemanagement heißt das Modell. Die Tiere werden nicht auf die gesamte Weide gelassen, sondern nur auf ein kleines, eingezäuntes Segment, dürfen aber täglich auf ein frisches Feld weiterziehen. Dort ist das Gras so hoch gewachsen, dass die Tiere den Bewuchs gar nicht ganz abweiden können, aber doch das meiste niedertrampeln.
„Die freuen sich jeden Morgen wie die Kinder“, sagt Bösel. „Und springen in die Luft, wenn sie auf die neue Fläche kommen.“ Die Kuh düngt mit ihren Ausscheidungen den Boden, das umgeknickte Gras wirkt wie eine Mulchschicht, die den Mikroorganismen im Boden noch zusätzliche Nahrung bietet.
So kann sich Humus bilden und CO2 im Boden gebunden werden, mehr als das Tier selbst verursacht. Bösel entwirft ein Bild vom Rind, das, wenn es im Massenstall steht, ein Klimakiller ist, so aber ein Klimaretter. Für Bösel ist dabei selbstverständlich: Der mit Billigpreisen gestützte Fleischkonsum ist so nicht zu halten.
Auch auf der syntropischen Fläche sollen die Kühe bald weiden, wechseln sie die Flur, folgen Hühner nach, für die auf dem Gut mobile Ställe entstehen. Die Leibspeise der Hühner sind Fliegenlarven, die sich in den Kuhfladen entwickeln. Beim Picken und Kratzen verteilen die Hühner den Dung auf der Fläche. Das hat viele Vorteile: für den Boden, auf dem, würden die Vögel ständig dort sein, nichts mehr wüchse; für die Kühe, die weniger Probleme mit den Fliegen haben; und für den Bauer, der sich so Futterkosten spart.
Auch in den natürlichen Zäunen steckt viel Überlegung. Erst einmal sind solche Hecken gut, um Erosion aufzuhalten. Sie schützen den Boden vor Wind und Sonne, richtig angelegt aber heben die Sträucher und Pflanzen auch den Grundwasserspiegel. Die aufeinander abgestimmten Pflanzen wachsen in vier Höhen: Hasel- und Sanddornsträucher, darüber Walnuss oder Mispeln, eine Etage weiter Speierling und Elsbeere.
Sie alle sollen einen Nutzen haben, als Holz, wegen der Früchte und als Futter für die Tiere. Was die Helfer gerade an zweijährigen Bäumchen in die Erde stecken, dient als Pionierpflanze für den restlichen Bewuchs. Zwischen die einzelnen Stämme haben sie Hunderte verschiedene Samen gesät. „Wir setzen auf die Kraft der Natur“, sagt Bösel, „und sind gespannt, was sich durchsetzt und was nicht.“
Wie Zukunft und wie Vergangenheit aussieht, das kann man auf dem Hof von Christian Vincke besichtigen. Er wechselt täglich zwischen dem Gestern und dem Morgen, und das bei einem Thema, das die Gemüter in der Landwirtschaft wohl mit am meisten bewegt: der Schweinezucht.
Schwarz wie kleine Walrücken heben sich die Tiere vom hoch gewachsenen Gras ab, als Vincke im Spätsommer seinen Hof im Münsterland zeigt. Es sind Ibérico-Schweine, eine ursprüngliche spanische Rasse, die er auf der Weide hält; berühmt für Schinken wie den Pata Negra oder den Bellota. Ein Schwein hat sich auf eine angrenzende Streuobstwiese geschlichen.
Es sucht nach den ersten Äpfeln, die vom Baum gefallen sind. „Mann, wie schnell die merken, wenn auf dem Draht kein Strom ist“, sagt Vincke seufzend und geht los, um den Ausbrecher wieder ins Gehege zu treiben. Auf seine Stimme hin erheben sich alle Tiere und drängen sich neugierig um den Bauern.
Christian Vincke, Alverskirchen
Dunkelgrau bis schwarz das Fell, wache Augen, kernige, gedrungene Körper. Nicht der Anblick, den man hier im Münsterland gewohnt ist, obwohl die Region die Schweinehochburg der Republik ist: Über vier Millionen Schweine werden hier gehalten, aber sie leben fast alle hinter Mauern. So wie auch bei Vincke. Rund 2.500 rosig-weiße Schweine hält Vincke noch immer im Stall.
Sie stehen auf Spaltenböden, meist im Halbdunkel. Im Laufe ihres Lebens wechseln sie höchstens mal die Buchten im Stall. Bis sie ihr Schlachtgewicht von etwa 120 Kilogramm erreicht haben, vergehen rund sieben Monate. Ganz konventionell.
Hätte man den 34-Jährigen vor ein paar Jahren gefragt, ob er einmal Schweine im Freiland halten werde, zwischen Eichen, mit großen Suhlen, Christian Vincke hätte sich wahrscheinlich an den Kopf getippt. Damals plante er mit seinem Vater gerade eine Hoferweiterung. Zu den rund 3.000 Schweinemastplätzen sollten noch einmal 160.000 Hühner hinzukommen, aufgeteilt auf vier Ställe.
Alles war quasi genehmigt, aber dann rebellierte die Nachbarschaft. Der Protest war so gewaltig, dass die Vinckes das Projekt wieder abbliesen. „Gut, dass es nicht geklappt hat“, sagt der Landwirt heute. „Ich habe damals viel gelernt.“
Heute plant er mit dem Erlernten die Zukunft. Für die Ibéricos, die er etwa einen Kilometer entfernt auf dem Resthof seines Onkels hält, baut er gerade eine baufällige Scheune zum Stall aus, hat in die Betonringe der alten Silos Öffnungen geschnitten und sie zu Luxussuhlen umgebaut.
Auf den Wiesen und unter den Eichen nebenan lebt die 80-köpfige Herde ganz nach ihrer Fasson. Die Tiere wühlen mit den Schnauzen in der Erde, nehmen ein Schlammbad, wenn sie nicht gerade den Bauern und seinen Besuch umringen, und versuchen, deren Schuhspitzen anzuknabbern. Vincke verteilt freundliche Klapse unter den Tieren.
Vinckes Idee ist, einmal ganz auf Ibérico umzustellen. Deswegen wächst seine dunkle Herde auf Kosten der anderen. Er nennt das die Metamorphose seines Betriebs. Die konventionelle Zucht finanziert den Umbau, gleichzeitig schrumpft die „normale“ Herde. „Das Vollwachstum führt in eine Sackgasse, die Bauern begeben sich immer mehr in Abhängigkeit. Wenn die Produktionseinheiten immer größer werden, wächst der Preisdruck.“
Was das heißt, hat er gemerkt, als Tönnies wegen Corona geschlossen war. „Pro Schwein haben wir 30 bis 40 Euro Verlust gemacht.“ Vincke setzt auf Klasse statt Masse. „Qualität ist dabei das Topargument“, meint er.
Bei den Ibéricos hat der Bauer da einiges Lehrgeld zahlen müssen. Denn es handelt sich um Fettschweine, im Gegensatz zu den Magerschweinen im Stall. „Das erste Tier haben die in der Schlachterei ausgelacht“, erzählt er. Es war eines der Ferkel, die er in Bayern für viel Geld erstanden hatte. „Normalerweise würden wir das in die Tonne schmeißen“, hätten die Schlachter gesagt. Fett, das ist heute nichts mehr für den normalen Verbraucher.
Das Fett ist aber für Gourmets das, was die Ibéricos so interessant macht. Denn die Tiere entwickeln gleichzeitig auch intramuskuläres Fett, das Fleisch ist dunkel und ähnlich marmoriert wie man es von Wagyu- und Kobe-Rindern kennt. Längst konkurriert es bei Fleischenthusiasten mit den besten Stücken vom Rind. Zu viel Fett sollen die Tiere aber auch nicht ansetzen, deshalb ist für die quirligen Edelschweine viel Auslauf unabdingbar. Und es gibt „gesundes Vollkorn“, sagt Vincke. Er mische Gerste, Mineralien und hochwertige Fette.
Vinckes Hof steht etwas außerhalb der Ortschaft Alverskirchen bei Münster. Er ist ein typisches westfälisches Backsteinensemble mit gigantischen Dächern, die wie umgedrehte Schiffe wirken, von Äckern umgeben, zwei hohe Getreidesilos strecken sich in den Himmel. Der Hof war einst ein klassischer Gemischtbetrieb.
Das erlaubt Vincke heute, das Futter für seine Tiere fast vollständig selbst anzubauen. In drei Gebäuden mit großen Abluftkaminen ist die konventionelle Schweinezucht untergebracht. In einem Aufzuchtstall hält er noch einmal um die 80 Ibéricos. Durch ein großes Panoramafenster können Besucher die Kinderstube besichtigen.
Der Vinckehof gilt auch in der konventionellen Zucht als Vorzeigebetrieb. Für das Tierwohl hat Vincke bei den Ibérico-Schweinen zusätzlich entschieden, die Schwänze der Ferkel nicht zu kupieren. Die Tiere dürfen mehr als doppelt so alt werden wie die konventionellen, zwölf bis 14 Monate, die meiste Zeit davon stehen sie auf der Weide. Im Stall hat er die Spalten in den Böden geschlossen.
Aber Vincke sieht auch Grenzen. Die Haltung der Tiere rein auf Stroh sieht er skeptisch. Er erzählt von einer der Sauen, die er einst über Ebay gekauft hat, um die Zucht zu beginnen. Weil sich die Klauen auf dem Stroh nicht abwetzten, sei dem Tier eine Hinterklaue wie ein Storchenschnabel gewachsen, es habe bis heute Schwierigkeiten beim Auftreten und Gelenkprobleme. „Da darf man die Klauenpflege nicht vernachlässigen.“
Während Vincke durch die Ställe führt, kommt er ungefragt auf viele strittige Themen in der Schweinehaltung zu sprechen. Ja, er schleife den erst ein paar Tage alten Ferkeln die Zähnchen, damit sie die Zitzen der Mütter nicht blutig bissen. „Da fließt kein Blut. Man nimmt einen kleinen Diamantschleifer wie für die Maniküre“, sagt er. Betäubungslose Ferkelkastration? Klar, das sei unangenehm für das Tier, aber nach spätestens zwei Tagen vergessen, meint er.
Und was sei die Alternative? Die Kastration sei unverzichtbar, ohne sie sei Eberfleisch wegen des Beigeschmacks unverkäuflich. Und stattdessen Hormone? „Wirklich? Nachdem Jahrzehnte über Hormone im Fleisch diskutiert wurde?“ Ein Betäubungsapparat koste 10.000 Euro. Und nicht selten wachen die jungen Schweine aus der Narkose nicht wieder auf. Für den Bauer gibt es keinen idealen Weg.
Offen ist er auch bei Kastenständen, einem der umstrittensten Themen der Tierwohldebatte. Für die Besamung und die Geburt werden die Mütter zwischen enge Stangen gesperrt, sodass sie stehen und liegen können, mehr nicht. In der Massenproduktion kann sich diese Fixierung auf viereinhalb Monate summieren. Viel zu lang, sagt auch Vincke, aber ganz ohne Kastenstand gehe es auch nicht. Er habe selbst erlebt, dass Sauen den Nachwuchs töteten oder unabsichtlich erdrückten, weil sie noch von der Geburt gestresst oder geschwächt gewesen seien.
Bei Vincke stehen die Sauen zusammengerechnet höchstens vier Wochen im Kastenstand. Und er versuche, es den Müttern so angenehm wie möglich zu machen. Etwa, indem er in der gläsernen Ferkelbucht zwei Ibérico-Sauen mit ihrem Nachwuchs zusammenstelle. Aber das sei ein Risiko. Erst am Morgen habe er ein erdrücktes Ibérico-Junges im Stall gefunden.
„Es geht nur über Transparenz“, sagt er. „Ich kann hier keine heile Welt vorgaukeln, wie es sich manch ein Verbraucher vielleicht wünscht.“ Das falle ihm irgendwann nur auf die Füße, sagt Vincke.
Kaspar Haller, Braunschweig
Von Nordrhein-Westfalen geht es nach Niedersachsen: Kaspar Haller ist einer, der sich nicht nur mit der Zukunft der Landwirtschaft auseinandersetzt, sondern mit der Zukunft des Landes selbst. Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts, rechnet er vor, hätten 85 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft gearbeitet, 1950 seien es 60 Prozent gewesen, inzwischen 1 oder 2 Prozent, je nach Region in Deutschland. „Überspitzt gesagt, haben wir nur noch 1 Prozent, das seinen Lebensmittelpunkt also auf dem Land hat“, sagt er. Er will das ändern.
Auf der Domäne Schickelsheim östlich von Braunschweig hat er gemeinsam mit seiner Frau Donata im Frühjahr einen Ort gegründet, der ein „Bindeglied“ sein soll. Die beiden nennen ihn den „dritten Ort“. Noch ist Haller dabei, den Gutskomplex umzubauen, um Flächen zu schaffen. Er hat eine Vision, aber keine Vorstellung, und das mit Absicht. Der 37-Jährige will seinen Hof öffnen: für Menschen, für Ideen und Unternehmen.
Das hat an diesem Ort Tradition. Obwohl Schickelsheim eine 900-jährige Geschichte hat, ist die Domäne vor 160 Jahren neu aufgebaut worden, die Landwirtschaft war Mitte des 19. Jahrhunderts im Niedergang begriffen. Gleichzeitig wurde ein großer Landschaftspark angelegt. Mit circa vier Hektar bildet die Domäne eine abgeschlossene kleine Ortschaft.
Vor mehr als elf Jahren hat Haller den Betrieb mit seiner Schwester übernommen, er hat in Göttingen und England Wirtschafts- und Sozialwissenschaften im Landbau studiert. 2010 gründete er einen Onlinelebensmittelhandel mit dem Ziel, Lebensmittel, die mit „handwerklicher Fürsorge“ hergestellt würden, zu vermarkten.
Nicht nur deswegen kommt das Gespräch mit ihm schnell auf das Thema Digitalisierung. Seit einem Jahr beherbergt die Domäne Schickelsheim das Praxis-Labor Digitaler Ackerbau der Niedersächsischen Landwirtschaftskammer. Hier werden Roboter getestet, die Unkraut jäten und Schnecken aufsammeln. In erster Linie geht es bei den Projekten um den Schutz der natürlichen Ressourcen: Wasser, Böden, Tiere, Artenvielfalt. „Wir wollen der Digitalisierung Raum geben, damit Veränderungen auch aufs Land kommen.“
Mit den neuen Technologien, meint er, werde es wegen des Faktors Nachhaltigkeit zu einer Verschmelzung von biologischer und konventioneller Landwirtschaft kommen. „Kein Landwirt ist gewillt, möglichst viel Gift auf seinen Acker zu spritzen. Das bedeutet Kosten und wird irgendwannunökonomisch und gleichermaßen unökologisch, sagt er.
Im Konzept für das Praxis-Labor ist auch ein Start-up-Campus vorgesehen. Vor allem anderen geht es Haller darum, langfristige Perspektiven zu entwickeln. Die Digitalisierung bringe auch mit sich, dass „wir in immer schneller werdenden Zyklen leben“, sagt er. „Politik und Gesellschaft kommen da kaum noch mit.“
Wegen dieser Überlegung will er den „dritten Ort“ nicht als Inkubator oder als Co-Working-Space verstanden wissen. Er möchte hier einen Zukunftsort entstehen lassen „Wir haben hier ein Fundament mit 150 Jahren Geschichte, deshalb planen wir für die nächsten 100 Jahre.“
Drei Bauern, drei neue Wege
Christian Vincke hat für sein Fleisch eine eigene Marke gegründet: Ibérico Westfalia. Er ist einer von ganz wenigen in Deutschland, die Ibérico züchten. Er hat andere Landwirte in der Umgebung für seine Idee begeistert, die Schweinezucht ganz neu, sinnvoller anzugehen. Weil die Nachfrage schon jetzt sein Angebot übersteigt. Und er hat auch Abnehmer in der Gastronomie gefunden, darauf ist er angewiesen.
Denn ein Schwein besteht nicht nur aus Schinken und Koteletts, Vincke will das ganze Tier vermarkten; Teile, mit denen Hobbyköche nichts anfangen können, Profis dafür umso mehr: Zunge, Herz, Maske. Und das Fett. Seine neueste Idee ist deswegen Gewürzschmalz – ein bisschen aus der Not geboren, gibt er zu. Er hat es „Crema d’Ibérico“ genannt.
Benedikt Bösel will in absehbarer Zeit unabhängig von Subventionen wirtschaften. Sein Modell begeistert junge, gut ausgebildete Menschen. Sie wollen in Alt Madlitz lernen und arbeiten. Bösel veranstaltet Workshops und hat im Mai ein Symposium der Gemeinschaft zu Gast.
Das ist ein inzwischen in ganz Deutschland wachsender Zusammenschluss aus Köchen und Produzenten, die sich mehr Achtsamkeit verschrieben haben – gegenüber der Natur, beim Arbeiten und beim Essen. Wenn das mit der regenerativen Landwirtschaft im trockenen Brandenburg klappt, sagt Bösel, „dann funktioniert es überall“.
Und Kaspar Haller? Ihn zieht es neben seinen anderen Projekten in die Politik. Er hat angekündigt, als Oberbürgermeister für Braunschweig zu kandidieren. Als Parteiloser, aber für die CDU. Durch Themen wie Klimawandel, Nachhaltigkeit und neue Mobilität würden Herausforderungen für unser soziales Miteinander entstehen, heißt es auf der Website des Kandidaten. Das wolle er zu Kernpunkten seiner Politik machen.
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