Ungerechtigkeit bei der Rente: Spiel mit gezinkten Karten
Menschen mit niedrigen Löhnen sterben früher und kriegen darum noch mal weniger Rente als Gutverdienende. Zeit für eine sozial gerechte Neuberechnung.
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M it schöner Regelmäßigkeit wird von konservativer und marktliberaler Seite an der gesetzlichen Altersrente herumgedoktert. Die FDP hat in den Koalitionsvertrag ein bisschen Aktienrente hinein verhandelt. Die soll aber zukünftig nicht etwa die Auszahlung erhöhen, sondern Beiträge einsparen helfen. Was Ulrike Herrmann in der taz berechtigterweise so kommentierte: „Manche Projekte sind so unsinnig, dass sie sofort depressiv machen“. Und die CDU verlangt, künftig das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu koppeln. Obwohl das Bezugsalter bereits mit der Zielmarke 67 Jahre ordentlich angehoben wurde – was nicht einmal CDU-Wähler für wünschenswert halten. Die sind nämlich überdurchschnittlich älter, kennen oder ahnen die damit einhergehenden Malaisen und wollen eigentlich nicht, dass die erste Rentenzahlung mit dem Kauf eines Rollators zusammenfällt.
Angeblich sei das alles der Generationengerechtigkeit wegen geboten. Beuten also die Alten die Jungen aus, verjubeln sie das hart erarbeitete Geld der Start-up-Kreativen auf Mallorca? Statistisch ist das ganz und gar unwahrscheinlich. Wenn es sich die Senioren auf Sylt oder Sansibar so richtig gut gehen lassen, dann sind das in Deutschland von Vermögen- und Erbschaftsteuer kaum belästigte Wohlhabende. Nicht aber der übliche Rentner, die übliche Rentnerin. Gerade hat die Linke von der Regierung dazu Auskunft verlangt. Ergebnis: In Deutschland bekommt aktuell mehr als jeder Zweite mit 40 Jahren oder mehr Berufstätigkeit weniger als 1.400 € Altersrente ausbezahlt.
Das ist ziemlich wenig, vor allem, wenn man die Situation in anderen Ländern betrachtet. Dass man in Deutschland sehr knausrig ist mit der Finanzierung des Lebensabends der arbeitenden Bevölkerung, zeigt sich im Vergleich mit unseren direkten, ebenfalls (wenigstens teilweise) deutschsprachigen Nachbarn, mit denen wir auch sonst viele soziale und ökonomische Merkmale teilen. Die OECD veröffentlicht dazu regelmäßig Berichte. Nimmt man alle öffentlichen Zahlungen zusammen, dann liegt Deutschland bei der aussagekräftigen Bezugsgröße – Anteil der Rentenzahlungen samt diesbezüglicher Steuererleichterungen am Bruttosozialprodukt – um einiges hinter Österreich und der Schweiz.
Während die Generationengerechtigkeit von allen Parteien in dieser oder jener Weise im Munde geführt wird – ausgenommen die existenziellen Fragen, die die Letzte Generation thematisiert –, bleibt es bei einer anderen Gerechtigkeitsdimension erstaunlich ruhig. Bloß nicht darüber sprechen, bloß nicht dran rühren, heißt die parteiübergreifende Position. Gemeint ist die sozial unterschiedliche Lebenserwartung. Eigentlich ist das ein alter Hut in der internationalen Gesundheitssoziologie. Aber in Deutschland bekam man lange keine guten Zahlen dazu. Und auch heute noch gibt es keine richtige amtliche oder quasi-amtliche Statistik darüber, die Forschung muss sich hier mit Hilfs-Datenquellen behelfen.
Zum Glück sind die ziemlich gut, vor allem das große Sozio-oekonomische Panel. Dieses auswertend, kamen Forscher zu dem Ergebnis, dass der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen der Gruppe mit dem relativ niedrigsten Einkommen und der mit dem höchsten bei Männern nicht weniger als 8,6 Jahre, bei Frauen 4,4 Jahre beträgt. Das ist schon für sich ein Skandal. Richtig spannend wird es, wenn man das auf die Rentensituation anwendet. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung wertete dazu Daten der Deutschen Rentenversicherung aus. Bezugsgruppe waren wegen der beständigeren Erwerbsbiografien und der langen Betrachtungsfrist westdeutsche Männer mit einer höheren Anzahl von Beitragsjahren.
Heraus kam erneut, dass der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen denen mit den niedrigsten Löhnen und denen mit den höchsten viele Jahre betrug und sogar mit der Zeit noch erheblich zunahm. Wir sind also heute in der Lebenserwartung ungleicher als vor einigen Jahrzehnten. Dieser Unterschied macht sich auch direkt bei der Rentabilität der Renteneinzahlungen bemerkbar: Wer sehr gut verdient hat, bekommt dank der statistisch längeren Auszahlungszeit viel mehr heraus als jemand mit niedrigem Löhnen, der früher stirbt. Das in Deutschland so hochgehaltene Äquivalenzprinzip zwischen Einzahlung und Auszahlung ähnelt einem gezinkten Kartenspiel, wo die einen mehr Asse, die anderen mehr Luschen zugeteilt bekommen.
Die Bedeutung der unterschiedlichen Lebenserwartung lässt sich an einem fiktiven Beispiel zeigen. Gegeben seien der Einfachheit halber zwei gleich große Gruppen. Die eine hat sich das Anrecht auf eine Monatsrente von 1.000 Euro erarbeitet und bezieht diese 14 Jahre. Die andere bekommt 2.000 Euro im Monat und genießt sie 22 Jahre. Bleiben die Gesamtausgaben konstant, werden nun aber nicht nur nach der Einzahlungshöhe, sondern auch nach der statistischen Auszahlungslänge neu verteilt, dann müssten die ärmeren Rentner monatlich eigentlich statt 1.000 nun 1.381 Euro erhalten, die Bessergestellten dagegen erhielten statt 2.000 nur 1.758 Euro. Über die gesamte jeweilige Bezugszeit bleibt aber die Äquivalenz von 2:1 weiter gewahrt.
Nun kann man natürlich eine statistische Lebenserwartung nur schlecht in eine individuelle Leistung übertragen. Jeder hat schon mal von 100-jährigen Armen oder von früh verstorbenen Reichen gehört. Man könnte aber die Gruppendifferenz bei der Bezugsdauer derart berücksichtigen, dass über eine längere Zeit Rentenerhöhungen nicht mehr mit einem einheitlichen Prozentsatz ausgezahlt werden – sondern zur Hälfte prozentual, zur anderen in einem Festbetrag (pro Rentenpunkt). Das würde über die Zeit die Bevorteilung der Besserverdienenden abschleifen, die Benachteiligung der Schlechterentlohnten sanft, aber wirkungsvoll aufheben. Diese Gerechtigkeitsdebatte sollten wir zuerst führen!
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