Unfallschwerpunkt in Hamburg: Die Meile der Schaufensterunfälle

Mindestens 25 Mal sind in der Hamburger Waitzstraße Autos in Schaufenster gefahren. Warum auch immer. Sind unterirdische Wasseradern schuld?

Illustration einer Ladenzeile mit zerborstenen Schaufensterscheiben

Upps: Mal wieder ist ein Auto in ein Schaufenster der Waitzstraße gekracht Foto: Jeong Hwa Min

HAMBURG taz | Zuletzt hat es Franz Wauschkuhn erwischt. Der Rentner fuhr kurz vor Weihnachten mit seinem BMW in den Außenbereich des Cafés Newport. Das tonnenschwere SUV riss einen massiven Betonpoller aus seiner Verankerung und blieb auf ihm hängen. Ohne den Poller, eher eine kleine Sitzbank, wäre der Wagen wohl in der Glasfront des Cafés gelandet – wie so viele vor ihm in der Hamburger Waitzstraße.

Mindestens 25 Pkws sind bisher in einem 300 Meter langen Straßenabschnitt in Schaufenster gekracht: in den Blumenladen Florali, in die Reinigung, in die Boutique Engelei. „Ich bin nicht mehr bereit, dazu etwas zu sagen“, wehrt die Verkäuferin in einem kleinen Laden ab. Alle seien genervt von der Fragerei nach dem Wie und Warum. „Das wird keiner ergründen“, prophezeit sie.

Gas und Bremse verwechselt

Der 300-Meter-Abschnitt bildet das Zentrum des wohlhabenden Stadtteils Groß Flottbek. Hier gibt es diverse Ärzte, Hörgeräteakustiker, Maklerbüros, zwei Apotheken, drei Buchhandlungen, drei Bankfilialen, Boutiquen – viele inhabergeführte Geschäfte. Wer hier einkauft, hat Geld. Mit der Kundschaft ist man per Du.

Die Straße ist eine Villenstraße, nur dass vor die Villen im Erdgeschoss Bungalow-artige Anbauten für die Geschäfte gesetzt sind. Vor den Geschäften auf der Nordseite sind Schrägparkplätze, und die sind das Problem. Zwar ist nur Tempo 20 erlaubt, was ein roter Belag verdeutlicht.

Die Besonderheit

Die Waitzstraße liegt in dem wohlhabenden Hamburger Elbvorort Groß Flottbek, direkt an der Grenze zum noch wohlhabenderen Othmarschen. Ein 300-Meter-Abschnitt davon ist eine beliebte Einkaufsstraße mit kleinen Geschäften und Praxen. Er ist berüchtigt dafür, dass hier mit schöner Regel­mäßigkeit Autofahrer Gas und Bremse verwechseln.

Die Zielgruppe

Bürger aus den Elbvororten, im wahren Sinne des Wortes gut betucht und mit entsprechendem Bedarf. Nicht zuletzt wegen der Ärzte in der Straße kommt gerne auch älteres Publikum. Autofahrer trauen sich in erstaunlicher Zahl in das Sträßchen und finden erstaunlich oft einen Parkplatz.

Hindernisse auf dem Weg

Wer die Waitzstraße besuchen will, muss nicht mit dem Auto anreisen. Auf der Hälfte des vermaledeiten Straßenabschnitts liegt ein Ausgang der S-Bahn-Station Othmarschen.

Doch der Verkehr ist dicht. Eins ums andere Auto drängt sich durch. Das Ausparken gestaltet sich unübersichtlich. Mit 67 Verkehrsunfälllen alleine in den drei Jahren 2019 bis 2021 gilt die Straße der Polizei als Unfallschwerpunkt. Darunter waren auch die typischen Gas-Bremse-Unfälle, bei denen die Leute mit ihren Autos in den Schaufenstern landen.

Das Altonaer Bezirksamt sah sich genötigt, auf diese Spitzenwerte zu reagieren, und ließ für 150.000 Euro Stahlpoller mit Betonfundament im Boden versenken. Zur gediegenen Atmosphäre passend, sind sie anthrazitfarben gestrichen – so wie die kleinen gebogenen Hocker, die ebenfalls als Hindernisse dienen, und die veredelten Betonblöcke mit Holzauflage zum Sitzen.

Den Grund dafür, dass sich die Schaufensterunfälle so häuften, vermutet Siegfried Brockmann von der Unfallforschung der Versicherer darin, dass viele alte Menschen in der Straße unterwegs sind. Wenn jemand wegen des nachdrängenden Verkehrs schnell aus einer Parklücke fahren wolle, könne er in Panik geraten. Ist dann der falsche Gang eingelegt, landet man mit Schwung in der Auslage.

„Ältere brauchen etwas länger, um eine Situation zu verstehen“, sagt Brockmann. „Wenn man eine Sekunde braucht, ist das eine Sekunde zu viel.“ Bei der Hamburger Polizei gibt es bereits Seniorenbeauftragte, die „zielgerichtete Präventionsmaßnahmen“ durchführen sollen.

Der ADAC möchte nicht über die Ursachen spekulieren. Er wendet sich aber dagegen, die falschen Schlüsse in Bezug auf betagte Fahrer zu ziehen, etwa im Sinne einer verpflichtenden Überprüfung samt etwaigem Führerscheinentzug. „Alle Se­nio­ren über einen Kamm zu scheren ist nicht fair“, findet Christoph Tietgen vom ADAC Hansa. Der Club bietet stattdessen einen Fahrfitness-Check mit Beratung an.

Die ganze Straße eine Störzone

Auch Perdita Metzler glaubt nicht, dass die vielen Unfälle dem Alter geschuldet sind. „Die ganze Straße ist eine Störzone“, sagt sie. Metzler wohnt um die Ecke und ist Geomantin. Sie beschäftigt sich mit den verborgenen Kräften, die auf Orte wirken. Die Metallpoller des Bezirksamts hält sie für einen potenziellen Störfaktor: Wenn Metall in die Kreuzungspunkte der Kraftlinien gerammt werde, die nach geomantischer Vorstellung die Erde überziehen, könne es zu einer Störung kommen. „Schon ein Verkehrsschild oder eine Wäschespinne, die in einen sogenannten JUM-Punkt gerammt wird, kann das auslösen“, sagt sie.

Einen ähnlichen Effekt könnten unterirdische Wasseradern haben, die in die falsche Richtung fließen. Mindestens vier davon gebe es in der Waitzstraße. Weitere Störfaktoren seien etwa Verwerfungen und Elektrosmog.

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Genau „messen“, wo und warum die Waitzstraße gestört ist, möchte Metzler nicht ohne offiziellen Auftrag. Die Waitzstraße zu entstören sei eine umfangreiche Arbeit, da auch die angrenzenden Grundstücke betroffen seien. Die „Messung“ mache sie mental, durch Verbindung mit der geistigen Welt, auch ohne vor Ort sein zu müssen.

Einstweilen dürfen die Autofahrer auf die Wirkung der staatlichen Maßnahmen hoffen. In den vergangenen beiden Jahren gab es jeweils nur noch ­einen Schaufensterunfall.

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