Geschichtsträchtige Kapelle: Werner hängt hier nicht mehr

Die Mutter-Rosa-Kapelle in Oberwesel hieß bis vor 15 Jahren „Wernerkapelle“. Ihr Altarbild zeigte einen Schutzpatron der Judenverfolgung.

Eine Illustration zeigt einen Weg mit Bäumen, der zu einer Kapelle führt

Ehemaliger Wallfahrtsort des Antisemitismus: die Mutter-Rosa-Kapelle Foto: Jeong Hwa Min

OBERWESEL taz | So, jetzt die Türe aufdrücken, eintreten, drinnen ganz automatisch den Blick nach Osten und – nanu? Aber das Altarbild war doch …? Erstaunen ist oft ein Zeichen mangelhafter Vorbereitung.

So auch hier. In der Kindheit waren infolge elterlichen Bildungsfleißes weiß Gott sämtliche Burgen und gotischen Sakralbauten des oberen Mittelrheins abgeklappert worden. Und selbstverständlich hatte auch der hier zum Programm gehört, in Oberwesel, dessen Bau so eigentümlich auf die Stadtmauer aufgesetzt ist. Das Gefühl, auf dem Torweg unter diesem hochaufragenden Bau hindurchzuhuschen, war damals unheimlich gewesen.

Auch heute beschleunigt diese ganze lastende Schwere überm Kopf noch immer die Schritte, ganz unwillkürlich. Die Treppe an der Innenseite der Mauer, von der aus ein Eingang der Kirche erreicht wird, ist immer noch schief, krumm und ausgetreten. Von oben, auf dem Wehrgang, geht der Blick über die B 9 auf den grünlich-braunen Rhein, auf dem dicht an dicht diese typischen langen Frachter vorbeiziehen, die so merkwürdig flach gedrückt aussehen. Viel los auf dem Fluss.

Wie Weihrauch in der Kirche

Dessen seltsamer Geruch – ein Mix aus kaltem Männerschweiß, einem Hauch von Fisch plus Waldboden – hängt auch bei kühler Witterung in der Luft, so wie Reste von Weihrauch in der Kirche. Die ist schon im 17. Jahrhundert zur Kapelle downgegradet worden, nachdem die Truppen von Louis XIV sie zu Klump geschossen hatten. Der Innenraum war nur schwammig im Gedächtnis geblieben, Spitzbögen halt, wenig eindrucksvoll. Und ein toll goldschnörkeliger Hochaltar (barock).

Die Besonderheit

Die Mutter-Rosa-Kapelle, im 18. Jahrhundert rekonstruierter Chor einer mehrschiffigen gotischen Kirche, war über Jahrhunderte Zentrum des antisemitischen Kults um den Scheinheiligen Werner, der Ableger in mehreren Weinbaugebieten Europas hat, vor allem in Burgund. Der Sakralbau ist durch Strebepfeiler seiner östlichen Außenwand mit der Westseite der hier rund 8,50 Meter hohen Stadtmauer Oberwesels verbunden.

Die Zielgruppe

Spurensucher.

Hindernisse auf dem Weg

Oberwesel bildet mit 47 weiteren Städten und Dörfern zwischen Bingen und Koblenz das Welterbe Oberes Mittelrheintal, hat mit 2,6 erhaltenen Kilometern eine der längsten Stadtmauern Europas, auch Victor Hugo fand sie toll. So viel Glanz und Schönheit über­decken leicht das Böse, den Hass und die Verbrechen.

Es ist halt wirklich schon länger her! Aber sich der Erinnerung zu überlassen, im Gefühl, das sich nichts geändert haben würde, verhilft zu Überraschungen: Das jetzige Altarbild, eine Frau in schwarzer Franziskanerinnentracht, die, betende Hände, die Augen gen Himmel richtet, ist nicht mehr das alte.

Jenes zeigte eine rot gewandete androgyne Person, die in die Höhe schaut. Umkränzt von einer roséfarbenen Schäfchenwolken-Mandorla schwebte diese Gestalt barfuß im Himmel über den vielen, vielen Türmen Oberwesels und dem Rhein, in der rechten Hand einen Abendmahlskelch, in der linken einen Palmwedel. Puh.

Wirklich hässlich war der Zweck dieses Gnadenbildes: die Anstachelung zum Judenhass. Denn bei der Person auf dem Gemälde hatte es sich um den Knaben Werner gehandelt, den Protagonisten der vielleicht wirksamsten deutschen Ritualmordlegende. Hier, Oberwesel, das war der Ort des Kults. Hier, diese Kapelle, war von 1728 an und bis vor 52 Jahren Ausgangs- und Endpunkt der schaurigen Werner-Prozessionen, jeweils an seinem Festtag, dem 19., manchmal auch am 20. April.

Und die dienten nicht dazu, seiner zu gedenken – der Jüngling war 1287 zweifellos Opfer eines Verbrechens geworden, getötet und weggeworfen –, sondern um eigene Verbrechen zu befeuern und durch den schönen Schein des heiligen Zorns zu veredeln.

Der Vorgang hat Züge eines Komplotts. Mindestens sind Menschen am Werk gewesen, die wussten, wie sich christliche Ikonografie und örtliches Brauchtum im Kampf gegen Juden verbinden lassen. Denn gleich nach dem Auffinden seines Leichnams war schon die Bezichtigung in die Welt gekommen, diese hätten den Jugendlichen in einem Haus an der Stadtmauer kopfüber an einer Säule aufgehängt und gleichsam gekeltert. Also brachten die Oberweseler wohl erst einmal die Familie um, in deren Weinkeller der Junge als Aushilfe beschäftigt gewesen sein soll.

Schutzheiliger der Winzer

Noch im selben Jahr rächen ­Pogrome in Cochem, Kobern, Münstermaifeld, Trarbach, ­Sinzig, Rödingen, Siegburg, Lahnstein, Bonn und Kempen den „guten Werner“. Und obwohl nie kanonisiert, hat sich seine Verehrung gehalten, ist tief in die regionale Identität einmassiert worden. Man hat ihn als Schutzheiligen der Winzer verehrt, bis vor 60 Jahren, im Bistum Trier, wo doch am Weine alles hängt.

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Und jetzt: finito. Weg damit! Vor 15 Jahren die Umbenennung der Kapelle nach der selig gesprochenen Ordensgründerin Mutter Rosa, über die sich beim besten Willen nichts Böses sagen lässt. Vor zehn Jahren Austausch des Altarbildes. Es war der letzte Akt eines langen, mehr als zähen Prozesses, begonnen auf Bitten des Zentralrats der Juden.

Eigentlich müsste die Kapelle ein Mahnmal sein: Fast zu rückstandslos beseitigt sind die Spuren des blutigen Antisemitismus, obwohl das hier doch alles Welterbestatus hat. Aber immerhin, die Wegweiser im Ort bewahren noch heute in Klammern hinter dem neuen auch den alten Namen. Wie eine Drohung, die jederzeit wieder ins Leben treten kann.

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