Ukrainisches AKW unter Beschuss: Krieg und „friedliche“ Kernenergie
Trotz Beschuss zeigt sich um das Atomkraftwerk Saporischschja keine erhöhte Radioaktivität. Aber das Tabu ist gebrochen: AKWs sind militärische Ziele.
Ein militärischer Angriff auf eine Atomanlage sei „selbstmörderisch“, sagte UN-Generalsekretär António Guterres nach dem Beschuss des AKW-Geländes in der südlichen Ukraine am vergangenen Wochenende.
Die UN-Atombehörde IAEA zeigte sich wegen der Situation wieder einmal „tief betroffen“ und forderte: „Jegliche militärische Aktion muss enden, die die nukleare Sicherheit gefährdet.“ Und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hatte schon im März gewarnt: „Wenn das Kraftwerk in die Luft fliegt, wird das zehnmal stärker als Tschernobyl sein.“
Wie groß ist also die Gefahr, dass der Überfall Russlands auf die Ukraine zu einer atomaren Katastrophe führt? Und welche Meldungen sind Fake News, wenn sich jetzt die Kämpfe um die Gegend rund um das AKW verlagern? Neutrale Beobachter wie die IAEA sind dort bislang nicht zugelassen.
Krieg mit dem größten Atomkraftwerk in Europa
Die „friedliche Nutzung der Atomkraft“, die Nuklearfans propagieren (Der Slogan der IAEA lautet: „Atome für den Frieden“), wird nun zum großen Risiko. Zum ersten Mal in der Geschichte wird in einem Land mit einem großen Nuklearpark heftig und rücksichtslos Krieg geführt.
Dabei werden völkerrechtliche Regeln missachtet und Nuklearanlagen zu einem Teil der militärischen Strategie. Das bestätigte indirekt am Dienstag der Chef des ukrainischen Atomkraftbehörde Energoatom, Petro Kotin: Er forderte laut Agenturberichten, die Ukraine müsse Saporischschja unbedingt rechtzeitig vor dem Winter zurückerobern. Denn der russische Beschuss in der vergangenen Woche habe drei Leitungen beschädigt, die Saporischschja mit dem ukrainischen Stromnetz verbinden würden. Russland wolle dagegen die Anlage an sein eigenes Netz anschließen – dabei geht es auch um die Versorgung der Krim mit Strom.
Das Risiko einer Katastrophe am größten Atomkraftwerk Europas steigt mit jedem Kriegstag: Saporischschja mit sechs großen Reaktoren mit jeweils 950 Megawatt, die voller heißer Brennstäbe sind, ist zu einem militärischen Objekt geworden. Damit hat Russland ein jahrzehntealtes Tabu der internationalen Atomgemeinde gebrochen.
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Andererseits dämpfen Experten aber auch die Ängste, es drohe ein zweites Fukushima oder Tschernobyl: Bisher gibt es keine Messungen von radioaktiven Verstrahlungen. Die Reaktoren und die Behälter für radioaktiven Müll sind intakt, die Kühlung der Systeme ist durch mehrfache Absicherung bislang gewährleistet. Selbst ein Treffer auf die Reaktoren oder die Brennelementelager würde wohl nur unter sehr ungünstigen Bedingungen zu großer Verstrahlung führen. Ein Unfall im Brennelementelager wäre vor allem ein „lokales, höchstens ein regionales Problem“, heißt es vom deutschen Bundesamt für Strahlenschutz (BfS).
Dazu kommt: Weder die Ukraine noch Russland haben ein strategisches Interesse an einem Super-GAU in Saporischschja. Nun fordert auch Russland, der UN-Sicherheitsrat solle sich mit der Lage befassen. Die Regierung in Moskau habe darum gebeten, dass der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, den UN-Sicherheitsrat am Donnerstag über „Angriffe der ukrainischen Streitkräfte auf das Kernkraftwerk Saporischschja und deren mögliche katastrophale Folgen“ unterrichtet, heißt es aus Diplomatenkreisen. IAEA-Techniker sollen den Zustand des größten Atomkraftwerks Europas überprüfen. Die Ukraine hatte bereits am Montag die Inspektion der von russischen Soldaten besetzten Anlage gefordert.
Stromnetz in Saporischschja beschädigt
Vor Ort ist die Lage kompliziert: Am 3. und 4. März haben russische Truppen das Werksgelände am riesigen Stausee des Dnipro besetzt. Schon damals hielten Experten den Atem an, als ein Geschoss ein Schulungszentrum auf dem Gelände des Kraftwerks in Band setzte.
Seitdem läuft der Betrieb unter russischer Regie, ausgeführt von ukrainischen Technikern. Von den sechs Reaktoren wurden damals drei heruntergefahren, ein vierter ging nach dem Angriff am Wochenende in die Notabschaltung. Denn ein Geschoss war nach Angaben des ukrainischen Betreibers Energoatom „direkt neben den Behältern für Atommüll“ gelandet.
Der strahlende Müll wird in 174 großen Betonbehältern auf dem Gelände gelagert und enthält die gebrauchten Brennstäbe aus den Reaktoren, nachdem diese 5 Jahre im Wasserbecken einen Teil ihrer Radioaktivität verloren haben. Anders als etwa in Deutschland, das nach einem unterirdischen Endlager sucht, sieht die ukrainische Politik bislang nur vor, den Müll 50 Jahre an den Kraftwerken zu lagern. Was danach passiert, ist ungewiss.
Diese Behälter „HI-STORM FW“ der US-Firma Holtec haben Wände aus Stahl und 75 Zentimeter Beton. Sie werden in vielen Ländern wie in den USA als Langfristlager für den Atommüll eingesetzt und schützen laut Hersteller Brennstäbe „vor natürlichen und menschengemachten Projektilen, einschließlich dem Einschlag eines F-16-Kampfjets“.
Noch stärker gesichert seien auch die Schutzhüllen der sechs Reaktoren, sagt Uwe Stoll, Geschäftsführer und Experte für Nuklearsicherheit bei der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS): „Die Reaktorhülle ist gegen Flugzeugabstürze ausgelegt.“
Florian Gering, Bundesamt für Strahlenschutz
Auch eine Zerstörung der externen Stromversorgung oder der Kühlung des Reaktors – was in Fukushima zur Kernschmelz-Katastrophe führte – sei selbst bei einem direkten Treffer sehr unwahrscheinlich: „Es gibt mehrere Notstrom-Aggregate, die die Kühlung übernehmen können. Und gleich nebenan ist der Dnipro-Stausee mit viel Kühlwasser“, so Stoll. Der Einschlag am Atommülllager sei wohl eine 152-Millimeter-Granate gewesen, bisher gebe es aber keine sicheren Angaben darüber, woher sie kam und ob sie gezielt dorthin geschossen wurde.
Wie sicher sind AKWs?
Wie genau Atomkraftwerke und ihre Infrastruktur gegen welche Angriffe gesichert sind, unterliegt der Geheimhaltung. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden auch die deutschen AKWs darauf getestet, ob sie den Einschlag einer großen Verkehrsmaschine voller Kerosin aushalten würden. Ja, sagte damals die Reaktor-Sicherheitskommission der Bundesregierung. Und auch gegen Angriffe mit Waffen seien die Anlagen getestet worden, sagt Stoll, aber Einzelheiten dazu seien nicht öffentlich. „Aber klar ist schon: Im Zweifel gibt es immer eine Waffe, die das Containment durchschlagen kann.“
Die müsste dann aber bewusst auf das nukleare Ziel ausgerichtet sein. Dafür gibt es bisher keine Anhaltspunkte. Es ist nicht einmal klar, woher der Beschuss am Wochenende kam: die russische Seite macht die Ukraine verantwortlich, die Ukrainer die Russen. Die russischen Besatzer haben Truppen auf dem Gelände stationiert und lagern nach ukrainischen Berichten in oder an den AKW-Hallen Gerät und Munition – vielleicht, um einen Angriff zur Rückeroberung abzuschrecken. Das AKW versorgt die Ukraine, aber auch den russisch besetzten Teil des Landes mit Strom und die Anlage ist offenbar nur mit ukrainischen Technikern zu bedienen. Welchen Vorteil sollten also die russische oder die ukrainische Führung an einem zielgerichteten Atom-Desaster haben? „Ich verstehe das einfach nicht“, sagt Uwe Stoll.
Auch Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital blickt mit Sorge nach Saporischschja. Es gebe zwar „keinen Grund für akute Panik“ und auch ein „Zufallstreffer wird wohl keinen GAU auslösen“. Aber „militärische Eskalation hat ihre Stufen nicht immer unter Kontrolle. Und wir sehen eine neue Dimension der Kriegsführung“, die die große strategische Bedeutung von Nuklearanlagen in die Militärplanung einbeziehe. „Das verstößt gegen die Genfer Konventionen, die Staudämme und Atomkraftwerke besonders schützt und hat eine perfide Methodik“, so Smital.
Bei Besuchen von Greenpeace in der Tschernobyl-Zone nach der russischen Besetzung habe sich gezeigt, dass das Gelände und teilweise selbst die Labore vermint worden seien. Die weltweite Debatte über die Atomkraft müsse in Zukunft auch berücksichtigen, dass Nuklearanlagen zu Waffen werden könnten, so Smital.
Kein Hinweis auf höhere Strahlung
Konkret gibt es in Saporischschja „bislang keine Hinweise auf höhere Strahlenwerte“, sagt Florian Gering, Leiter der Abteilung Radiologischer Notfallschutz beim Bundesamt für Strahlenschutz (BfS). Zwar sind auf dem Kraftwerksgelände manche Instrumente ausgefallen, aber die Datenlage sei ausreichend: Das Amt nutzt offizielle ukrainische Daten, aber auch Messstellen von Umweltorganisationen und Privatleuten an etwa 15 Orten rund um Saporischschja. „Wenn etwa auf dem Gelände ein Behälter für Atommüll zerstört würde, wäre das nur ein lokales oder regionales Ereignis“, so Gering, da die Radioaktivität dort „etwa um mindestens den Faktor 100 geringer ist als im Reaktorkern“.
Die Reaktoren müssen aber selbst nach einer Abschaltung noch monatelang gekühlt werden, weil sonst der Kern schmelzen kann. Riskant sei die Situation auch durch den Druck auf die Bedienungsmannschaften, warnen die Experten: Ukrainische Techniker, die unter russischem Befehl das AKW fahren, sich gleichzeitig um ihre eigene Sicherheit und ihre Familien sorgen, seien anfällig für Fehler. Und wenn Entscheidungen in einem Notfall nicht von den Experten sondern der militärischen Führung getroffen würden, könne das Komplikationen bedeuten.
Einen Vergleich mit dem Super-GAU von Tschernobyl 1986 finden die Experten schwierig. „Ich rechne nicht mit einem zweiten Tschernobyl“, sagt Stoll. Und das BfS betont, bisher gebe es keine erhöhte Strahlung, und bei einem möglichen Unfall komme es für die Folgen auf den Wind an: Der bläst aber in 85 Prozent der Fälle nach Osten, nicht nach Westen, hat eine aufwändige Simulation des BfS ergeben. Im ungünstigsten Fall – Freisetzung und Wind nach Westen – sei damit zu rechnen, dass in Deutschland kein Salat vom Feld gegessen werden darf. „Aber das Land, das neben der Ukraine am wahrscheinlichsten von radioaktiver Freisetzung betroffen wäre, das wäre Russland“, meint Gering.
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