Energiewirtschaft in Europa: Atomoffensive bleibt aus

Trotz Energiekrise hat die Nuklearindustrie keine neuen Aufträge. Stattdessen kollabieren ältere Meiler, während Baukosten für neue AKWs steigen.

Ein Soldat und mit einem weißen "Z" bemalte Armeefahrzeuge des russischen Militärs stehen im Eingangsbereich des Atomkraftwerks Saporischschja

Russisches Militär in Europas größtem Atomkraftwerk in der Nähe der Stadt Saporischschja Foto: Andrey Borodulin/afp

In keinem anderen Land wird ähnlich hitzig über die Energiepolitik gestritten wie in Deutschland. Aber die Energiekrise hinterlässt auch in anderen Ländern Europas tiefe Spuren. Neubauprojekte für Atomkraftwerke hat sie bisher nicht angeschoben, zumal diese frühestens im nächsten Jahrzehnt Strom liefern würden und weder den von Putin initiierten Gasnotstand noch die hohen Strom-, Gas- und Ölpreise aktuell beeinflussen könnten. So konzentriert sich die Diskussion vor allem auf Laufzeitverlängerungen.

Die Atomindustrie taugt aber auch deshalb kaum als Retter in der Krise, weil sie sich gerade jetzt „in erschreckender Verfassung“ präsentiert, so Mycle Schneider, Herausgeber des World Nuclear Industry Status Report, gegenüber der taz. Die Lage der Nuklearbranche sei prekär und sehr viel problematischer als allgemein wahrgenommen. Und das nicht nur wegen der Kostenexplosionen und extremen Verzögerungen bei den im Bau befindlichen Kraftwerken. Viel dramatischer, so Schneider, sei der Kollaps der französischen Atomflotte und der Albtraum in der Ukraine. Dort wird mitten im Kriegsgebiet das Atomkraftwerk Saporischschja als Schutzschild missbraucht.

Das größte Atomkraftwerk Europas mit sechs Reaktoren ist am 4. März von russischen Truppen besetzt und danach zum Militärstützpunkt ausgebaut worden. Die Russen schießen vom Kraftwerksgelände aus auf ukrainische Stellungen. Sie haben offenbar Raketenwerfer, Artillerie, Panzer und Munition in und um das Kraftwerk konzentriert, wie die New York Times unter Berufung auf geflohene ukrainische Ingenieure berichtet. Die Internationale Atomenergieagentur (IAEA) spricht von der „sehr realen Gefahr einer nuklearen Katastrophe“. Auch Mycle Schneider gesteht: „Wir bibbern seit fünf Monaten“. In der Reaktorwarte müssen die ukrainischen Atomwerker die Meiler unter Aufsicht russischer Ingenieure von Rosatom als Atomsklaven weiter bedienen. Die NYT berichtet von harten Verhören und gefolterten Ingenieuren.

Die zweite Katastrophe findet in Frankreich statt, wo – nach Kapazität bemessen – mehr als die Hälfte der Atomkraftwerke seit Monaten nicht zur Verfügung steht. Zu wenig Kühlwasser aus überhitzten Flüssen, Korrosionsschäden, Haarrisse, Schweißnahtprobleme, Personalnöte und anstehende Wartungs- und Reparaturarbeiten bei altersschwachen Anlagen haben Frankreich in einen akuten Notstand versetzt. Der Strompreis ist weit höher als in Deutschland und war kurzzeitig an den Börsen auf irrwitzige drei Euro je Kilowattstunde geklettert. Ohne massive Stromimporte und den Betrieb der Gaskraftwerke gingen in der Grande Nation die Lichter aus. Zugleich musste der französische Staat den maroden Atomkonzern EDF übernehmen, dessen Schuldenberg bis zum Jahresende auf 65 Milliarden Euro geschätzt wird. Dass sich die Fertigstellung des einzigen AKW-Neubaus in Flamanville immer weiter verzögert, komplettiert das Desaster. Der Rechnungshof hat die Kosten dort zuletzt auf horrende 19,2 Milliarden Euro beziffert.

Belgien: Bereit zum Abschalten, eigentlich

Wie geht es im Nachbarland weiter? Die Ausfälle können „mehrere Jahre dauern“, räumt EDF ein, die Versorgungssicherheit steht vor allem im Winter auf dem Spiel, wenn die Franzosen ihre Stromheizungen anschalten. Frankreichs Grüne befürchten wegen der kritischen Lage Abstriche bei der Sicherheit und die Verkürzung der zu Wartung und Reparatur notwendigen Stillstandszeiten. Einen vergleichbaren Ausnahmezustand gibt es in keinem anderen Land.

Mindestens turbulent ist die Lage auch in Belgien. Die gebrechliche Reaktorflotte des Landes mit sieben Atommeilern hat ein Durchschnittsalter von 42 Jahren erreicht und wäre reif zur Stilllegung. 2003 hatte sich das Land verständigt, die Laufzeit auf 40 Jahre zu begrenzen. 2015 folgte ein Kurswechsel mit Laufzeitverlängerungen auf 50 Jahre für drei Reaktoren. Nach langem juristischem Hickhack und Protesten der Nachbarländer wurde 2025 als endgültiges Ausstiegsdatum anvisiert. Dafür sollten neue Gaskraftwerke gebaut werden. Das galt bis zum Krieg in der Ukraine und der Geburt der neuen Energiekrise.

Jetzt wurde der Ausstiegsfahrplan verlängert. Belgiens Regierung einigte sich mit der Betreiberfirma Engie/Electrabel, die beiden jüngeren Reaktoren Tihange-3 und Doel-4 bis 2035 in Betrieb zu halten. Die beiden besonders mürben, mit Tausenden Haarrissen belasteten Meiler werden aber trotz des politischen Drucks zum Weiterbetrieb im September 2022 bzw. im Februar 2023 „aus technischen Gründen und Sicherheitsbedenken“ von Engie abgeschaltet. Von einer Rücknahme des Ausstiegs könne keine Rede sein, kommentiert Jan Becker von der Anti-Atom-Initiative „Ausgestrahlt“.

Neubaupläne sind auch in Belgien nicht in Sicht. Auch in Spanien, Schweden und der Schweiz stehen weitere Stilllegungen der geschrumpften Atomflotte an, die nicht ersetzt werden. Polen, das seit den 1980er Jahren immer wieder kühne Atompläne veröffentlichte, will dagegen 2033 sein erstes Atomkraftwerk in Betrieb setzen, weitere Baupläne für angeblich fünf Meiler bis 2043 sind reine Zukunftsmusik. Ebenso fragwürdig sind jetzt die Pläne Ungarns, ein weiteres russisches Atomkraftwerk mit russischer Finanzierung zu bauen.

Geräuschlose Abschaltungen in Großbritannien

Großbritannien gehört zu den wenigen Ländern Europas, die jenseits von Ankündigungen tatsächlich ein AKW-Neubauprojekt auf den Weg gebracht haben. Die Zahl der laufenden Meiler ist inzwischen allerdings auf neun geschrumpft. Sie deckten im Jahr 2021 nur noch 14,8 Prozent des Stromverbrauchs, fast eine Halbierung gegenüber dem Peak von 27 Prozent im Jahr 1997. Tendenz: weiter fallend.

Das Land hat weit mehr als die Hälfte seines im alten Jahrhundert aufgebauten Atomparks stillgelegt und bisher nicht ersetzt. Zählt man die kleinen Anlagen der ersten Generation dazu, hat das Königreich – so die Buchführung der IAEA – 36 Reaktoren stillgelegt. Bis 2030 folgen weitere Abschaltungen, zumal Haarrisse in den Graphitkernen und kostspielige Reparaturarbeiten den Weiterbetrieb der älteren Anlagen gefährden. Allein in diesem Jahr hat Großbritannien vollkommen geräuschlos drei Atommeiler stillgelegt, zuletzt, am 1. August, Hinkley Point B‑1. Auch 2021 wurden drei Reaktoren abgeschaltet – ein Ausstieg auf Raten. Die Stilllegungskosten haben sich unterdessen fast verdoppelt.

Pläne der Johnson-Regierung, bis 2050 gleich acht neue Atomkraftwerke in Betrieb zu nehmen, dürfen angesichts massiver Probleme beim Neubau-Projekt Hinkley Point C angezweifelt werden. Dort werde „das teuerste Atomkraftwerk der Welt gebaut“, spottet der Guardian. Ohne milliardenschwere Subventionen wäre der Neubau unmöglich. Die britische Regierung garantiert für 35 Jahre märchenhafte Abnahmepreise von rund 110 Euro je Megawattstunde plus Inflationszuschlag. Das ist mehr als das Doppelte des Preises für Offshore-Windstrom.

Der Bau der Reaktor-Doppelanlage ist von üblichen Verzögerungen und prohibitiven Kostenexplosionen begleitet. Letzter Stand: Inbetriebnahme 2027 bei 30,5 Milliarden Euro Kosten. RWE-Manager Nikolaus Valerius kommentiert: „Ich sehe keinen Privatinvestor, der derzeit in Europa in den Bau neuer Kernkraftwerke investieren würde.“

Seit dem Krieg das Aus

Die Misere bei Hinkley Point C deckt sich mit Erfahrungen derselben Baureihe in Frankreich und Finnland. Der finnische Betreiber TVO hat in Olkiluoto das fünfte Atomkraftwerk des Landes gebaut. Nach 17 Jahren Bauzeit war es am 12. März 2022 mit zwölf Jahren Verspätung ans Netz gegangen. Am 26. April musste es wegen eines Lecks im Kühlsystem wieder abgeschaltet werden. Seitdem ruht der See. Der Bau des finnischen Atomkraftwerks Hanhikivi 1 durch den russischen Atomkonzern Rosatom wurde nach Putins Überfall auf die Ukraine abgebrochen, zuvor hatte sich die Baugenehmigung fast zehn Jahre verzögert. Jetzt kam das endgültige Aus.

Der Krieg hat die Zusammenarbeit mit russischen Atomfirmen und die Abhängigkeit von Uran und Brennelementen aus Russland, Kasachstan und Usbekistan jäh ans Licht gezerrt. Bulgarien, die Slowakei, Ungarn, Tschechien und Finnland gehören zu den betroffenen Ländern. In Tschechien laufen gleich sechs Meiler russischen Typs. Jetzt hat die Betreiberfirma CEZ entschieden, ab 2024 keine russischen Brennelemente mehr für das AKW Temelin zu beziehen. Die westlichen Hersteller Westinghouse und Framatome sollen einspringen. Am Standort Dukovany, wo vier russische Meiler laufen, werden weiterhin russische Brennelemente importiert, weil alternative Lieferanten fehlen.

Mycle Schneider spricht von einer kaum beachteten „starken Abhängigkeit“ vom russischen Einflussgebiet bei Urananreicherung und Brennelementfertigung. Russland besitzt 45 Prozent der weltweiten Anreicherungskapazität. Auch beim Neubau hat Russland zusammen mit China die Poleposition. Von weltweit 31 Bauprojekten seit 2017 sind 27 russischer oder chinesischer Bauart, rechnet die Internationale Energieagentur (IEA) vor.

Im Zuge der neuen Energie- und Klimakrise, analysiert die IEA weiter, bestehe jetzt die Möglichkeit eines „nuclear revivals“. Wichtigste Voraussetzungen seien indes kürzere Bauzeiten und „ein starker Rückgang der Baukosten“, die von derzeit 9.000 Dollar je Kilowatt Leistung mindestens auf 5.000 Dollar zurückgehen müssten. Während Windkraft und Solar Jahr für Jahr immer billiger werden, seien die Kosten der Atombranche rasant gestiegen. Bis 2050 erwartet die IEA zwar eine deutliche Bauoffensive, doch selbst dann würden die Neuinvestitionen in Atomkraft auf zwei Prozent der globalen Energieinvestitionen sinken.

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