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Tübingens OB in UngarnPalmer allein unter Rechten

Boris Palmer tritt bei einem Orbán-treuen Thinktank in Budapest auf. Das muss er sich eigentlich nicht antun, ist aber trotzdem interessant.

Fehl am Platz? Boris Palmer bei seinem Auftritt in Budapest Foto: Marton Monus/dpa

Karlsruhe taz | Boris Palmer bleibt auch ohne Grünen-Mitgliedschaft keine Provokation schuldig. Nachdem er sich nach seinem skandalösen Auftritt bei einer Frankfurter Migrationskonferenz im Mai eine Auszeit samt Coaching genommen und seine Partei verlassen hat, meldet sich der schwäbische Kommunalpolitiker nun zurück – ausgerechnet mit einer Rede beim Budapester Mathias-Corvinus-Collegium (MCC). Die milliardenschwere Kaderschmiede, von Orbáns Partei und Regierung finanziert, gilt als Instrument, um den Rechtsstaatsabbau in Ungarn intellektuell zu verankern.

Das muss man sich als Oberbürgermeister einer renommierten Universitätsstadt und ehemaliger Grüner eigentlich nicht antun. Aber Palmer reizt das offenbar. Zuerst hieß es, der Tübinger OB habe sich von einem Professor in Tübingen die Unbedenklichkeit des MCC attestieren lassen. Später gibt besagter Professor kleinlaut zu Protokoll, er habe das Collegium mit der tatsächlich renommierten Corvinus-Universität verwechselt. Nun ja, auch in Tübingen ist nicht immer der Weltgeist zu Hause.

Kein Grund für Palmer, abzusagen, wie er ein bisschen stolz am Dienstagabend in Budapest feststellt. Er mag auch nach seiner vermeintlichen Läuterung den politischen Nahkampf. Und verbindet den umstrittenen Auftritt mit dem Besuch einer ungarischen Partnerstadt Tübingens.

Obwohl, sagt Palmer, der an diesem Abend in dunklem Anzug, Krawatte und grau meliertem Vollbart einen neuen Ernst ausstrahlt: Als er vom Auftritt des Trump-Propagandisten Tucker Carlson beim MCC gelesen habe, habe er kurz gezögert. Carlson hatte bei seinem Auftritt in Budapest unwidersprochen die These vertreten, dass die USA den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipline verübt hätten und Deutschland und Europa dies nicht wahrhaben wollen. Wenn das MCC solche Thesen unwidersprochen lasse, sagt Palmer rustikal, müssten seine Gastgeber akzeptieren „dass man sie dann für Deppen hält“.

Kritik an „der Wokeness“

Spätestens hier kommt die Frage auf, ob sich nicht nur der Professor aus Tübingen geirrt hat, sondern vielleicht auch die Gastgeber. Keineswegs, sagt Palmer. Das MCC habe ihm versichert, es sei am kontroversen Dialog interessiert. Sonst sind die Gemeinsamkeiten dann tatsächlich überschaubar.

Palmer beginnt seinen Vortrag mit der Schilderung der Geschichte eines syrischen Flüchtlings von 2015, der, vor die Wahl gestellt, in einem Krieg für ein Regime zu sterben, das er ablehnt, oder sich der Ungewissheit der Flucht auszusetzen, sich 2015 auf den Weg nach Europa macht. Der Mann heißt Ryyan Alshebl und ist im Frühjahr zum Bürgermeister der Stadt Ostelsheim gewählt worden.

Palmer sagt nüchtern: „Wenn es nach Ungarn gegangen wäre, hätte Ryyan Alshebl seinen Weg nicht nach Europa genommen und Ostelsheim vielleicht einen weniger kompetenten Bürgermeister.“ Und er schließt spitz die Frage an: „Kann es sein, dass auch an der ungarischen Flüchtlingspolitik nicht alles richtig ist?“

Nein, man kann Palmer nicht vorwerfen, dass er sich beim Orbán-freundlichen Publikum anbiedert. Ja, er sei für ein Kopftuchverbot bei Kindern, aber nein, nicht gegen den Islam. Ja, Ungarn habe das Recht, ein homogener Staat bleiben zu wollen, aber gar niemandem helfen zu wollen, wie das Orbán vertritt, das sei nicht mit den europäischen Werten vereinbar.

Ja, „die Wokeness“ sei aus seiner Sicht eine Gefahr für die Meinungsfreiheit, aber deutlich gefährlicher sei der rechtsradikale Bodensatz, der jemanden wie ihm in seiner Jugend zugerufen habe, man habe seinen Vater nur vergessen zu vergasen. Und nein, die AfD ist nicht koalitionsfähig, sagt Palmer. „Mit denen ist kein Staat zu machen.“ So geht es quer durch den politischen Gemüsegarten. Der Vortrag heißt ja auch gewollt mehrdeutig: „Über die grüne Grenze“.

Vergiftete Komplimente

Gar nicht verstehen könne er, sagt Palmer, warum Ungarn dem neuen Grenzregime der EU nicht zustimmen will, obwohl der von Flüchtlingsorganisationen kritisierte Kompromiss klar in Richtung Ungarns Forderungen gehe. „Ist Ungarn wirklich mit 3.000 Geflüchteten aus einem Verteilungsmechanismus überfordert?“

Und selbst vermeintliche Komplimente lassen die Gastgeber mutmaßlich (man sieht im Stream das Publikum nur von hinten) süßsauer grinsen. Europa solle mehr um Ungarn werben, sagt Palmer. Und schiebt dann nach: „Ehe ich dem Emir von Katar oder einen saudischen Prinz die Hand reiche, dann doch lieber Viktor Orbán.“ Da müsse man die Verhältnisse wahren. Und er lässt auch die Korruptionsvorwürfe gegen den ungarischen Ministerpräsidenten nicht unerwähnt.

Palmer sagt seinen Gastgebern auch offen, dass ein Auftritt beim Mathias-Corvinus-Collegium für einen Politiker in Deutschland mit einem Reputationsverlust verbunden sei. Das kann sich also nur einer wie Palmer leisten. Aber an diesem Abend wirkt er zumindest für Unvoreingenommene, als würde er sich einem Populisten-Lackmus-Test aussetzen. Hält man den Tübinger OB mit seinen vielfachen Entgleisungen gegen ein echtes rechtes Umfeld, wird klar: Palmer ist vielleicht kein Grüner mehr, aber er verteidigt europäische Werte. Auch gegen Deppen.

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19 Kommentare

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  • Ein guter Auftritt von Palmer scheint das gewesen zu sein. Einzig seine Einschätzung zu den ausnahmsweise zutreffenden Aussagen des ominösen Trucker Carlsons zu den Gasleitungen lassen dann doch wieder den gutgläubigen "Provinzdeppen" in Palmer durchscheinen.

  • Herr Palmer erhält seine Bedeutung allein dadurch, dass er Liebling der Medien ist, da er Klickzahlen erzeugt. Auch die taz erliegt immer wieder dieser Versuchung. Welcher anderer OB einer Mittelstadt bekommt schon sonst soviel Aufmerksamkeit, obwohl er sie vielleicht mehr verdient hätte - z.B. André Neumann, Oberbürgermeister der Stadt Altenburg inn Thüringen, einer der tatsächlich liberalen CDU-Stimmen im Osten.

    • @Hans aus Jena:

      Palmer bekommt die Aufmerksamkeit seitdem er sich bei den Stuttgart21-Runden als kluger Gesprächsteilnehmer beteiligte.

      Welcher andere OB einer Mittelstadt kann eine Teilnahme - noch dazu mit guten Beiträgen - an einem solchen gesellschaftlich relevanten runden Tisch vorweisen? Als Vergleich: Viele, die sich an den runden Tischen der Wende beteiligten (Platzeck, Birthler, Eppelmann, etc.), machten über alle Parteien hinweg Karriere und wurden weiterhin beachtet und waren in den Medien präsent.

      Bei Palmer kommt zu diesen "15-Minuten-Ruhm" seine Familiengeschichte (der Vater war weithin im Schwäbischen bekannt) und seine Sacharbeit in Tübingen hinzu, die zu großen Verbesserungen vor Ort im Sinne des grünen Parteiprogramms (Klimaneutralität) führte. Etwas, was andere grüne OBs (z.B. Fritz Kuhn) in dieser Form gerade nicht vorweisen können.

      Schließlich bleibt er ein Medienliebling (auch das ist richtig), weil er sich immer an den identitätspolitischen, intersektionalen und gesellschaftspolitischen Themen der Grünen Partei gerieben hat. Diese musste er zwar zugunsten der Klimapolitik mitnehmen, hat aber immer klar gemacht, dass er nicht dahinter steht.

      Gerade im Hinblick auf diejenigen in der Politik, die noch jeder Position, der sie insgeheim widersprechen, um die eigene Macht zu erhalten oder auszubauen (Stichwort: der berühmte Kanzlerwahlverein CDU), mögen es viele Bürger offenbar, dass es einen Politiker "mit Ecken und Kanten" gibt, auch wenn man nicht in allen Positionen mit ihm übereinstimmt.

      Gleichsam kann man bei SPD Helmut Schmidt und bei der CDU Helmut Kohl nennen, die zeitlebens beliebt waren, gerade weil sie nicht so geschliffen geredet haben, auch wenn man bei diesen beiden nicht immer mit jeder Position übereinstimmen musste (Spendenaffäre bzw. Nato-Doppelbeschluss).

    • @Hans aus Jena:

      Bingo!

    • @Hans aus Jena:

      Weil Palmer Grüne nachhaltige Politik praktiziert, wie sie in überwältigender Mehrheit in Deutschland geteilt wird. Weil er Erfolge feiern kann in dem was er tut!



      Er legt die Finger in die Wunden und kann seine Lösungsvorschläge gut verständlich rüber bringen in alle Bevölkerungsgruppen hinein.

      Man kann seine auftretenden verbalen Ausfälle kritisieren, aber im Gesamtkontext ist Palmer ein Riesen Vorbild und Zugpferd und ein Beweis, dass Grüne Politik funktionieren kann. (Nur halt nicht so wie die Grünen es praktizieren)

  • ... gerade für solche Artikel (und den Kommentar von Uli Hannemann und den von Jagoda Marinic) liebe ich die taz - danke.

  • Der Troll wird nie satt, egal wad man füttert.

  • Klingt doch alles sehr vernünftig, was er dort gesagt hat und bestimmt nicht rechtsextrem.

  • 1. den rechten dient ein Auftritt des Tübinger OB, da sie damit vermeintliche Weltoffenheit und Toleranz simulieren können.



    2. Herr Palmer bekommt das, was er mit seinen Provokationen will: Aufmerksamkeit.



    3. Deppen gibt es auch in promovierter Form

  • Ein gewaltiger Verlust für die Grünen

  • Ich fand ihn schon immer erfrischend gradaus, dazu muss ich nicht jedes seiner Worte unterschreiben können. Aber was hier aufgezählt wird. Bravo, bravo, ich bleibe Palmer-Fan

    • @Zeit und Raum:

      Ich auch. Sind wir schon 2 :-)

  • "almer ist vielleicht kein Grüner mehr, aber er verteidigt europäische Werte. Auch gegen Deppen."



    und er sagt den Deppen auch, dass sie Deppen sind.

    • @nutzer:

      Duckmäusertum und Anbiederung an die Rechtspopulisten/-extremen kann man ihm nicht vorwerfen, auch wenn er sicher oft ähnliche Bilder und Assoziationen bedient. Oft scheint die Provokation Selbstzweck, wie hier, dann werden halt die Rechtspopulisten provoziert, Palmer sträubt sich offenbar bewusst gegen jedes Raster.

      Er macht ja nicht nur Unsinn als OB, ist durchaus zu sachlicher Arbeit fähig. Als Stachel im Fleisch der Grünen taugt er nun nicht mehr (da kein Grüner mehr). Da der Mann eine ungebrochene Medienpräsenz zu haben scheint wird man sich eben mit seinen Thesen auseinandersetzen muss. Da wo Palmer rechtspopulistischen Quark redet muss er dann eben auch mal damit leben, wenn man ihm das sagt. Aber sicher ist Palmer keine eindeutige Figur.

  • herrlicher artikel!!

  • Da hat die Auszeit bei Palmer noch immernicht gewirkt, wenn er weiterhin davon ausgehe, Wokeness sei eine Gefahr.

    Wie heißt es lexikalisch: "Wokeness: in rechten Kontexten als abwertender Begriff für progressive Menschen."

    Progressive Menschen sind für ihn also immernoch eine Gefahr für die Meinungsfreiheit. Elon Musk ist dabei einen Schritt weiter gegangen und verklagt gar diejenigen, die eine Gefahr darstellen, wie die ADL. Therapieziel verfehlt.

    Aber ich muss dem Autor hier Recht geben am Ende: Palmer verteidigt tatsächlich europäische Werte. Zu denen gehört es dazu, dass Flüchtlinge wie Dreck an den Grenzen behandelt werden. Ganz im Sinne Orbans.

    • @Troll Eulenspiegel:

      Menschen, die Wokeness kritisch betrachten, in die rechte Ecke zu stellen, ist nicht wirklich hilfreich. In diesem Sinne wäre Barack Obama ein Rechter, da dieser z.B. sich auch schon kritisch zu dem Thema geäußert hat ("I do get a sense sometimes now among certain young people, and this is accelerated by social media, that the way of me making change is to be as judgmental as possible about other people and that's enough"). Sich nur einer "lexikalischen" Definition zu bedienen und alle anderen auszublenden, ist dabei auch schon manipulativ - oder Zeichen eines geschlossenen Weltbildes, wie es für ganz rechts oder ganz links nicht unüblich ist.

      • @ein_optimistischer_zweifler:

        Aha. Und was ist bitte "Wokeness"?

        Der Einsatz für die Rechte von Minderheiten? Sei es LGTBQI+ oder andere Hautfarben... das ist alles "Woke". Das ist Faktisch der eigentliche Urpsrung vom Begriff! Bis dieser von Rechten als Kampfbegriff für "Alles was wir ablehenen" gekapert wurde.

        Obama kritisiert einen bestimmten Aspekt der aktuellen Debattenkultur, aber, er nutzt eben kein generalisierendes rechtes Feinbild.

        Hier ein anderes Beispiel zum besseren Verständniss:

        Ich kann bestimmte Aspekte der Presse, oder bestimmte Zeitungen kritisieren. Wenn ich für praaktisch alle Zeitungen und Verläge aber Begriffe wie "Lügenpresse" veralgemeinernd benutze, muss ich mich nicht wundern wenn ich in die rechte Ecke gestlellt werde.

        Kritik an der Presse ist nicht unbedingt rechts aber "Lügenpresse" ist ein rechter Kampfbegriff.

        Oder "Klimaterroristen" als Bezeichnung für alle Klimaaktivist*innen.

        Oder von "Umvolkung" spreche.

        "Ich bin gegen Woke" ist exakt genauso pauschalisierend.

  • Großartig. Kann man nicht anders sagen. Er sagt aus Prinzip jedem ideologischen Lager frei heraus, was falsch läuft. Er selbst dagegen erfrischend pragmatisch und ideologiefrei.