Bildungsgesetz in Ungarn: Kein Unterricht für Orbán
In Ungarn stellt das Bildungsgesetz Lehrkräfte vor die Wahl: Einflussnahme der Regierung hinnehmen oder den Beruf wechseln. Manche gehen segeln.
Ab 2024, wenn das Gesetz in Kraft tritt, liegt die erlaubte Arbeitszeit bei 48 statt wie bisher bei 32 Wochenstunden. Lehrer und Klassenzimmer dürfen dann überwacht werden. Kündigungen und Versetzungen werden einfacher – es reicht die Teilnahme an einer Demo.
Vor dem Start des neuen Schuljahrs kommende Woche herrscht entsprechend viel Missmut. Als „Rachegesetz“ sehen es die, die monatelang gegen die Bildungspolitik von Ministerpräsident Viktor Orbán auf die Straße gingen. Sie sprechen von einem Rückschritt, der die bestehenden Probleme – allen voran den eklatanten Lehrermangel – weiter verschärfen werden.
Als „brutales, repressives Werkzeug, um Widerstand zu unterdrücken und die Lehrer unter Kontrolle zu halten, das Schüler ihrer Ausbildung und ihrer Zukunft beraubt“, bezeichnete es die liberale Europaabgeordnete Katalin Cseh. Nach den Medien, der Justiz und den Universitäten bringt Orbán jetzt auch die Lehrer:innen noch stärker unter seine Kontrolle.
Vor die Wahl gestellt
Entworfen hatte das Gesetz das Innenministerium, ein Bildungsministerium gibt es in Ungarn seit 2010 nicht mehr. Am 4. Juli dieses Jahres, kurz nach Ferienbeginn, verabschiedete das Parlament mit 136 zu 58 Stimmen das neue Gesetzespaket. Doch welche Ziele die Regierung damit verfolgt und wie ernst sie die Kritik nimmt, bleibt unklar. Die Anfragen der taz an das Innenministerium und die Pressestelle der Regierung blieben unbeantwortet.
„Die meisten Lehrer haben sich mit den schon seit Jahren schlechten Bedingungen abgefunden – oder längst gekündigt“, sagt Veronika Molnár. Die 44-jährige Englischlehrerin entschied sich nach ihrem zweiten Burnout für Letzteres. Die taz trifft sie in Veszprém, gerade Kulturhauptstadt Europas.
Die meisten Touristen kommen aber wegen des nahen Balaton und seiner Badestrände. Der große ungarische Binnensee fasziniert Molnár seit ihrer Kindheit. Und so machte sie ihre zwei größten Leidenschaften – das Segeln und das Lehren – zu ihrem neuen Beruf. Seit Kurzem ist sie Segellehrerin für Wettkampfteams.
Lehrkräfte sind überlastet
Seitdem sie ihren alten Beruf aufgegeben hat, ist sie aufgeblüht, sagt sie. Es wird aber noch dauern, bis es ihr wieder durch und durch gut geht. Im Frühjahr sei ihr alles zu viel geworden, erzählt sie. Der jahrelang aufgebaute Stress, die zunehmende Politisierung der Bildung. Molnár hatte einen Zusammenbruch. Sie kündigte. Das Schuljahr hat sie aber noch zu Ende gebracht, das war ihr wichtig.
Dabei ist das Lovassy-Laszló-Gymnasium im Stadtzentrum von Veszprém, an dem Molnár bis vor kurzem Englisch und Informatik unterrichtete, eine der besten Schulen außerhalb Budapests, wie jährliche Schulrankings belegen. Es ist eine öffentliche Schule, die vor allem Kinder aus bessergestellten Familien besuchen.
Ein großes Problem im ungarischen Schulsystem ist die Überalterung des Lehrpersonals. Davon kann auch die Geschichtslehrerin Elizabet Varga berichten. Sie unterrichtet an einer Mittelschule im Westen Ungarns. Da sie noch im Berufsleben steht, hat sie die taz um Anonymität gebeten. Weil auch Varga die Pläne der Regierung kritisch sieht, fürchtet sie Konsequenzen, sollte ihr richtiger Name in der Zeitung stehen.
Unattraktiver Beruf
Mit Mitte 50 liegt sie im Altersschnitt an ihrer Schule. Nach 30 Berufsjahren in ihrer Schule verdient sie umgerechnet etwa 1.000 Euro brutto. Mehr ist im Lehrberuf nicht möglich, wie sie sagt. Das Einstiegsgehalt liegt bei knapp über 500 Euro, deutlich unter dem ungarischen Median von etwa 1.200 Euro. Laut der Lehrergewerkschaft PDSZ fehlten 2022 16.000 Lehrer im Schulsystem, ungefähr ein Achtel der Gesamtzahl. Auch neue Lehramtsstudierende kommen kaum nach.
Vargas Schüler fragen regelmäßig, warum sie sich diesen Job für dieses Gehalt antue. Dann weiß sie immer weniger, was sie sagen soll. „Nicht nur ist es miserabel bezahlt, auch bezahlt man selbst einen Preis dafür“, sagt Varga. Sie spricht von Stress, der im Lehrerberuf ganz besonders sei. Und nun soll sie noch mehr arbeiten, obwohl sie jetzt schon rund 50 Stunden die Woche arbeitet. Neben dem eigentlichen Unterrichten muss Varga Lehrstunden vorbereiten, Administratives abarbeiten und außerschulische Aktivitäten vorbereiten.
An Molnárs früherer Schule in Veszprém sind die Bedingungen vergleichsweise gut. Die Kinder kommen vor allem aus gutbetuchten und „ambitionierten“ Familien, aber auch hier gibt es systemische Zwänge. „Sie haben die Lehrpläne vollgepackt. Sie wollen die Gehirne der Schüler füllen wie einen Wassereimer“, sagt Molnár im Rückblick. Dabei sei es vielfach sinnloses Spezialwissen, das vermittelt werden soll, anstatt digitale Kompetenzen und moderne Fähigkeiten.
Keine guten Absichten
Auch die Zahl der auswählbaren Schulbücher wurde immer mehr reduziert, berichtet Molnár. In Fächern wie Mathematik, Chemie und Latein haben die Lehrer gar keine Wahlmöglichkeit mehr. „Es ist ihnen egal, an welcher Schule man unterrichtet und was die Schüler brauchen“, sagt sie.
Stärker als früher gehe es um ungarische Kultur, Geschichte und Literatur. Die Französische Revolution hingegen sei gestrichen worden. Als sie vor etwa 20 Jahren zu unterrichten begann, gab es Philosophie und Ethik noch als eigene Fächer, heute nicht mehr. Auch politische Bildung ist kein eigenes Schulfach und wird allenfalls im Sprachunterricht gestreift.
Nichts davon dürfte besser werden, wenn es nach den meisten Experten geht. Die drängendsten Anliegen der Lehrerschaft, unter anderem mehr Personal und eine bessere Bezahlung, hat die Regierung auch in dem neuen Bildungsgesetz nicht adressiert. „Ich kann beim besten Willen keine guten Absichten erkennen“, sagt Molnár. „Sie wollen das Bildungssystem führen wie einen großen Konzern. Aber das machen die Menschen nicht mit.“
Viele Ungarn resignieren
Ein Problem bei alldem sei auch die zunehmende Resignation vieler Ungarn. Die allermeisten Menschen seien nicht mehr politisch interessiert, beobachtet Varga. Vielmehr kümmerten sie sich um ihr direktes Umfeld, um das Essen, die Miete und darum, dass die Kinder außer Haus sind. „Was in der Schule mit ihnen passiert, ist vielen Eltern egal“, glaubt sie.
Dazu kommt: In den regierungsnahen Medien wird ein Ungarn gezeichnet, in dem alles gut funktioniert: Gesundheitssystem, Sozialsystem, Schule. Auch viele Lehrer haben sich, so Varga, längst mit den Umständen abgefunden. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit bietet selbst der schlecht bezahlte Lehrerberuf eine gewisse Sicherheit.
Von der Lehrergewerkschaft sind beide enttäuscht. Sie habe mehr eine große Show abgezogen als wirklich etwas bewegt, sagt Varga. Allerdings ist nur ein Bruchteil der ungarischen Lehrer auch Mitglied in einer Gewerkschaft. Molnár und Varga sind es nicht. Dennoch hat sich Molnár bis zuletzt an den Streiks beteiligt, vor allem an den großen in Budapest. Nichts werde sich ändern, wenn man nicht Kante zeigt, dachte sie da noch.
Aber auch so hat sich leider nichts verbessert, sagt sie heute. „Keiner von der Regierung hat unserer Kritik zugehört.“ Dass sie nach 20 Berufsjahren in der Schule nun als Segelcoach arbeitet, bereut sie aber kein bisschen. Wobei ihr am letzten Schultag, beim Abschied von ihren Kollegen und Schülern, dann doch ein letztes Mal Zweifel gekommen sind. Kann sie die wirklich im Stich lassen? Als sie dann aber nach Hause kam, fühlte sie eine riesige Last von ihren Schultern fallen. „Da habe ich begriffen: Es war die richtige Entscheidung.“
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